Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, bei welcher Dauer eines gescheiterten Selbsthilfeversuchs der Anschluß der folgenden Arbeitslosigkeit an eine vorausgegangene versicherungspflichtige Beschäftigung noch als gewahrt gelten kann (Fortentwicklung von BSG 1972-03-08 11 RA 190/71 = SozR Nr 44 zu § 1259 RVO).
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. Juni 1972 und das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 27. August 1970, soweit es die Arbeitslosigkeit des Klägers vom 6. Dezember 1951 bis 16. März 1957 betrifft, aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger von Februar 1969 an Altersruhegeld unter Anrechnung der Arbeitslosigkeit vom 6. Dezember 1951 bis 16. März 1957 als Ausfallzeit zu gewähren.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren voll und in den Vorinstanzen zur Hälfte zu erstatten.
Gründe
I
Der im Januar 1904 geborene Kläger erhält seit Februar 1969 Altersruhegeld (Bescheid vom 6. Januar 1970). Streitig ist noch, ob ihm die Zeit vom 6. Dezember 1951 bis 16. März 1957 als Ausfallzeit der Arbeitslosigkeit (§ 36 Abs. 1 Nr. 3 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -) anzurechnen ist. Die Beklagte und die Vorinstanzen haben das verneint (Urteile des Sozialgerichts Stade vom 27. August 1970 und des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. Juni 1972), weil der Kläger nur bis zum 31. Mai 1951 (als Filialleiter) versicherungspflichtig beschäftigt war; die Zeit der Arbeitslosigkeit habe also keine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unterbrochen.
Nach der Auffassung des Landessozialgerichts (LSG) ist hierzu grundsätzlich ein unmittelbarer, wenn auch nicht immer nahtloser Anschluß erforderlich. Allerdings gäbe es unschädliche Überbrückungszeiten, z. B. Zeiten von Arbeitslosigkeit ohne Meldung beim Arbeitsamt, Beschäftigungszeiten, für die der Arbeitgeber wegen Konkurses keine Beiträge mehr entrichtet habe, und Zeiten, in denen ein Arbeitsloser vergeblich versucht habe, durch selbständige Tätigkeit den Lebensunterhalt zu verdienen. In diesen Fällen werde der fehlende unmittelbare Anschluß fingiert; dafür müsse jedoch ein Zeitraum von 6 Monaten die äußerste Grenze bilden.
Im vorliegenden Falle habe in der Zwischenzeit vom 1. Juni bis 5. Dezember 1951 keine Arbeitslosigkeit bestanden. Der Kläger habe damals dem Arbeitsmarkt nicht uneingeschränkt zur Verfügung gestanden. Er habe für eine H Firma freiwillig und unentgeltlich den Markt im R Raum erforscht und Vorarbeiten für eine spätere Filiale in R geleistet, deren Leiter er werden sollte; diese Tätigkeit habe ihn ausgelastet. Zwar habe er sich auch anderweit nach einer Stellung umgesehen; intensive Bemühungen seien jedoch nicht nachgewiesen; das Streben um die für 1. Januar 1952 in Aussicht gestellte Filialleiterstelle habe offensichtlich im Vordergrund gestanden. Erst als sich herausgestellt habe, daß die Filiale nicht errichtet werden und die H Firma ihr Versprechen nicht einhalten würde, habe sich der Kläger beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet; erst von da an - 6. Dezember 1951 - sei er auch tatsächlich arbeitslos gewesen.
Die erfolglosen Bemühungen, sich mit Hilfe der H Firma wieder in R eine Existenz zu verschaffen, seien als ein gescheiterter Selbsthilfeversuch zu werten. Da die hierauf entfallende Zeit jedoch mehr als 6 Monate betrage, könne bei der folgenden Arbeitslosigkeit der Anschluß an die am 31. Mai 1951 beendete versicherungspflichtige Beschäftigung nicht mehr bejaht werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen, weil die Frage, über welchen Zeitraum sich eine unschädliche Überbrückungszeit erstrecken könne, von grundsätzlicher Bedeutung und durch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 8. März 1972 (SozR Nr. 44 zu § 1259 RVO) - die einen Zeitraum von "etwa" 6 Monaten in Betracht ziehe - nicht eindeutig geklärt sei.
Mit seiner Revision beantragt der Kläger,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Bescheides der Beklagten diese zu verurteilen, dem Kläger höheres Altersruhegeld zu gewähren und dabei die Zeit vom 6. Dezember 1951 bis 16. März 1957 als Ausfallzeit rentensteigernd zu berücksichtigen.
Er rügt eine Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG. Nach seiner Meinung darf die Anrechnung der Ausfallzeit nicht an der geringfügigen Überschreitung der 6-Monatsfrist scheitern.
Die Beklagte beantragt die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Seine Arbeitslosigkeit vom 6. Dezember 1951 bis 16. März 1957 ist entgegen der Auffassung der Beklagten und der Vorinstanzen als Ausfallzeit im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG anzurechnen.
Diese Vorschrift verlangt zwar, daß die Arbeitslosigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung (oder Tätigkeit) "unterbrochen" hat, was grundsätzlich bedeutet, daß sich die Arbeitslosigkeit der versicherungspflichtigen Beschäftigung (Tätigkeit) unmittelbar angeschlossen haben muß. Gleichwohl hat das LSG jedoch - anknüpfend an den vom erkennenden Senat am 8. März 1972 (SozR Nr. 44 zu § 1259 RVO) entschiedenen Fall - zu Recht geprüft, ob hier der an sich fehlende unmittelbare Anschluß deshalb fingiert werden kann, weil die Zwischenzeit als die Zeit eines gescheiterten Selbsthilfeversuches im Sinne der Entscheidung vom 8. März 1972 zu werten ist.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das LSG für die Zwischenzeit das Vorliegen von Arbeitslosigkeit mit der von ihm gegebenen Begründung hat verneinen dürfen. Insoweit bestehen Bedenken, ob die Vereinbarung mit der H Firma den Kläger wirklich gehindert hat, jederzeit für den Arbeitsmarkt verfügbar zu sein, und ob das LSG die Anforderungen an die Bemühungen des Klägers um eine anderweitige Beschäftigung unter den hier gegebenen Umständen nicht überspannt hat.
War nämlich für die Zwischenzeit Arbeitslosigkeit im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG zu verneinen, dann ist dem LSG jedenfalls in der Bewertung der Zwischenzeit als Zeit einer gescheiterten Selbsthilfe zuzustimmen. Dem steht nicht entgegen, daß sich der am 8. März 1972 entschiedene Fall von dem vorliegenden dadurch unterscheidet, daß der Selbsthilfeversuch dort erst nach kurzer Arbeitslosigkeit begonnen und sich auf die Erlangung einer den Unterhalt sichernden selbständigen Stellung gerichtet hat, während hier der Kläger sogleich nach dem Ende der letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung Vorarbeiten für eine erneute unselbständige Beschäftigung geleistet hat. Diese Unterschiede sind für die Charakterisierung der Zwischenzeit nicht wesentlich. Ausschlaggebend ist vielmehr die jeweils bewiesene Eigeninitiative. Auch im vorliegenden Fall hat sich der Versicherte im Wege der Selbsthilfe bemüht, einer Arbeitslosigkeit entgegen zu wirken. Diese Selbsthilfe verdient im Rahmen der Rechtsordnung grundsätzlich Anerkennung; zumindestens ist, wer sich selbst zu helfen bemüht, möglichst vor Nachteilen zu bewahren. Dem Kläger kann dabei nicht vorgehalten werden, er habe ein halbes Jahr ohne Einkünfte bewußt in Kauf genommen. Bei diesem Vorhalt läßt die Beklagte außer acht, daß für den Kläger unter den damaligen Umständen andere Erwerbsmöglichkeiten praktisch nicht bestanden, was die lange Dauer der folgenden Arbeitslosigkeit bestätigt. Hinzu kommt, daß das Streben nach erneuter rentenversicherungspflichtiger Beschäftigung in der gesetzlichen Rentenversicherung eher einen noch stärkeren Schutz als das nach einer selbständigen Tätigkeit verdient. Diesen Erwägungen wird in angemessener Weise Rechnung getragen, wenn die Zwischenzeit zwar nicht selbst versicherungsrechtlich als Ausfallzeit honoriert, ihr jedoch die nachteilige Auswirkung für die Anerkennung der folgenden Zeit als Ausfallzeit genommen wird.
Nicht folgen kann der Senat dem LSG jedoch darin, daß "Überbrückungszeiten" schlechthin nur bis zum Zeitraum von 6 Monaten unschädlich seien und bei längerer Dauer ein unmittelbarer Anschluß der folgenden Arbeitslosigkeit an die frühere versicherungspflichtige Beschäftigung nicht mehr fingiert werden könne. Daß das in dieser Allgemeinheit nicht richtig sein kann, ergeben folgende Überlegungen: In der Rechtsprechung ist anerkannt (vgl. SozR Nr. 22, 32, 44 zu § 1259 RVO), daß die Bewertung einer Arbeitslosigkeit als Ausfallzeit - d. h. die "Unterbrechungswirkung" der Arbeitslosigkeit - nicht daran scheitern darf, daß die Zeit nach der letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung bis zum Beginn der Arbeitslosigkeit durch andere Ausfalltatbestände ausgefüllt ist (vgl. § 36 Abs. 1 Satz 2 AVG). In diesem Falle kann es aber keine Rolle spielen, ob die anderen Ausfalltatbestände sich auf einen Zeitraum von unter oder über 6 Monaten erstreckt haben. Das gleiche gilt, wenn in der Zwischenzeit zwar eine Arbeitslosigkeit bestanden hat, der Versicherte jedoch sich beim Arbeitsamt erst später gemeldet hat (vgl. SozR Nr. 12 zu § 1259 RVO). Das LSG übersieht dabei, daß § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG schon seinem Wortlaut nach die Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung durch (eine mindestens einen Kalendermonat dauernde) "Arbeitslosigkeit" fordert; die Arbeitslosmeldung ist demgegenüber ein zusätzliches Merkmal für die Anerkennung einer Arbeitslosigkeit als Ausfallzeit; das Gesetz verlangt jedoch nicht die Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung durch eine letztlich in allen Merkmalen als Ausfallzeit zu bewertende Zeit. Auch in diesem Falle muß es daher unerheblich sein, wie lange eine Arbeitslosigkeit ohne Meldung beim Arbeitsamt bestanden hat; auch wenn die Meldung erst nach 6 Monaten Arbeitslosigkeit erfolgt ist, darf das nicht hindern, die Arbeitslosigkeit von da an als Ausfallzeit anzuerkennen. Problematisch erscheint ferner, ob die vom LSG gezogene Grenze in dem Fall einer fortdauernden Beschäftigung angemessen wäre, in dem der Arbeitgeber aus Mittellosigkeit (infolge Konkurses) keine Beiträge mehr entrichtet hatte.
Diese Überlegungen schließen freilich nicht aus, wenigstens in den Fällen der gescheiterten Selbsthilfe eine zeitliche Grenze für eine unschädliche Überbrückungszeit zu setzen. In dem am 8. März 1972 entschiedenen Fall hat der Senat einen Zeitraum von etwa 6 Monaten in Betracht gezogen und das damit gerechtfertigt, daß sich innerhalb einer solchen verhältnismäßig kurzen Zeitspanne erfahrungsgemäß stets überblicken lasse, ob der Versicherte Erfolg habe oder scheitern werde. Der Senat kann dahingestellt lassen, welche Zeit wohl Vorarbeiten der hier vorgenommen Art erfahrungsgemäß beanspruchen, bis sich abzeichnet, ob der Versicherte das erstrebte Ziel der erneuten versicherungspflichtigen Beschäftigung erreicht oder nicht. Da eine geringere Zeitspanne als etwa 6 Monate kaum in Betracht kommen dürfte, sieht der Senat jedenfalls keinen Anlaß, hier von einer anderen Zeitgrenze auszugehen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in der gesetzlichen Rentenversicherung eine Massenhaftigkeit von Sachverhalten für die Rechtsprechung Anlaß sein kann, sowohl zur Erleichterung der praktischen Rechtsanwendung als auch aus Gründen der Rechtssicherheit Maßstäbe mit festen Zeit- und Zahlenbegriffen zu entwickeln. Fälle gescheiterter Selbsthilfe, in denen ein unmittelbarer Anschluß der folgenden Arbeitslosigkeit an die vorangegangene versicherungspflichtige Beschäftigung unterstellt werden muß, sind jedoch bisher nicht in größerem Umfang bekannt geworden. Da die Rechtsprechung nicht ohne ausreichendes Anschauungsmaterial feste Größen entwickeln soll, muß es daher vorerst noch hingenommen werden, daß mit der bisher erwogenen Zeitspanne von etwa 6 Monaten die unschädliche Überbrückungszeit nicht immer exakt auf den Tag abgegrenzt wird; dem steht andererseits der Vorteil gegenüber, daß so den Besonderheiten der jeweiligen Einzelfälle Rechnung getragen werden kann. Wird aber für eine unschädliche Zeit gescheiterter Selbsthilfe ein Zeitraum von etwa 6 Monaten in Betracht gezogen, dann wird hiervon im vorliegenden Falle auch der Zeitraum vom 1. Juni 1951 bis 5. Dezember 1951 - ein Zeitraum von 6 Monaten und 5 Tagen - erfaßt, zumal wenn berücksichtigt wird, daß die Vorarbeiten insgesamt für eine Zeit von 7 Monaten vereinbart worden waren.
Da die übrigen Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG und auch die Halbdeckung nach § 36 Abs. 3 AVG unstreitig gegeben sind, müssen daher die Urteile der Vorinstanzen, soweit sie die Arbeitslosigkeit vom 6. Dezember 1951 bis 16. März 1957 betreffen, geändert werden. Die Beklagte ist verpflichtet, diese Zeit bei der Gewährung des Altersruhegeldes als Ausfallzeit anzurechnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; der Senat hat dabei berücksichtigt, daß der Kläger in den Vorinstanzen mit seinem weitergehenden Klagebegehren nicht durchgedrungen ist.
Fundstellen
Haufe-Index 1669150 |
NJW 1973, 671 |