Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsfall Krankheit
Leitsatz (amtlich)
1. Der Anspruch auf Krankenpflege entsteht "mit dem Beginn der Krankheit" (RVO § 182 Abs 1 Nr 1), auch wenn zunächst keine Heilbehandlung in Anspruch genommen wird.
2. Die zeitliche Begrenzung des Krankenpflegeanspruchs im Falle des Ausscheidens aus der Versicherung (RVO § 183 Abs 1 S 2) gilt auch dann, wenn der Versicherte beim Ausscheiden nur einen - bisher nicht geltend gemachten - Anspruch auf Krankenpflege besetzt, Krankenpflege tatsächlich aber nicht bezieht. Ob ein Anspruch auf Krankengeld nach dem Ausscheiden nur entstehen kann, solange ein Krankengeldanspruch besteht, bleibt unentschieden.
Leitsatz (redaktionell)
1. Besteht beim Ausscheiden aus der Mitgliedschaft eine behandlungsbedürftige Krankheit, so ist Krankenpflege für längstens 26 Wochen nach dem Ende der Mitgliedschaft (RVO § 183 Abs 1 S 2) auch dann zu gewähren, wenn im Zeitpunkt des Ausscheidens Krankenpflege nicht bezogen wurde.
2. Ein Anspruch auf Krankengeld ist auch dann für längstens 78 Wochen gegeben, wenn der Versicherungsfall Krankheit während einer die Krankengeldberechtigung einschließenden Versicherung, die bei ununterbrochener Behandlungsbedürftigkeit einsetzende Unfähigkeit jedoch erst nach dem Ausscheiden aus der Mitgliedschaft innerhalb der Frist des RVO § 183 Abs 1 S 2 eintritt.
Orientierungssatz
Für die Entstehung des Anspruchs auf Krankenpflege nach RVO § 182 bedarf es keines besonderen Antrags an die KK.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1911-07-19, § 183 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1961-07-12
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. November 1965 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, wie lange die beklagte Krankenkasse dem Kläger Krankengeld zu gewähren hat.
Der Kläger war bis zum 31. Oktober 1961 auf Grund versicherungspflichtiger Beschäftigung Mitglied der Beklagten. Nachdem er sich am folgenden Tage arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hatte, wurde er am 3. November 1961 wegen "Grippe" arbeitsunfähig krank. Anschließend befand er sich von Anfang Dezember 1961 bis Ende März 1962 wegen eines durchgebrochenen Zwölffingerdarmgeschwürs in stationärer Behandlung, blieb aber auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus noch arbeitsunfähig. Seit dem 5. Mai 1962 bezog er eine Zeitrente wegen Berufsunfähigkeit.
Die Beklagte gewährte dem Kläger Krankengeld und Krankenhauspflege nur für 26 Wochen, weil der Versicherungsfall erst nach dem Ausscheiden aus der Versicherung eingetreten sei (§ 214 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - i. V. m. Abschn. I Nr. 5 des Erlasses des Reichsarbeitsministers über Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung - Verbesserungserlaß - vom 2. November 1943, AN 1943 II 485). Der Kläger glaubt dagegen, nach § 183 Abs. 2 RVO Anspruch auf Krankengeld für 78 Wochen zu haben.
Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat seine Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Mai 1963). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat nach Einholung eines fachärztlichen Gutachtens, das zu dem Ergebnis genommen ist, Behandlungsbedürftigkeit habe wegen des Darmleidens schon vor dem 1. November 1961 vorgelegen, die Beklagte zur Gewährung von Krankengeld "bis zu 78 Wochen" verurteilt. Es hat auf Grund des Gutachtens angenommen, der Versicherungsfall - die behandlungsbedürftige Erkrankung - sei noch während der Mitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten eingetreten; die Dauer des Krankengeldanspruchs richte sich deshalb nicht nach § 214, sondern nach § 183 Abs. 2 RVO. Daran ändere nichts, daß der Kläger erst nach dem Ausscheiden bei der Beklagten arbeitsunfähig geworden sei; sein Krankengeldanspruch sei schon vorher, mit Eintritt des Versicherungsfalls, entstanden. Auch § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO, der den Anspruch auf Krankenpflege auf 26 Wochen begrenze, wenn, "wie es beim Kläger der Fall war", ein Versicherter während des Bezugs von Krankenpflege aus der Versicherung ausscheide, stehe dem Klageanspruch nicht entgegen; diese Vorschrift gelte nur für die Krankenpflege, nicht für das Krankengeld (Urteil vom 3. November 1965).
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt: Entgegen der Annahme des LSG habe der Kläger beim Ausscheiden aus der Versicherung keine Krankenpflege bezogen; er habe deshalb nach dem Ausscheiden keinen Anspruch auf Krankenpflege mehr gehabt und aus diesem Grunde aus einem alten Versicherungsfall, dessen Eintritt im übrigen zweifelhaft sei, keinen Anspruch auf Krankengeld mehr erwerben können. Außerdem gelte die zeitliche Begrenzung des Krankenpflegeanspruchs im Falle des Ausscheidens (§ 183 Abs. 1 Satz 2 RVO) auch für den Krankengeldanspruch. Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 3. November 1966 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Bayreuth vom 28. Mai 1963 zurückzuweisen.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Auf die Revision der beklagten Krankenkasse ist der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden.
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß Versicherungsfall für die Gewährung von Krankenhilfe und damit auch für die Zahlung von Krankengeld (vgl. § 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO) der Eintritt der mit Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit verbundenen Erkrankung ist (vgl. BSG 22, 115, 116 mit weiteren Nachweisen; 26, 57, 58). Das LSG hat ferner festgestellt, daß der Kläger schon vor seinem Ausscheiden bei der Beklagten behandlungsbedürftig gewesen ist. Diese Feststellung ist innerhalb der Frist zur Begründung der Revision (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) mit keiner zulässigen Verfahrensrüge angefochten worden und daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Der für den streitigen Krankengeldanspruch maßgebende Versicherungsfall ist somit noch während der Mitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten eingetreten; deshalb ist hier nicht § 214 RVO, der nur für Versicherungsfälle nach dem Ausscheiden aus der Versicherung gilt, sondern § 183 Abs. 2 RVO anzuwenden. Wäre dem Kläger übrigens das am 1. November 1961 beantragte Arbeitslosengeld vom Antragstage an, d. h. ohne die grundsätzlich vorgeschriebene dreitägige Wartezeit, bewilligt worden, was unter gewissen Voraussetzungen zulässig ist, so wäre auch die Arbeitsunfähigkeit noch während der - dann durch den Bezug des Arbeitslosengeldes vermittelten - Kassenmitgliedschaft eingetreten (vgl. §§ 92 Abs. 1 und 2, 107, 108 Abs. 1 AVAVG).
Nach § 183 Abs. 2 RVO wird das Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung gewährt, für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit jedoch für höchstens 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren; tritt während der Arbeitsunfähigkeit eine weitere Krankheit hinzu, so wird die Leistungsdauer nicht verlängert. Ob der Kläger seit dem 3. November 1961 "wegen derselben Krankheit" arbeitsunfähig war oder ob seine Arbeitsunfähigkeit zunächst durch eine Grippe und erst später durch das Darmleidens herbeigeführt wurde, kann auf sich beruhen. An der zulässigen Leistungsdauer von 78 Wochen würde sich dadurch nichts ändern.
Der Senat braucht hier auch nicht zu entscheiden, ob der Kläger nach seinem Ausscheiden aus der Versicherung nur solange einen Krankengeldanspruch erwerben konnte, als er einen Anspruch auf Krankenpflege besaß (so das Reichsversicherungsamt für die Zeit der Geltung des Verbesserungserlasses vom 2. November 1943, GE 5545, AN 1944 II 38; vgl. auch BSG 22, 115, 116 unten und BSG 25, 37, 39). Im vorliegenden Falle hatte nämlich der Kläger bei Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit am 3. November 1961 einen Anspruch auf Krankenpflege. Für das Bestehen dieses Anspruchs war es unerheblich, daß der Kläger, wie die Beklagte meint, im Zeitpunkt seines Ausscheidens aus der Versicherung keine Krankenpflege "bezog".
Nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO hat die Krankenkasse den Versicherten Krankenpflege "vom Beginn der Krankheit an" zu gewähren. Schon die Tatsache, daß ein Versicherter behandlungsbedürftig erkrankt ist, läßt somit für ihn einen Anspruch auf Krankenpflege entstehen; eines besonderen Antrags an die Krankenkasse bedarf es dafür nicht (vgl. Hoffmann, Krankenversicherung, 8. Aufl., § 182 Anm. 3; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 16. Aufl., § 182 Anm. 3 b). Unerheblich für die Entstehung des Krankenpflegeanspruchs ist ferner, ob der erkrankte Versicherte alsbald wegen Gewährung von Krankenpflege an die Krankenkasse herantritt oder ob er aus irgendwelchen Gründen zunächst keine Heilbehandlung in Anspruch nimmt. Auch für den Kläger entstand deshalb in dem Zeitpunkt, als er - noch während seiner Mitgliedschaft bei der Beklagten - behandlungsbedürftig erkrankte, ein Anspruch auf Krankenpflege, den er allerdings, wie es scheint, bis zu seinem Ausscheiden aus der Versicherung (31. Oktober 1961) nicht geltend gemacht hat. Dieser Anspruch bestand auch noch bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 3. November 1961.
Nach § 183 Abs. 1 RVO wird die Krankenpflege ohne zeitliche Begrenzung, d. h. für die ganze Dauer der Behandlungsbedürftigkeit, gewährt. Das würde an sich auch gelten, wenn ein erkrankter Versicherter aus der Versicherung ausscheidet; denn nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen erlischt ein einmal entstandener Anspruch nicht ohne weiteres mit dem nachträglichen Wegfall einer Entstehungsbedingung. Das trifft auch für Leistungsansprüche zu, die auf dem Versicherungsfall der Krankheit beruhen; auch ihr Fortbestand ist grundsätzlich unabhängig von der Fortdauer der Kassenmitgliedschaft (BSG 25, 37, 38). Andererseits hat der Gesetzgeber, was die Krankenpflege anlangt, ihre zeitlich unbegrenzte Gewährung über die Beendigung der Kassenmitgliedschaft hinaus nicht für vertretbar gehalten, weil ein nur behandlungsbedürftig Erkrankter, also Arbeitsfähiger, durch Aufnahme einer neuen Beschäftigung für seinen weiteren Versicherungsschutz selbst sorgen kann, der Krankenpflege aus dem früheren Versicherungsverhältnis mithin nicht mehr bedarf (vgl. BSG 26, 57, 59 unten). § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO sieht deshalb vor, daß die Krankenpflege spätestens 26 Wochen nach dem Ausscheiden endet, wenn ein Mitglied während des Bezuges von Krankenpflege aus der Versicherung ausscheidet. Wie der Sinnzusammenhang zeigt, enthält diese Vorschrift eine - den Grundsatz des § 183 Abs. 1 Satz 1 RVO (unbegrenzte Krankenpflege) einschränkende - Ausnahme, begründet aber nicht etwa erst einen (auf 26 Wochen nach dem Ausscheiden begrenzten) Anspruch auf Krankenpflege. Wäre die Vorschrift also mit der Beklagten, die sich dafür auf den Wortlaut des Gesetzes beruft, nur anzuwenden, wenn der erkrankte Versicherte "während des (tatsächlichen) Bezugs von Krankenpflege" ausscheidet, dagegen unanwendbar, wenn dem Versicherten beim Ausscheiden lediglich ein - bisher nicht realisierter - Anspruch auf Krankenpflege zusteht, so müßte in diesem Falle wiederum der Grundsatz des § 183 Abs. 1 Satz 1 RVO Platz greifen. Ein solches Ergebnis wäre indessen mit dem Sinn der Begrenzungsregelung in § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO nicht in Einklang zu bringen, nach der ein Kranker, der arbeitsfähig ist, jedenfalls nach einer gewissen Übergangszeit für seinen weiteren Versicherungsschutz selbst aufkommen kann und soll. § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO gilt deshalb auch dann, wenn der Versicherte bei seinem Ausscheiden tatsächlich keine Krankenpflege erhalten, sondern sie nur zu beanspruchen hatte (vgl. schon BSG 25, 37, 40 unten und für einen ähnlichen Fall RVA, GE 2451, AN 1918, 339; a. A. LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1960, 197).
Der Umstand, daß der Kläger hier bei seinem Ausscheiden aus der Versicherung (noch) keine Krankenpflege von der Beklagten bezog, schließt somit die Anwendung des § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO nicht aus. Der Krankenpflegeanspruch des Klägers bestand daher - über den Zeitpunkt seines Ausscheidens hinaus - jedenfalls bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 3. November 1951 fort, so daß der Kläger, wie das LSG zutreffend angenommen hat, seinerzeit einen Anspruch auf Krankengeld von höchstens 78 Wochen erwerben konnte (§ 183 Abs. 2 RVO).
Daß die zeitliche Begrenzung des Krankenpflegeanspruchs durch § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO (26 Wochen nach dem Ausscheiden) für den Krankengeldanspruch nicht gilt, hat der Senat schon früher entschieden (BSG 26, 57). Der Revision kann daher auch insoweit nicht gefolgt werden, als sie die Begrenzungsregelung in § 183 Abs 1 Satz 2 RVO auf den Krankengeldanspruch übertragen will. Gleichwohl kann das Urteil des LSG, das die Beklagte zur Gewährung von Krankengeld "bis zu 78 Wochen" verurteilt hat, in dieser Form nicht bestehen bleiben. wie der Senat bereits entschieden hat, dürfen sich die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit grundsätzlich nicht darauf beschränken, einen Anspruch auf Krankengeld "bis zur gesetzlichen Höchstdauer" zuzusprechen, sondern haben, wenn dies nach Lage des Falles möglich ist, die Dauer des Krankengeldanspruchs und damit auch seinen Endzeitpunkt festzulegen (BSG 27, 66, 68). Eine solche "Konkretisierung" ist insbesondere dann notwendig, wenn, wie im vorliegenden Fall, Zweifel bestehen können, ob der Kläger für 78 Wochen arbeitsunfähig geblieben ist. Das LSG wird daher noch ermitteln müssen, wie lange der Kläger arbeitsunfähig war, wann sein Krankengeldanspruch also endete. Es wird ferner prüfen müssen, in welcher Höhe das Krankengeld wegen der seit Mai 1962 bezogenen Berufsunfähigkeitsrente zu kürzen war (§ 183 Abs. 5 RVO).
Fundstellen
Haufe-Index 707736 |
BSGE, 249 |