Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I
Der im Jahr 1917 geborene Kläger - Vertriebener - arbeitete zunächst in der elterlichen Landwirtschaft in Ostpreußen. Von November 1937 bis März 1938 war er beim Reichsarbeitsdienst. Nach weiterer Tätigkeit in der elterlichen Landwirtschaft leistete er von Dezember 1939 bis Dezember 1944 Kriegsdienst; infolge einer Verwundung ist u.a. sein rechter Unterschenkel amputiert (Minderung der Erwerbsfähigkeit 50 v.H.). Nachdem er erneut in der elterlichen Landwirtschaft gearbeitet hatte, wurde er am 9. April 1945 zum Volkssturm eingezogen und kam anschließend nach Dänemark. Am 1. November 1946 wurde er nach Schleswig-Holstein entlassen. Er lebte zunächst von Fürsorgeunterstützung, meldete sich am 13. November 1948 bei der Arbeitsamts-Nebenstelle Eckernförde arbeitslos und bezog dann Arbeitslosenunterstützung. Seit 4. Januar 1954 war er versicherungspflichtig beschäftigt.
Im August 1971 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte entsprach mit Bescheid vom 25. Februar 1972 dem Antrag, rechnete aber die Zeiten vom 1. Dezember 1939 bis zum 19. Dezember 1944, vom 9. April 1945 bis zum 1. November 1946 undvom 13. November 1948 bis zum 3. Januar 1954
weder als Ersatzzeiten noch sonst auf die Rente an.
Das Sozialgericht Darmstadt hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Juni 1975). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers dieses Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die genannten Zeiten als Ersatzzeiten anzuerkennen sowie die Rente neu zu berechnen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 30. August 1979). A den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der erste Zeitraum sei als militärischer Dienst, der zweite als Kriegsgefangenschaft und der dritte als Arbeitslosigkeit Ersatzzeit i.S.d. § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Zwischenzeit vom 2. November 1946 bis zum 12. November 1948 müsse als Überbrückungstatbestand angesehen werden, in dem dem Kläger trotz seiner Bemühungen eine dauerhafte Eingliederung in das Arbeitsleben nicht gelungen sei. Alle drei Zeiträume seien deshalb als Ersatzzeit anzurechnen. Im übrigen habe sich der Kläger nach seinem schlüssigen Vortrag unmittelbar nach dem Eintreffen in Schleswig-Holstein beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet; es spreche alles für eine - schon damals erfolgte - Arbeitslosmeldung.
Mit der Revision trägt die Beklagte vor: In der Zeit von 1946 bis 1948 habe kein Überbrückungstatbestand vorgelegen, so daß die Zeit von 1948 bis 1954 keine "anschließende" Ersatzzeit sei. Im übrigen sei die Zeit von 1945 bis 1946 keine Kriegsgefangenschaft gewesen.
Sie beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 27. Juni 1975 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
II
Die Revision der Beklagten ist jedenfalls insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen werden mußte. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Das Berufungsgericht hat die drei im Urteil bezeichneten Zeiträume als Ersatzzeiten i.S.d. § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO anerkannt und nach Abs. 2 der Vorschrift für die Erfüllung der Wartezeit - und damit auch für die Rentenhöhe - angerechnet. Die Ansicht der Revision, die Zeit von 1945 bis 1946 sei keine Ersatzzeit der Kriegsgefangenschaft, weil der Kläger nicht wegen militärischen oder militärähnlichen Dienstes, sondern als "Zivilist" evakuiert worden sei, ist unzutreffend. Das LSG hat in den Entscheidungsgründen seines Urteils festgestellt: Der Kläger sei Anfang April 1945 zum Volkssturm eingezogen worden und sodann als Volkssturmmann "bei der Internierung der Zivilbevölkerung eingesetzt" gewesen. Er habe bei der Überfahrt (offenbar von Ostpreußen nach Dänemark) mit Wehrmachtsangehörigen zum Begleitkommando gehört, sei in Dänemark in einem Lager "interniert" gewesen und sei schließlich mit einem Transport nach Schleswig-Holstein entlassen worden. Der Kläger sei von der dänischen Gewahrsamsmacht auch nicht mit der deutschen Zivilbevölkerung "interniert", sondern als Angehöriger des Volkssturmes zusammen mit Wehrmachtsangehörigen in Gewahrsam genommen worden. Der Senat ist an diese tatsächlichen Feststellungen gebunden, da die Revision in bezug auf diese Feststellungen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht hat (§ 163 Sozialgerichtsgesetz); der Vortrag, der Kläger sei nicht als Angehöriger des Volkssturmes in Kriegsgefangenschaft gekommen, reicht dazu nicht aus. Die Feststellungen des LSG sind auch nicht etwa deshalb unbrauchbar, weil, offenbar infolge eines Schreibversehens, einmal ausgeführt worden ist, der Kläger sei interniert gewesen, und ein paar Zeilen später, der Kläger sei nicht interniert gewesen. Da nach § 2 Abs. 1 Buchst. b des Bundesversorgungsgesetzes der Dienst im Deutschen Volkssturm militärischer Dienst war, kann nach dem festgestellten Sachverhalt am Vorliegen einer Kriegsgefangenenschaft kein Zweifel bestehen.
Das LSG hält die - an sich unstreitige - Ersatzzeit der unverschuldeten Arbeitslosigkeit vom 13. November 1948 bis 3. Januar 1954 deshalb für an die Zeit der Kriegsgefangenschaft vom 9. April 1945 bin 1. November 1946 "anschließend", weil in der Zeit vom 2. November 1946 bis 12. November 1948 ein Überbrückungstatbestand vorgelegen habe, der den Anschluß wahre. Das bekämpft die Revision. Ob sie im Ergebnis recht hat, kann noch nicht abschließend festgestellt werden.
Zum Überbrückungstatbestand hat das Berufungsgericht festgestellt: Der Kläger habe sich unmittelbar nach seinem Eintreffen in Schleswig-Holstein (also wohl im November 1946) beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet, worüber allerdings keine Bescheinigung vorliege, habe auch bei der Gemeinde um Arbeit nachgefragt, sei aber vom Arbeitsamtsarzt als nicht vermittlungsfähig erklärt worden und habe deshalb Fürsorgeunterstützung bezogen. Mit diesem Geld, mit Entgelten für gelegentliches Holzsammeln und Getreidelesen sowie mit Unterstützung durch seinen in der Landwirtschaft arbeitenden Schwager habe er seine materielle Existenz gesichert. Seine berufliche Eingliederung sei bei der Arbeitsmarktsituation in dem vorwiegend landwirtschaftlich strukturierten Land Schleswig-Holstein unter Beachtung des Flüchtlingsproblems, seiner Kriegsverletzung und seiner fehlenden beruflichen Qualifikation für Arbeiten außerhalb der Landwirtschaft wenig aussichtsreich gewesen. Somit seien Folgeerscheinungen des Krieges jedenfalls mitursächlich für das Scheitern seiner dauerhaften Eingliederung in das Wirtschaftsleben gewesen. Auch an diese tatsächlichen Feststellungen ist der Senat gebunden.
Krankheit und Arbeitslosigkeit sind nur dann (Anschluß-) Ersatzzeiten i.S.d. § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO, wenn sie an eine Primär- oder an eine andere Anschluß-Ersatzzeit anschließen; eine ähnliche Regelung findet sich in § 1251 Abs. 1 Nr. 2, 4, 5, 6 RVO. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut brauchen Krankheit und Arbeitslosigkeit nicht durch die eigentlichen Ersatzzeittatbestände bedingt zu sein (BSG, Urteil vom 4. Mai 1976 - 1 RA 49/75 - SozR 2200 § 1251 Nr. 21 S. 58); auch ein "nahtloser" zeitlicher Anschluß muß nicht bestehen, wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) entschieden hat (vgl. Urteil vom 4. Mai 1976 a.a.O., Urteil vom 5. Juli 1978 - 1 RA 15/78 = SozR 2200, § 1251 Nr. 50; ebenso: Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, Anm. B I 4 b zu § 1251 RVO, S. 17, Stand: Juli 1979, und Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. und 3. Aufl., Anm. B VII 7 zu § 28 AVG, S. V 257/146, Stand: Mai 1977). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an, weil sonst unbillige Zufallsergebnisse unvermeidlich sind.
Ist sonach zwar ein nahtloser Anschluß nicht erforderlich, so wird aber doch eine gewisse zeitliche Begrenzung notwendig sein. Allerdings wird für die Festlegung einer solchen Begrenzung in erster Linie auf die Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen sein. Feste Regeln lassen sich bei der Prüfung der Frage, wann noch von einem Anschluß gesprochen werden kann, kaum aufstellen. Die Festlegung bestimmter Fristen könnte überdies im Einzelfall zu nicht sachgerechten Ergebnissen führen (BSG, Urteil vom 4. Mai 1976 a.a.O. S. 58).
Ob die Zeit vom 2. November 1946 bis zum 12. November 1948 - also ein Zeitraum von zwei Jahren - im vorliegenden Fall als noch anschlußwahrend anzusehen ist oder nicht , bedarf jedoch zunächst noch nicht der Entscheidung. Denn entgegen der Auffassung des LSG könnte diese Zeit ganz oder zum Teil eine Ersatzzeit der an die Kriegsgefangenschaft anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit (§ 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO) sein. An der Prüfung dieser Frage ist der Senat nicht dadurch gehinderte daß der Kläger nicht beantragt hat, die Beklagte auch zur Berücksichtigung dieser Zeit bei der Rentenberechnung zu verurteilen. Denn es geht nicht um die Anrechnung der Zeit als Ersatzzeit, sondern um die Berücksichtigung als Überbrückungszeit zur Wahrung des Anschlusses. Eine Zeit, die ohnehin eine Anschluß-Ersatzzeit darstellt, ist grundsätzlich auch zur Überbrückung und Anschlußwahrung geeignet. Das BSG hat deshalb für die Vorschrift des § 1259 RVO entschieden, daß eine zeitliche Lücke auch dann überbrückt werden kann, wenn nur die Tatbestandsmerkmale der Ausfallzeit vorlagen, die Zeit aber aus anderen Gründen nicht als Ausfallzeit anzurechnen ist (BSG, Urteil vom 30. Januar 1969 - 5 RKn 133/65 = BSGE 29, 120, 124). Das muß auch für die Ersatzzeit gelten.
Wenn auch viel dafür spricht, daß der Kläger in der Zeit von 1946 bis 1948 entweder krank oder unverschuldet arbeitslos war, so ergibt sich das doch nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit aus dem festgestellten Sachverhalt, zudem dieser über eine evtl. Krankheit des Klägers keine Angaben enthält. In diesem Zusammenhang erscheint es jedoch bedeutsam, daß der Kläger im Verfahren der Tatsacheninstanzen sich auf eine Erklärung des H… D… vom 21. November 1972 und des F… Z… vom 22. Dezember 1975 berufen hat, die vom LSG nicht zur Urteilsfindung herangezogen worden sind, obwohl sie ihrem schriftlichen Inhalt nach als geeignet erscheinen, zur Aufklärung der rechtserheblichen Tatsachen in der streitigen Zeit beizutragen. Insoweit erscheint eine weitere Sachaufklärung möglich und geboten, aus der auch Erkenntnisse zu der Revisionsbegründung der Beklagten gewonnen werden könnten. Weiterhin könnte bedeutsam sein, daß der Kläger - offenbar alsbald nach seinem Eintreffen in Schleswig-Holstein - vom Arbeitsamtsarzt als "nichtvermittlungsfähig" bezeichnet worden sein soll. Sollte daraus der Schluß zu ziehen sein, daß der Kläger - etwa im Jahre 1946 - nicht als arbeitslos anzusehen wäre, so bliebe die Frage zu prüfen, ob ein Überbrückungstatbestand in dieser Zeit, wenn auch für einen kürzeren Zeitraum als das LSG angenommen hat, vorgelegen hätte. Insoweit würde das LSG zu beachten haben, daß für die Frage der Anschlußwahrung des Überbrückungstatbestandes auf die Gesamtumstände des Falles abzustellen und ob beim Kläger "das Gesamtbild seines Lebenslaufs seit Kriegsende geprägt von Arbeitslosigkeit" war (vgl. BSG, Urteil vom 4. Mai 1976 a.a.O. S. 59).
Das angefochtene Urteil war aufzuheben, die Sache war an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.4 RJ 127/79
Bundessozialgericht
Verkündet am
12. Februar 1981
Fundstellen