Leitsatz (amtlich)
Ein Unfall hat sich schon auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit (RVO § 550 S 1) ereignet, wenn der Sturz im häuslichen Bereich begonnen, der Versicherte sich jedoch erst beim Auffallen vor der Haustür verletzt hat.
Normenkette
RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. März 1972 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Main) vom 9. Dezember 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger kam am 1. April 1970 auf dem Weg zur Arbeit auf den unteren Stufen der Treppe im Hausflur ins "Trudeln", fiel durch die Glasfüllung der Haustür und zog sich vor der Haustür an den Glasscherben Verletzungen der rechten Kniekehle zu.
Die Beklagte lehnte Entschädigungsleistungen ab, da der Kläger einer Gefahr innerhalb seines häuslichen Wirkungskreises erlegen sei.
Der Kläger hat Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 9. Dezember 1970 die Beklagte verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 1. April 1970 zu entschädigen. Das SG hat u. a. ausgeführt: Die Kausalkette für den Unfall beginne zwar zwischen der Wohnung des Klägers und der Haustür. Der Kläger habe sich aber erst vor der Haustür verletzt.
Die Beklagte hat Berufung eingelegt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29. März 1972 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat in den Entscheidungsgründen u. a. ausgeführt: Der Versicherungsschutz beginne auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit mit dem Verlassen des häuslichen Bereichs, als dessen Grenze grundsätzlich die Außentür des bewohnten Gebäudes anzusehen sei. Der Kläger sei zwar durch die Haustür gefallen und habe sich erst außerhalb des Hauses verletzt. Das gesamte Unfallgeschehen habe aber eindeutig noch im häuslichen Bereich des Klägers begonnen. Die zum Unfall führende Gefahr habe den Kläger bereits im häuslichen Bereich bedroht und sei schon in diesem Bereich wirksam geworden. Auf den vorliegenden Rechtsstreit seien die gleichen Grundsätze anzuwenden, die für das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Mai 1962 (BSG 17, 75 = SozR Nr. 37 zu § 543 RVO aF) maßgebend gewesen seien. Das BSG habe außerdem in seinem Urteil vom 11. November 1971 (2 RU 129/69 in SozR Nr. 14 zu § 550 RVO) ausgeführt, daß in einem solchen Fall, in dem die auf den Heimweg zurückführende Gefahr nicht durch neue, auf den Verhältnissen des häuslichen Bereichs beruhende Gegebenheiten beeinflußt worden sei, der Umstand, daß die für den Unfallversicherungsschutz nach § 550 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) maßgebende Grenze bereits überschritten sei, ohne rechtliche Bedeutung sei. Ein dem vom BSG entschiedener vergleichbarer Fall - allerdings im umgekehrten Sinn - liege hier vor.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Er führt aus: Das LSG habe zu Unrecht angenommen, es müsse auch hier die Rechtsfigur der sogenannten "nachgreifenden" Gefahr entsprechende Anwendung finden. Es handele sich vielmehr um Tatbestände, die bei natürlicher Betrachtungsweise nur einheitlich gelöst werden könnten.
Der Kläger beantragt,
die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a. M. vom 9. Dezember 1970 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das BSG habe für den Versicherungsschutz auf den Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit stets als entscheidend angesehen, ob sie der Unfall noch außerhalb des Hauses ereignet habe.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet.
Der Kläger hat den Unfall auf einem mit seiner versicherten Tätigkeit im Zusammenhang stehenden Weg nach dem Ort der Tätigkeit i. S. des § 550 Satz 1 RVO erlitten.
Nach der ständigen, vom Schrifttum weitgehend geteilten Rechtsprechung des Senats beginnt bzw. endet der Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit mit dem Durchschreiten der Außentür des Gebäudes (vgl. u. a. BSG 2, 239, 244; 22, 10, 11; 22, 240, 242; BSG SozR Nr. 14 zu § 550 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 486 d ff.). Diese Rechtsprechung zieht im Interesse der Rechtssicherheit eine auf den örtlichen Gegebenheiten beruhende und im allgemeinen leicht feststellbare Grenze. Der Kläger hat nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG seine Verletzungen bereits auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit vor der Haustür und somit schon außerhalb des häuslichen Bereichs erlitten. Der Kläger ist erst durch das Aufschlagen auf den Erdboden von den Glassplittern verletzt worden. Es widerspricht dem Sinn und Zweck der oben angeführten Grenzziehung, den Versicherungsschutz nach Beginn des Weges zur Arbeitsstätte davon abhängig zu machen, daß die zum Unfall führende Gefahr nicht noch dem häuslichen Bereich entsprungen ist. Eine Vielfalt von möglichen - auch im Revisionsverfahren von den Beteiligten mit Beispielen aufgezeigten - Fallgestaltungen würde zu einer Kasuistik zwingen, die gerade dadurch vermieden werden soll und kann, daß der Versicherungsschutz auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit mit dem Durchschreiten der Außentür beginnt. Das Berufungsgericht meint zu Unrecht, der vorliegende Sachverhalt entspreche im umgekehrten Sinn dem, der dem Urteil des Senats vom 29. Mai 1962 (BSG 17, 75 = SozR Nr. 37 zu § 543 RVO aF) zugrunde lag. Diese Streitsache war dadurch gekennzeichnet, daß es einer Versicherten zwar gelungen war, sich vor zwei Unbekannten, welche sie auf dem Heimweg überfallen wollten, in das Haus zu flüchten, diese ihr jedoch nacheilten und ihr innerhalb des häuslichen Bereichs Schaden zufügten. Der Senat hat bei seiner Entscheidung dieses Falles berücksichtigt, daß der Versicherungsschutz auf dem Weg von und nach dem Ort der Tätigkeit, der erst mit dem Durchschreiten der Haustür - und nicht der Wohnungstür - beginnt und dort schon endet, nicht durch das Aufteilen einheitlicher Lebensvorgänge weiter eingeengt werden soll. Diese Erwägungen rechtfertigen es nicht, bei einem bereits auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit erlittenen Arbeitsunfall den Versicherungsschutz zu verneinen, weil die Ursache des Sturzes auf dem Weg zur Arbeitsstätte noch im häuslichen Bereich gelegen hat. Auch in seinem Urteil vom 11. November 1971 (BSG SozR Nr. 14 zu § 550 RVO) hat es der erkennende Senat als entscheidend angesehen, daß sich der Unfall nach dem Durchschreiten der Haustür ereignet hat.
Auf die Revision des Klägers war daher das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen