Entscheidungsstichwort (Thema)
Absenkung des Arbeitslosengeld II. Aushändigung von Lebensmittelgutscheinen. eigenständiger Verwaltungsakt. Leistungsnachzahlung nach Rücknahme der Sanktion. keine Anrechnung des Wertes der Gutscheine bei alleiniger Aufhebung der Sanktionsbescheide
Leitsatz (amtlich)
Die Aushändigung von Lebensmittelgutscheinen als Sachleistung im Fall einer Sanktion stellt den Erlass eigenständiger Verwaltungsakte dar, sodass bei Rücknahme der Sanktion eine Anrechnung des Wertes der Gutscheine auf den Auszahlungsanspruch nicht in Betracht kommt, solange diese Verwaltungsakte wirksam sind.
Normenkette
SGB 2 § 31 Abs. 3 S. 6 Fassung: 2007-10-10, § 40 Abs. 3 S. 1 Fassung: 2011-05-13, Abs. 6 S. 1; SGB 10 § 50 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 30. August 2016 aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 29. Januar 2013 zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten im Berufungs- und Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Auszahlung weiterer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Monate April und Mai 2010. Im Streit ist die Anrechnung von Gutscheinen für Lebensmittel auf den Zahlungsanspruch.
Der Beklagte hatte dem Kläger ua für den streitbefangen Zeitraum, in dem dieser unter Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt für die Vermögenssorge stand, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bewilligt. Der Betreuer hatte einer Überweisung auf das Konto des Klägers zugestimmt. Für die Monate April und Mai 2010 erbrachte der Beklagte zunächst keine Regelleistungen, weil er wegen Pflichtverletzungen des Klägers diesen Anspruch um 100 % gemindert und die ursprüngliche Bewilligungsentscheidung insoweit aufgehoben hatte (Sanktionsbescheide vom 2.3.2010). Auf persönliche Vorsprache waren dem Kläger "Sachleistungen in Form von Gutscheinen" für "Lebensmittel ohne alkoholische Getränke" (im Folgenden: Gutscheine) durch die Aushändigung entsprechender Schreiben zuerkannt worden mit einem Nennwert von 131 Euro für April und 85 Euro für Mai 2010, im Einzelnen am 7.4.2010 im Wert von 53 Euro, am 16.4.2010 im Wert von 25 Euro, am 26.4.2010 im Wert von 53 Euro, am 3.5.2010 im Wert von 45 Euro und am 17.5.2010 im Wert von 40 Euro.
Nach Rücknahme der Sanktionsbescheide überwies der Beklagte auch die Regelleistung für April und Mai, allerdings abzüglich der in den Gutscheinen genannten Beträge in Höhe von 216 Euro. Der Kläger forderte den Beklagten erfolglos auf, ihm auch diese Beträge auszuzahlen.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Zahlung von je 131 Euro für die Monate April und Mai 2010 begehrt. Das SG hat den Beklagten verurteilt, von den bewilligten Leistungen für April 2010 weitere 131 Euro sowie für Mai 2010 weitere 85 Euro an den Kläger auszuzahlen und im Übrigen die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 29.1.2013). Der Anspruch des Klägers sei nicht bereits teilweise durch die Gewährung der Gutscheine erfüllt, denn es handele sich hierbei um eine der Art nach andere Leistung.
Das LSG hat auf die Berufung des Beklagten den Gerichtsbescheid aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen (Urteil vom 30.8.2016). Der Wert der eingelösten Gutscheine sei als Leistung des Beklagten an den Kläger an Erfüllungs statt (§ 364 Abs 1 BGB) anzusehen, die dieser angenommen habe. Diese Erfüllungswirkung sei nicht wegen der Betreuung gehindert, weil eine konkludente Einwilligung des Betreuers anzunehmen sei.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung von § 1903 BGB und § 364 Abs 1 BGB geltend. Aus der Einwilligung des Betreuers in die Auszahlung der Sozialleistung auf das Konto eines Betreuten folge nicht eine konkludente Einwilligung in die Erbringung einer anderen Leistungsform als der geschuldeten Leistung. Zudem sei die entsprechende Anwendbarkeit von § 364 Abs 1 BGB im Bereich des SGB II grundsätzlich zweifelhaft.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 30.8.2016 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 29.1.2013 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das Urteil des LSG vom 30.8.2016 ist aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid vom 29.1.2013 zurückzuweisen. Das SG hat den Beklagten zu Recht verurteilt, für April 2010 weitere 131 Euro und für Mai 2010 weitere 85 Euro auszuzahlen.
Die allein auf die Zahlung eines Geldbetrages gerichtete Klage ist als (echte) Leistungsklage zulässig. Nach § 54 Abs 5 SGG kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Ein solcher Fall liegt hier vor, denn nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG hat der Beklagte durch bindenden Verwaltungsakt einen Zahlungsanspruch des Klägers begründet, den er in Höhe des noch geltend gemachten Betrags von 131 Euro für den Monat April 2010 und 85 Euro für Mai 2010 nicht durch eine Auszahlung an den Kläger erfüllt hat. In einem solchen Fall bedarf es keines weiteren Verwaltungsaktes; die Leistung kann unmittelbar durch Klage geltend gemacht werden (vgl Bieresborn in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl 2014, § 54 RdNr 186; Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 54 RdNr 71).
Entgegen der Auffassung des LSG ist dieser Zahlungsanspruch noch nicht durch den Beklagten befriedigt worden. Dem steht entgegen, dass die Aushändigung der Gutscheine an den Kläger den Erlass eigenständiger Verwaltungsakte darstellt, die als Rechtsgrund fortbestehen. Eine Anrechnung des Wertes dieser Gutscheine auf den Zahlungsanspruch des Klägers für die Monate April und Mai 2010 kommt schon deshalb nicht in Betracht. Auf die Anwendung zivilrechtlicher Bestimmungen zur Erfüllung von Leistungsansprüchen im vorliegenden sozialrechtlichen Regelungszusammenhang (vgl BSG vom 29.1.1997 - 5 RJ 52/94 - BSGE 80, 41, 42 f = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17; BSG vom 17.12.2013 - B 11 AL 13/12 R - BSGE 115, 106 = SozR 4-4300 § 143a Nr 2, RdNr 22; vgl auch BSG vom 23.5.2017 - B 12 KR 2/15 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen, RdNr 17) kommt es nicht an.
Nach § 31 Abs 3 Satz 6 SGB II (in der bis zum 31.3.2011 geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGB II vom 10.10.2007 - BGBl I 2326), der 2010 anwendbar war (vgl zur weiteren Anwendbarkeit auch § 77 Abs 12 SGB II), konnten im Falle der Minderung des Alg II um mehr als 30 % ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen dem von einer Sanktionsentscheidung Betroffenen zur Sicherung seines absolut unerlässlichen Existenzminimums erbracht werden. Diese Regelung ist inhaltsgleich ab 1.4.2011 in § 31a Abs 3 Satz 1 SGB II (eingefügt durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 - BGBl I 453) enthalten. Soweit solche ergänzenden Leistungen in Form von Gutscheinen erbracht werden, sind sie als Sachleistung anzusehen (allg Auffassung, vgl Luthe in Hauck/Noftz, SGB II, K § 4 RdNr 63, Stand I/13; S. Knickrehm in Gagel, SGB II/SGB III, § 4 SGB II RdNr 25 f, Stand Oktober 2016; Münder in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 4 RdNr 6 f; Kemper in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 4 RdNr 14 ff) und setzen - wenn der Leistungsträger nicht von sich aus tätig geworden ist - einen entsprechenden Antrag voraus, was in § 31a Abs 3 Satz 1 SGB II jetzt auch ausdrücklich geregelt ist (vgl dazu nur Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 31a RdNr 40 ff; Knickrehm/Hahn in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 31a RdNr 37 ff).
Die Entscheidung über einen solchen Antrag hat, schon weil es sich - abgesehen von den in § 31a Abs 3 Satz 2 SGB II geregelten Fällen mit minderjährigen Kindern im Haushalt - um eine Ermessensentscheidung handelt, in der Form des Verwaltungsakts zu erfolgen. Ein Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist (§ 31 Satz 1 SGB X). Dem entspricht die Vorgehensweise des Beklagten im vorliegenden Fall. Auf die persönlichen Vorsprachen des Klägers, die jeweils als Antragstellung anzusehen sind, hat er als Behörde, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung iS von § 1 Abs 2 SGB X wahrnimmt, dem Kläger Schreiben über die "Gewährung von Sachleistungen in Form von Gutscheinen" ausgehändigt (so die Überschrift) für "Lebensmittel ohne alkoholische Getränke", die dem Kläger von Dritten auf Kosten der Beklagten "auszuführen" seien. Enthalten waren zudem "Wichtige Hinweise für den Lieferanten" zur Übertragbarkeit, zeitlichen Geltung und weiteren Abwicklungsfragen. Durch diese Schreiben ist der Beklagte iS von § 31 Satz 1 SGB X unter Anwendung des dem öffentlichen Recht zuzuordnenden SGB II im Einzelfall des Klägers und mit Rechtswirkung für den Kläger - und damit "nach außen" - hoheitlich tätig geworden. Die Zuerkennung von Sachleistungen in Form von Gutscheinen enthält auch eine Regelung. Diese liegt in der für den Kläger konkretisierten Rechtsfolge, sich in einem bestimmten Umfang Lebensmittel auf Kosten des Beklagten verschaffen zu können (näher zur Sachleistung in Form der Sachleistungsverschaffung BSG vom 28.10.2008 - B 8 SO 22/07 R - BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr 9, RdNr 17; vgl zum Regelungsbegriff BSG vom 9.6.2017 - B 11 AL 6/16 R - vorgesehen für BSGE und SozR, RdNr 17).
Das Berufungsgericht hat zwar nicht festgestellt, ob und ggf in welchem Umfang der Kläger die ihm mit diesen Verwaltungsakten eingeräumten Rechte in Anspruch genommen hat. Doch gibt es andererseits keine Anhaltpunkte dafür, dass sich die in den Gutscheinen zu sehenden Verwaltungsakte etwa durch Rücknahme oder Aufhebung (vgl § 39 Abs 2 SGB X) erledigt haben könnten. Sie sind deshalb weiterhin wirksam iS von § 39 Abs 1 SGB X. Sollte der Kläger tatsächlich Sachleistungen erhalten haben, wären hierfür die ausgehändigten Gutscheine und nicht andere Bescheide des Beklagten über Leistungsbewilligungen (weiterhin) die Rechtsgrundlage.
Ob und unter welchen Voraussetzungen der Beklagte nach Rücknahme der Sanktionsbescheide, die Voraussetzung für die Erteilung der Gutscheine waren, auch die darauf bezogenen Verwaltungsakte aufheben oder zurücknehmen kann, hatte der Senat nicht zu entscheiden. Daraus resultierende Erstattungsansprüche wären allerdings, soweit sie sich auf die Erstattung von Sachleistungen richten, gemäß § 50 Abs 1 Satz 2 SGB X bzw § 40 Abs 6 SGB II (der § 40 Abs 3 SGB II in der vom 1.4.2011 bis 31.7.2016 geltenden Fassung entspricht) in Geld zu erstatten.
Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob die Annahme einer Leistung an Erfüllungs statt hier mit einer stillschweigenden Einwilligung des Betreuers - wie es das LSG angenommen hat - erfolgt ist (zur zivilrechtlichen Rechtslage vgl BGH vom 21.4.2015 - XI ZR 234/14 - juris; zur Entgegennahme von Sozialleistungen im Fall einer Betreuung SG Marburg vom 1.2.2016 - S 2 AL 32/14 - juris, RdNr 16). Der persönlichen Antragstellung des Klägers, gerichtet auf die Erteilung der Gutscheine, stand die Betreuung jedenfalls nicht entgegen, da diese für den Kläger lediglich einen rechtlichen Vorteil brachte und er insoweit deshalb in seiner Handlungsfähigkeit nicht beschränkt war (§ 11 Abs 2 SGB X; § 1903 Abs 3 Satz 1 BGB).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 2018, 10 |
NJW 2018, 656 |
FEVS 2018, 454 |
NDV-RD 2018, 79 |
SGb 2017, 707 |
ZfF 2018, 19 |
Breith. 2018, 510 |