Leitsatz (amtlich)
Zur Einordnung eines Leiters einer Bauabteilung eines Reichsbahnamtes in Ost-Berlin in die Leistungsgruppen der Anlage 1 zu FRG § 22.
Normenkette
FRG § 22 Anl 1 Buchst. B Fassung: 1960-02-25
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. August 1969 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Jahre 1910 geborene Kläger wurde am 18. Januar 1938 zum technischen Reichsbahninspektor auf Lebenszeit und am 11. Januar 1943 zum technischen Reichsbahnoberinspektor ernannt. Die Sonderprüfung für die Zulassung zum Studium an der technischen Hochschule legte er am 31. März 1941 ab. Anschließend studierte er. Am 28. März 1945 bestand er die Diplomprüfung an der Technischen Hochschule in B. Nach Beendigung des Krieges war er bis 1954 bei der Reichsbahn in O beschäftigt. Später kam er in die Bundesrepublik.
Im Verfahren über die Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen nach § 11 Abs. 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960 erkannte die Beklagte ua in ihrer Bescheinigung vom 3. März 1966
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a) die Zeit vom 22.2.1946 - 8.7.1947 |
als Betriebsingenieur bei den Reichsbahnämtern B 6 und 4, |
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b) die Zeit vom 9.7.1947 - 31.3.1953 |
als Leiter der Bauabteilung des Reichsbahnamtes B 4, |
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c) die Zeit vom 1.4.1953 - 21.10.1954 |
als Dienstvorsteher der Bahnmeisterei B, |
als versicherungspflichtige Zeiten an; gleichzeitig stufte sie den Kläger für diese Zeiten in die Leistungsgruppe B 2 der Anlage 1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG) ein. Einen Antrag auf Einstufung in die Leistungsgruppe B 1 lehnte sie mit Bescheid vom 29. August 1966 ab. Dabei wies sie darauf hin, daß die Bruttoarbeitsentgelte nach der Anlage 9 zu § 22 FRG in den Jahren 1951 und 1952 für die Leistungsgruppen B 2 und B 1 gleich hoch waren. Die Widerspruchsstelle wies den Widerspruch des Klägers bezüglich der Zeiten vom 22. Februar 1946 bis 31. Dezember 1950 und vom 1. Januar 1953 bis 21. Oktober 1954 mit Bescheid vom 10. November 1966 zurück. Dagegen erhob der Kläger Klage, mit der er die Einstufung in die Leistungsgruppe B 1 für die gesamte Versicherungszeit vom 22. Februar 1946 bis 21. Oktober 1954 begehrte.
Diese Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Daraufhin hat der Kläger Berufung eingelegt, diese aber nur bezüglich des Zeitraums zu b) aufrecht erhalten und mit Rücksicht auf die Bedeutungslosigkeit der Einstufung in die Leistungsgruppe B 1 oder B 2 für die Jahre 1951 und 1952 beantragt,
das Urteil des SG Hamburg vom 18. Juli 1968 zu ändern und die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 29. August 1966 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. November 1966 zu verurteilen, die Beitragszeiten vom 9. Juli 1947 bis zum 31. Dezember 1950 und vom 1. Januar bis zum 31. März 1953 der Leistungsgruppe B 1 der Anlage 1 zu § 22 FRG zuzuordnen.
Diesem Antrage hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger gehöre hinsichtlich des zu b) erwähnten Zeitraums, während der er Leiter der Bauabteilung des Reichsbahnamts 4 gewesen sei, für die streitigen Zeiten vom 9. Juli 1947 bis 31. Dezember 1950 und vom 1. Januar bis 31. März 1953 in die Leistungsgruppe B 1. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. März 1967 (SozR § 22 FRG Nr. 3) seien für Beschäftigte im öffentlichen Dienst die vom BSG in seinem Urteil vom 24. November 1965 (BSG 24, 113) entwickelten Grundsätze zum Begriff des "Angestellten in leitender Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis" sinngemäß anzuwenden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme falle der Kläger unter die Definition der Leistungsgruppe B 1. Auf Grund der Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen i. V. mit einer Auskunft der Bundesbahndirektion Hamburg stehe fest, daß seine Tätigkeit als Leiter der Bauabteilung mit einer umfangreichen Aufsichts- und Dispositionsbefugnis verbunden gewesen sei und in einem Rahmen gelegen habe, dem erhebliche wirtschaftliche Bedeutung zugekommen sei. Das Reichsbahnamt Berlin 4 sei eine große Dienststelle gewesen. Sie habe sich aus den früheren Reichsbahnbetriebsämtern 1, 7, B und B mit einem Streckennetz von rund 380 Kilometern zusammengesetzt. Zu dem Bezirk hätten ua vier große Stadtbahnhöfe und zwei große Verschiebebahnhöfe gehört. Darüber hinaus habe die Dienststelle 16 Bahnmeistereien und 4 Signalmeistereien mit zusammen rund 800 Bediensteten umfaßt. Diese Bahn- und Signalmeistereien sowie die Investitionsbauabteilung in diesem Bezirk hätten der Aufsicht des Klägers als Leiter der Bauabteilung unterstanden. Die Vorsteher dieser Dienststellen und auch die Angehörigen der Investitionsbauabteilung seien überwiegend ausgebildete Ingenieure mit langjährigen Berufserfahrungen gewesen. Auch die im Büro des Klägers beschäftigten technischen Angestellten hätten eine Fachausbildung als Bauingenieur gehabt. Zu seinem Aufgabenbereich hätten die Angelegenheiten des Hoch-, Ober- und Brückenbaus sowie des Sicherungs- und Fernmeldewesens gehört. Er habe die volle Verantwortung für die Betriebssicherheit getragen und umfangreiche Weisungsbefugnisse gehabt und hätte den ihm unterstellten Dienststellen im weiten Umfang direkte Weisungen erteilen können. Damit habe es sich entgegen der Auffassung der Beklagten bei der Tätigkeit des Klägers nicht um eine solche gehandelt, die dem gehobenen mittleren technischen Dienst hätte zugerechnet werden müssen. Vielmehr dürfte seine dienstliche Stellung dem höheren Dienst bei der Deutschen Bundesbahn vergleichbar gewesen sein. Dafür spreche auch, daß bereits die früheren Reichsbahnbetriebsämter, die zu dem jetzigen Reichsbahnamt Berlin 4 gehörten, mit zwei oder drei höheren bautechnischen Beamten besetzt gewesen seien. Nach alledem ergebe sich, daß die Tätigkeit des Klägers als Leiter der Bauabteilung des Reichsbahnamtes Berlin 4 nach Umfang und Bedeutung über die Angehörigen der Leistungsgruppe B 2 herausgeragt habe und seine leitende Stellung mit einer umfassenden Aufsichts- und Dispositionsbefugnis die Eingruppierung in die Leistungsgruppe B 1 rechtfertige.
Das LSG hat in seinem Urteil vom 29. August 1969 die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hamburg vom 18. Juli 1968 zurückzuweisen.
In der Revisionsbegründung rügt die Beklagte fehlerhafte Anwendung des § 22 FRG.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
da das angefochtene Urteil richtig sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision muß zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz führen.
Die Beklagte bringt zunächst vor, nach der vom SG eingeholten Stellungnahme der Bundesbahndirektion H vom 6. September 1967 seien während der hier fragliche Zeit im Bereich der Reichsbahndirektion B, die wiederum der Generaldirektion der Deutschen Reichsbahn unterstellt gewesen sei, noch mindestens sechs weitere Reichsbahnämter vorhanden gewesen. Innerhalb eines solchen Amtes sei der Kläger Leiter einer von fünf Abteilungen gewesen, und zwar der Bauabteilung, und habe als solcher im Rang eines "technischen Oberinspektors" gestanden. In dieser Eigenschaft seien ihm etwa zehn Angestellte unterstellt gewesen, darunter einige technische Angestellte (Betriebs-Ingenieure). Zu seinem Aufgabenbereich hätten die Angelegenheiten des Hoch- und Brückenbaus sowie des Sicherungs- und Fernmeldewesens gehört. Jedoch hätte sich diese Tätigkeit in erster Linie auf Überwachung und Kontrollaufgaben hinsichtlich der im Amtsbezirk angefallenen Bauarbeiten beschränkt. Der Kläger sei somit lediglich Leiter einer kleineren Abteilung in einer Reichsbahndienststelle gewesen und könne deshalb nicht in die Leistungsgruppe B 1 eingeordnet werden.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte mit diesen Ausführungen, da der Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) grundsätzlich an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden ist, eine fehlerhafte Beweiswürdigung (Verletzung des § 128 SGG) gerügt hat. Die Revision ist schon deshalb begründet, weil nicht auszuschließen ist, daß das LSG den Begriff des leitenden Angestellten mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis verkannt hat. Es stellt entscheidend darauf ab, daß das Reichsbahnamt 4 eine große Dienststelle war mit einem Streckennetz von 380 Kilometern, mit vier großen Stadtbahnhöfen und zwei Verschiebebahnhöfen, 16 Bahnmeistereien und 4 Signalmeistereien mit zusammen rund 800 Bediensteten. Diese Bahn- und Signalmeistereien sowie die Investitionsbauabteilung in diesem Bezirk hätten der Aufsicht des Klägers als Leiter der Bauabteilung unterstanden. Mit Recht weist die Beklagte darauf hin, daß damit nicht dargetan ist, daß der Kläger ein Weisungsrecht gegenüber diesen Stellen und ihren Bediensteten im Sinne der Leistungsgruppendefinition hatte. Dieses kann allein dem Leiter des Reichsbahnamts Berlin 4 zugestanden haben. Er war deshalb auch offensichtlich ein Angestellter in leitender Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis im Sinne der Leistungsgruppe B 1.
Dem Kläger stand dagegen möglicherweise ein unmittelbares Weisungsrecht nur gegenüber den ihm unmittelbar unterstellten Beschäftigten zu (es sollen etwa zehn Mitarbeiter gewesen sein). Den anderen übrigen Dienststellen gegenüber durfte er der Natur der Sache nach nur ein fachliches Weisungsrecht gehabt haben. Wie in BSG 24, 113, 115 ausgeführt ist, müssen die Angestellten der Leistungsgruppe B 1 grundsätzlich unternehmerische Funktionen jedenfalls hinsichtlich eines wesentlichen Teils des Unternehmens oder der Dienststelle selbständig und selbstverantwortlich wahrgenommen haben. Die sinngemäße Übertragung dieser Grundsätze auf den öffentlichen Dienst bei der Bahn bedeutet, daß hier Angestellte in leitender Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis in der Regel nur solche sein können, die als Leiter einer größeren Dienststelle unmittelbar über den gesamten Betrieb in ihrem Bereich sowie über Anstellung, Einsatz und Entlassung des dazu gehörigen Personals zu bestimmen haben. Hieran hat es unter Umständen beim Kläger gefehlt, da er nur der Vorgesetzte von etwa zehn Mitarbeitern gewesen sein und im übrigen nur fachliche Weisungsrechte gehabt haben soll. Das allein würde jedoch nicht genügen, um die Klage abweisen zu können.
Entsprechend den vom Senat in seinem schon erwähnten Urteil vom 15. März 1967 (SozR FRG § 22 Nr. 3) aufgestellten Grundsätzen für die Einstufung eines älteren Richters (in die Leistungsgruppe B 1) hat nämlich dann etwas anderes zu gelten, wenn ein Angestellter auf Grund seines Fachstudiums über besonderes berufliches Können verfügt und auch entsprechende Leistungen erbringt, z. B. als Leiter einer Planungsgruppe für ein besonders schwieriges und umfangreiches Projekt, und sich aus der Art seiner Tätigkeit ergibt, daß ihm hierbei eine umfassende Aufsichts- und Dispositionsbefugnis über einen größeren Kreis von Mitarbeitern nicht zustehen kann, wie dies insbesondere bei einem Richter der Fall sein kann, aber auch bei einem älteren und erfahrenen Oberarzt eines Krankenhauses (vgl. hierzu BSG FRG § 23 Nr. 3). Eine dementsprechende Tätigkeit könnte auch vom Kläger verrichtet worden sein. Dabei würde es aber entgegen der Auffassung des LSG nicht schon genügen, wenn vor 1945 bei der Deutschen Reichsbahn und bei der jetzigen Bundesbahn entsprechende Stellen, wie sie der Kläger bei der Ostdeutschen Reichsbahn innehatte, mit Angehörigen des "höheren Dienstes" (vgl. dazu z. B. § 19 des Bundesbeamtengesetzes) besetzt wurden und werden. Jüngere Angehörige des höheren Dienstes in den Eingangsstufen ihrer Laufbahn werden jedenfalls in der Regel die Einstufung in die Leistungsgruppe B 1 noch nicht beanspruchen können. Allein die Ausübung eines Berufs mit abgeschlossener Hochschulausbildung reicht nach dem zuletzt erwähnten Urteil des Senats für die Zuordnung in die Leistungsgruppe B 1 nicht aus.
Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zu einer abschließenden Beurteilung des Rechtsstreits nicht aus. Deshalb muß nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG verfahren werden. Bei seiner abschließenden Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen