Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialverwaltungsrecht. Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld. Umdeutung eines Aufhebungsbescheids nach § 48 SGB X in einen Aufhebungsbescheid nach § 45 SGB X. Voraussetzungen einer Ermessensreduzierung auf Null
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung von Anfang an rechtswidrig ist, hindert dies grundsätzlich zwar nicht die Heranziehung des § 48 SGB X im Falle der nachträglichen Änderung in jenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, auf denen die Rechtswidrigkeit nicht beruht. Ist dies jedoch nicht der Fall, bleibt nur die Möglichkeit der Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X. Dies gilt insbesondere bei der Aufdeckung einer Fehldiagnose oder einer sonstigen fehlerhaften Überbewertung (st.Rspr.; vgl. BSGE 18, 84, 91), zu der auch eine für den Betroffenen zu günstige Bemessung des versicherungsrechtlich relevanten Pflegebedarfs gehört. Die Aufdeckung einer unrichtigen Einschätzung tatsächlicher Umstände (wie der Umfang eines täglichen Hilfebedarfs) stellt selbst keine Änderung tatsächlicher Verhältnisse dar (st.Rspr.; vgl. BSGE 6, 25, 28).
2. Die nach § 45 SGB X zugelassene Durchbrechung der Bindungswirkung von Verwaltungsakten geht von dem Gedanken der Recht- und Gesetzmäßigkeit jeden Verwaltungshandelns aus, der es grundsätzlich verlangt, rechtswidrige Verwaltungsakte zu beseitigen. Dem steht allerdings gegenüber, dass der für die Rechtswidrigkeit nicht verantwortliche Betroffene grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns vertrauen darf. Um den Widerstreit zwischen diesen beiden Grundsätzen zu lösen, muss im Einzelfall eine Abwägung darüber erfolgen, welches Interesse überwiegt.
3. Bei Verwaltungsakten, mit denen Dauerleistungen bewilligt worden sind, ist das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustands in der Regel höher einzuschätzen als bei der Gewährung einmaliger Leistungen, weil eine Dauerleistung die Allgemeinheit regelmäßig stärker belastet als eine einmalige Leistung (st.Rspr.; vgl. BSGE 81, 156).
4. Geht ein Aufhebungsbescheid fehlerhaft von einer gebundenen Entscheidung nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X aus, kommt zur Wahrung der zweijährigen Rücknahmefrist des § 45 Abs. 3 S. 1 SGB X, die durch einen neuen Rücknahmebescheid nicht mehr eingehalten werden könnte, nur die Umdeutung des Aufhebungsbescheides nach § 43 SGB X in einen Aufhebungsbescheid nach § 45 SGB X bzw., weil der Verfügungssatz derselbe bleibt, ein Nachschieben von Gründen in Betracht.
5. Die Umdeutung oder das Nachschieben von Gründen setzt dann aber wiederum voraus, dass der Beklagten bei der Aufhebungsentscheidung auch auf dieser Rechtsgrundlage kein Rücknahmeermessen zugestanden hätte (“Ermessensreduzierung auf Null”); nur in solchen Fällen ist das Umdeutungsverbot des § 43 Abs. 3 SGB X unanwendbar und eine Auswechslung der Begründung bzw. ein Nachschieben von Gründen zulässig.
6. Die Ermessensschrumpfung auf Null stellt einen seltenen Ausnahmefall dar. Sie setzt voraus, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige – den Betroffenen ganz oder teilweise begünstigende – Entscheidungsfindung rechtsfehlerfrei zuließen. Dies ist regelmäßig nicht der Fall.
Normenkette
SGB X § 43 Abs. 3, § 45 Abs. 3 S. 1, § 48 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 30. März 2001 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld wegen erheblicher Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I).
Der im Jahre 1956 geborene, aus der Türkei stammende Kläger ist bei der beklagten Pflegekasse versichert. Er leidet an dem so genannten familiären Mittelmeerfieber, einer erblich bedingten Krankheit, die in Schüben mehrmals im Monat auftritt. Ein Krankheitsschub dauert in der Regel drei Tage; er ist mit heftigen Schmerzen im Unterleib und hohem Fieber verbunden. Zwischen den Krankheitsschüben ist der Kläger beschwerdefrei. Die beiden Söhne des Klägers leiden ebenfalls an dieser Erkrankung.
Im April 1995 beantragte der Kläger Leistungen der sozialen Pflegeversicherung wegen Pflegebedürftigkeit. Nach einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 6. Oktober 1995 wies der Kläger pro Woche einen durchschnittlichen täglichen Grundpflegebedarf von rund einer Stunde auf. Die Gutachter gingen von einem wöchentlichen Auftreten der Krankheitsschübe aus, dh von zwölf Tagen pro Monat, und bezifferten den täglichen Grundpflegebedarf auf etwa drei Stunden. Die Beklagte bewilligte daraufhin Pflegegeld nach der Pflegestufe I (400 DM) rückwirkend ab 1. April 1995 (Bescheid vom 15. November 1995).
Ein im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 18 Abs 2 Satz 5 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) eingeholtes weiteres Gutachten des MDK vom 3. Dezember 1996 verneinte hingegen das Vorliegen der Voraussetzungen der Pflegestufe I. Der Gutachter ging nur von „drei bis vier” Krankheitsschüben monatlich sowie von einem dabei anfallenden durchschnittlichen täglichen Grundpflegebedarf von 90 Minuten aus. Dadurch reduzierte sich der tägliche Grundpflegebedarf im Wochendurchschnitt auf 32 Minuten. Ein wesentlicher Grund hierfür war nach Ansicht des Gutachters der Umzug in eine behindertengerechte Wohnung. Die Beklagte hob daraufhin die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse mit Wirkung ab 1. Juli 1997 auf (Bescheid vom 10. Juni 1997, Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1997).
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) ein weiteres Gutachten eingeholt. Der Sachverständige Dr. H. kam in seinem Gutachten vom 24. November 1998 zu dem Ergebnis, der durchschnittliche tägliche Grundpflegebedarf betrage, auf 30 Tage umgerechnet, 35 Minuten, der hauswirtschaftliche Versorgungsbedarf belaufe sich auf 40 Minuten. Das SG hat deshalb die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 10. September 1999): Da der Bewilligungsbescheid vom 15. November 1995 die Vermutung der Richtigkeit begründe, sei davon auszugehen, dass sich die pflegeversicherungsrechtlich relevanten Verhältnisse des Klägers seither geändert hätten.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil geändert und der Klage stattgegeben (Urteil vom 30. März 2001). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe den Bewilligungsbescheid weder nach § 45 noch nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufheben dürfen. § 48 SGB X sei nicht einschlägig, weil die Leistungsbewilligung von Anfang an rechtswidrig gewesen sei. Zum einen bestehe der Pflegebedarf nicht, wie in § 15 Abs 1 SGB XI gefordert, täglich, sondern nur während der Krankheitsschübe. Zum anderen habe sich der Pflegebedarf auch nicht verringert. Es sei dem im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen Dr. T. zu folgen, wonach sich der durchschnittliche tägliche Grundpflegebedarf im Monat nur auf 33 Minuten belaufe und dieser Hilfebedarf seit 1995 unverändert bestehe. Das erste MDK-Gutachten vom 6. Oktober 1995 habe den Pflegebedarf weitaus zu großzügig bemessen. Der Umzug des Klägers aus einer Hochhauswohnung im 9. Stock in eine Parterrewohnung habe den Pflegebedarf nicht reduziert. Die demgemäß allein in Betracht kommende Rücknahme des Bewilligungsbescheides nach § 45 SGB X scheitere an der gebotenen Ausübung des Rücknahmeermessens durch die Beklagte, die von einer gebundenen Entscheidung (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X) ausgegangen sei. Eine Umdeutung des Aufhebungsbescheides (§ 48 SGB X) in einen Rücknahmebescheid (§ 45 SGB X) scheide deshalb aus (§ 43 Abs 3 SGB X).
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 43 Abs 3 und 45 Abs 1 SGB X. Eine Umdeutung des Verwaltungsakts sei hier möglich gewesen, weil das Rücknahmeermessen auf Null geschrumpft sei. Jede andere Entscheidung als die Rücknahme der Leistungsbewilligung sei nach den Umständen des Falles unvertretbar. Daher habe das Rücknahmeermessen nicht ausgeübt werden müssen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 30. März 2001 zu ändern und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Itzehoe vom 10. September 1999 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das Berufungsurteil.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach den §§ 165, 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, dass der Bescheid über die Aufhebung der Leistungsbewilligung rechtswidrig war.
1) Eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 15. November 1995 nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X kam nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese – von der Beklagten ursprünglich angenommenen – Voraussetzungen haben nicht vorgelegen. Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ist nicht eingetreten, weil nach den nicht angegriffenen und für den Senat daher bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG der Pflegeaufwand seit Erlass des Bescheides unverändert geblieben ist. Die Beklagte ist bei ihrer Bewilligungsentscheidung lediglich von der unzutreffenden – für den Kläger deutlich zu günstigen – Bemessung des Pflegebedarfs im MDK-Gutachten vom 6. Oktober 1995 ausgegangen. Der während der Krankheitsschübe auftretende Grundpflegebedarf beträgt, umgerechnet auf jeden Tag einer Woche, nur 33 Minuten, erreicht also nicht den in § 15 Abs 3 Nr 1 SGB XI geforderten Mindestumfang der Pflegestufe I von täglich „mehr als 45 Minuten”. Dies gilt unverändert seit 1995. Der Wohnungswechsel hat, anders als in dem MDK-Gutachten vom 3. Dezember 1996 und, ihm folgend, von der Beklagten angenommen, zu keiner nennenswerten Reduzierung des Pflegebedarfs geführt.
Auch die rechtlichen Verhältnisse haben sich nicht geändert. Die – hier ebenfalls nicht erfüllte – rechtliche Voraussetzung des § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI, dass „erhebliche Pflegebedürftigkeit” (Pflegestufe I) einen „täglichen” Pflegebedarf bei mindestens zwei Verrichtungen der Grundpflege erfordert, besteht bereits seit Einführung der sozialen Pflegeversicherung, ist also nicht erst nach Erlass des Bewilligungsbescheides in das Gesetz eingefügt worden. Das die Unverzichtbarkeit eines solchen täglichen Hilfebedarfs hervorhebende Urteil des Senats vom 14. Dezember 2000 – B 3 P 5/00 R – (SozR 3-3300 § 15 Nr 11) hat die bestehende Rechtslage nur verdeutlicht, jedoch keine neue Rechtslage geschaffen.
Offen bleiben kann die Frage, ob die Pflegekassen vor jenem Urteil des Senats die Regelung des § 15 Abs 1 SGB XI generell anders – nämlich im Sinne eines mindestens einmal wöchentlich auftretenden Hilfebedarfs mit einem auf sieben Tage (Woche) oder 30 Tage (Monat) umgerechneten durchschnittlichen Umfang von täglich mehr als 45 Minuten bei der Grundpflege – ausgelegt haben oder die Beklagte nur in diesem Einzelfall die Voraussetzungen des § 15 Abs 1 SGB XI zu Unrecht bejaht hat. Selbst bei Annahme einer generellen Fehlbeurteilung der Rechtslage durch die Pflegekassen in der Vergangenheit scheidet die Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X aus, wenn die Praxis der Behörde bzw des Sozialversicherungsträgers – wie hier – durch ein höchstrichterliches Urteil zu Lasten des Betroffenen korrigiert wird. Nur bei einer Korrektur zu Gunsten des Betroffenen bleibt § 48 SGB X anwendbar, wie sich aus § 48 Abs 2 SGB X ergibt.
2) Wenn ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung von Anfang an rechtswidrig ist, hindert dies grundsätzlich zwar nicht die Heranziehung des § 48 SGB X im Falle der nachträglichen Änderung in jenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, auf denen die Rechtswidrigkeit nicht beruht (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 47; von Wulffen/Wiesner, SGB XI, 4. Aufl 2001, § 48 RdNr 6). Ist dies jedoch – wie hier – nicht der Fall, bleibt nur die Möglichkeit der Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X. Dies gilt insbesondere bei der Aufdeckung einer Fehldiagnose oder einer sonstigen fehlerhaften Überbewertung (BSGE 18, 84, 91; stRspr; von Wulffen/Wiesner aaO), zu der auch eine für den Betroffenen zu günstige Bemessung des versicherungsrechtlich relevanten Pflegebedarfs gehört. Die Aufdeckung einer unrichtigen Einschätzung tatsächlicher Umstände (wie der Umfang eines täglichen Hilfebedarfs) stellt selbst keine Änderung tatsächlicher Verhältnisse dar (BSGE 6, 25, 28; von Wulffen/Wiesner aaO).
Die Aufhebungsentscheidung kann aber auch nicht auf die Regelung des § 45 SGB X gestützt werden, obwohl eine Änderung oder Ergänzung der rechtlichen Begründung eines Verwaltungsakts grundsätzlich zulässig ist und auch durch das Gericht ersetzt werden kann (vgl BSGE 85, 83, 85 = SozR 3-4100 § 186b Nr 1; BVerwGE 80, 96 f). Nach § 45 Abs 1 SGB X darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, auch im Falle seiner Unanfechtbarkeit nur unter den Voraussetzungen der Abs 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf jedoch nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs 2 Satz 1 SGB X). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte allerdings nicht berufen, soweit er (Nr 1) den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, (Nr 2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder (Nr 3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 SGB X). Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach Abs 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden (§ 45 Abs 3 Satz 1 SGB X); in Ausnahmefällen kann dies auch noch innerhalb einer Frist von zehn Jahren oder sogar noch später geschehen (§ 45 Abs 3 Satz 2 bis 5 SGB X).
a) Die Rücknahme wäre hier zwar innerhalb von zwei Jahren erfolgt, aber dennoch auch unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt rechtswidrig.
Die nach § 45 SGB X zugelassene Durchbrechung der Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) geht von dem Gedanken der Recht- und Gesetzmäßigkeit jeden Verwaltungshandelns aus, der es grundsätzlich verlangt, rechtswidrige Verwaltungsakte zu beseitigen. Dem steht allerdings gegenüber, dass der für die Rechtswidrigkeit nicht verantwortliche Betroffene grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns vertrauen darf und vor der Rücknahme geschützt sein soll. Um den Widerstreit zwischen diesen beiden Grundsätzen zu lösen, muss im Einzelfall eine Abwägung darüber erfolgen, welches Interesse überwiegt, das der Allgemeinheit auf Herstellung eines gesetzmäßigen Zustands oder das des gutgläubigen Begünstigten an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustands. Bei Verwaltungsakten, mit denen Dauerleistungen bewilligt worden sind, ist das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustands in der Regel höher einzuschätzen als bei der Gewährung einmaliger Leistungen, weil eine Dauerleistung die Allgemeinheit regelmäßig stärker belastet als eine einmalige Leistung (BSG SozR 1300 § 45 Nr 9; BSGE 59, 157, 163 ff = SozR 1300 § 45 Nr 19; BSGE 60, 147, 152 = SozR 1300 § 45 Nr 24; BSGE 81, 156 = SozR 3-1300 § 45 Nr 37; BVerwGE 19, 188, 189 mwN). Das gilt jedenfalls für Dauerleistungen, die – wie hier – für sehr lange Zeit gewährt werden müssten (BSGE 60, 147, 152 = SozR 1300 § 45 Nr 24 mwN).
Diese gewichtigen öffentlichen Interessen schließen jedoch nicht generell aus, das Individualinteresse des rechtswidrig Begünstigten als bedeutsamer anzusehen und einen Ausschluss der Rücknahme nach § 45 Abs 2 SGB X zu bejahen. Das setzt zunächst voraus, dass der Betroffene auf den Bestand der Leistungsbewilligung vertraut hat. Hierzu fehlen zwar im angefochtenen Urteil ausdrückliche Feststellungen. Dies ist allerdings unschädlich. Weder aus dem Vorbringen der Beteiligten noch aus den Akten ergeben sich gegenteilige Anhaltspunkte, sodass davon ausgegangen werden kann, dass diese Voraussetzung erfüllt ist. Denn für das Vorliegen von Vertrauen spricht eine Vermutung (BSGE 81, 156 = SozR 3-1300 § 45 Nr 37; BSG SozR 1300 § 45 Nr 9; BVerwGE 83, 195, 198).
Dem Kläger ist die Berufung auf den Vertrauensschutz auch nicht verwehrt. Er hat nach den insoweit ausreichenden tatsächlichen Feststellungen des LSG die Leistungsbewilligung nicht durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt. Die Bewilligungsentscheidung der Beklagten beruht auf wahrheitsgemäßen Angaben des Klägers und seiner ihn während der Krankheitsschübe pflegenden Ehefrau. Er kannte weder die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung, noch hat er diese in grob fahrlässiger Weise verkannt. Als rechtlicher Laie konnte und musste er nicht wissen, dass bei einem nicht täglich anfallenden Hilfebedarf eine Anerkennung als Pflegebedürftiger trotz umfangreichen Pflegebedarfs während der Krankheitsphasen von vornherein ausschied, und er konnte und musste auch nicht erkennen, dass das der Leistungsbewilligung zu Grunde liegende erste MDK-Gutachten zwischen relevantem Pflegebedarf (§ 14 Abs 3 und 4 SGB XI) und nicht relevantem Bedarf an nicht verrichtungsbezogener Hilfe (medizinische Behandlungspflege, allgemeiner Aufsichtsbedarf, allgemeine Ruf- und Einsatzbereitschaft) nicht hinreichend differenziert hat.
Die Frage, ob das Interesse des Klägers am Bestand der Leistungsbewilligung gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes Vorrang genießt, insbesondere ob die bisher nicht überprüfte Behauptung des Klägers in tatsächlicher Hinsicht zutrifft, er habe im Vertrauen auf die regelmäßige Zahlung des Pflegegeldes die teuere Wohnung angemietet, braucht indessen nicht mehr abschließend geklärt zu werden. Ist das Individualinteresse des Klägers vorrangig, scheidet eine Rücknahme des Bewilligungsbescheides ohnehin aus (§ 45 Abs 2 Satz 1 SGB X). Fehlt es hingegen am Vorrang des Individualinteresses, konnte der Bescheid über die Leistungsbewilligung zwar grundsätzlich zurückgenommen werden. Der Aufhebungsbescheid der Beklagten wird den Anforderungen des § 45 Abs 1 SGB X an die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts jedoch nicht gerecht.
b) Da der angefochtene Bescheid, auch in der Gestalt des Widerspruchsbescheides, von einer gebundenen Entscheidung (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X) ausgeht, die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts nach § 45 Abs 1 SGB X aber grundsätzlich die Ausübung von Ermessen durch die Verwaltung vorsieht („darf”), kommt zur Wahrung der hier einschlägigen zweijährigen Rücknahmefrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X, die durch einen neuen Rücknahmebescheid nicht mehr eingehalten werden könnte, nur die Umdeutung des Aufhebungsbescheides nach § 43 SGB X bzw, weil der Verfügungssatz derselbe bleibt, ein Nachschieben von Gründen (zur Abgrenzung vgl BSGE 87, 8, 11 f = SozR 3-4100 § 152 Nr 9) in Betracht. Dies setzt aber wiederum voraus, dass der Beklagten bei der Aufhebungsentscheidung auch auf dieser Rechtsgrundlage kein Rücknahmeermessen zugestanden hätte („Ermessensreduzierung auf Null”); nur in solchen Fällen ist das Umdeutungsverbot des § 43 Abs 3 SGB X unanwendbar (von Wulffen/Wiesner aaO § 43 RdNr 10 mwN) und eine Auswechslung der Begründung bzw ein Nachschieben von Gründen zulässig (von Wulffen/Wiesner aaO § 41 RdNr 6). Eine solche Ermessensreduzierung auf Null ist aber hier – im Gegensatz zur Rechtsauffassung der Beklagten – nicht ersichtlich.
Die Ermessensschrumpfung auf Null stellt einen seltenen Ausnahmefall dar. Sie setzt voraus, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige – den Betroffenen ganz oder teilweise begünstigende – Entscheidungsfindung rechtsfehlerfrei zuließen (BSG SozR 1300 § 45 Nr 34; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 5 und 10; von Wulffen/Wiesner aaO § 45 RdNr 5). Dies ist in aller Regel nicht der Fall (BSGE 55, 250, 254 = SozR 1300 § 50 Nr 3; BSGE 60, 239, 240 = SozR 1300 § 45 Nr 26; BSGE 64, 36, 38 = SozR 1300 § 41 Nr 2; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10 und § 50 Nr 13). Vor allem bei Bösgläubigkeit des Begünstigten im Sinne betrügerischen Verhaltens kann eine Ermessensreduzierung auf Null angenommen werden (BSG SozR 3-1300 § 50 Nr 16; von Wulffen/Wiesner aaO mwN). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
Die Frage, ob das Ermessen zu Lasten des Betroffenen auch dann auf Null reduziert sein kann, wenn alle für eine Ermessensausübung in Betracht kommenden Umstände bereits bei der Interessenabwägung nach § 45 Abs 2 SGB X berücksichtigt worden sind und dort zur Verneinung des Vertrauensschutzes geführt haben, sodass für die Ermessensausübung keine eigenständigen (neuen) Gesichtspunkte übrig bleiben (so der 9. Senat zuletzt in dem Urteil vom 5. November 1997 – 9 RV 20/96 – BSGE 81, 156 = SozR 3-1300 § 45 Nr 37), bedarf hier keiner Entscheidung, weil die Beklagte bei ihrer auf § 48 SGB X gestützten Aufhebungsentscheidung keine Interessenabwägung iS des § 45 Abs 2 SGB X vorgenommen hat, es also offen ist, welche tatsächlichen Umstände hier in die Interessenabwägung einfließen würden, wie die Abwägung ausgehen würde und ob für eine Ermessensausübung noch weitere Gesichtspunkte übrig bleiben würden.
Da die Beklagte somit ihr Rücknahmeermessen auszuüben hatte, dies aber nicht geschehen ist, erweist sich der Aufhebungsbescheid unabhängig von der fehlerhaften Begründung mangels Ermessensausübung auch im Ergebnis als rechtswidrig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen