Beteiligte
Bahnversicherungsanstalt Frankfurt |
Bahnversicherungsanstalt – Bezirksleitung Wuppertal – |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Juni 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der 1955 geborene Kläger übte nach Abbruch einer Lehre als Kfz-Lackierer verschiedene ungelernte bzw kurzfristig angelernte Tätigkeiten aus, zuletzt als Zugreiniger bei der Bundesbahn. Mit Bescheid vom 4. Mai 1993 gewährte ihm die Beklagte Rente wegen EU auf Zeit vom 1. Dezember 1992 bis 31. Dezember 1994. Seinen Antrag vom 2. Mai 1994 auf Weitergewährung der Rente lehnte die Beklagte nach entsprechenden medizinischen Ermittlungen ab (Bescheid vom 6. März 1995; Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 1995). Das Sozialgericht Köln (SG) hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 26. August 1997).
Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) dem Kläger mit Schreiben vom 11. Mai 1998 mitgeteilt, es werde erwogen, die Berufung gemäß § 153 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Beschluß des Senats ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, sofern die Berufsrichter des Senats sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hielten. Der Kläger hat dem mit Schreiben vom 8. Juni 1998 widersprochen, die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens angeregt und zur Begründung in der Anlage einen Arztbericht des St. Josef-Hospitals in T. vom 25. Juli 1997 beigefügt. Das LSG hat die Berufung des Klägers durch Beschluß vom 19. Juni 1998 zurückgewiesen und seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Kläger habe keinen Anspruch auf Weitergewährung der Rente wegen EU/BU. Insoweit werde auf die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 153 Abs 2 SGG Bezug genommen. Zutreffend sei das SG davon ausgegangen, daß der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei. Die medizinischen Sachverständigen seien übereinstimmend zu der Beurteilung gelangt, daß er noch körperlich leichte und teilweise sogar mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig ohne wesentliche weitere Einschränkungen ausüben könne. Im Berufungsverfahren seien demgegenüber keine neuen Tatsachen bekannt geworden. Insbesondere habe der Kläger trotz Aufforderung keinen Bescheid über eine angebliche Einstufung in eine „Pflegestufe 2” vorgelegt, so daß von einer solchen Einstufung nicht ausgegangen werden könne. Aus den auf Anregung des Klägers beigezogenen Akten des 16. Senats des LSG (L 16 Kr 93/97) hätten sich keine für den vorliegenden Rechtsstreit relevanten Gesichtspunkte ergeben. Auch aus dem Bericht der Rheinischen Kliniken B. vom 20. Januar 1998 sowie der Bescheinigung des Dr. M. vom 5. August 1997 seien keine Anhaltspunkte für eine dauerhafte Leistungseinschränkung des Klägers zu erkennen.
Dem mit Schriftsatz vom 8. Juni 1998 vorgelegten Arztbericht des St. Josef-Hospitals vom 25. Juli 1997 sei nicht zu entnehmen, daß der Kläger rückwirkend seit Januar 1997 erwerbsunfähig sei. Da die entsprechenden Ausführungen in diesem Bericht unter dem Gliederungspunkt „Anamnese” erfolgt seien, beruhten sie offensichtlich auf der eigenen Darstellung des Klägers. Im übrigen stehe der Annahme von EU ab Januar 1997 ua das Gutachten von Dr. S. entgegen, das dieser aufgrund einer Untersuchung des Klägers im Mai 1997 erstattet habe. Bei dieser Sachlage bestehe keine Veranlassung – wie vom Kläger angeregt – zur Einholung weiterer Gutachten.
Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§§ 62, 153 Abs 4 Satz 2 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫) sowie gegen § 103 SGG. Er trägt hierzu ua vor: Sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden. Die im Berufungsverfahren nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG erfolgte Anhörungsmitteilung vom 11. Mai 1998 sei seinem damaligen Prozeßbevollmächtigten erst am 8. Juni 1998 zugegangen. Selbst wenn man in dessen Schriftsatz vom selben Tage, mit dem ein Beweisantrag gestellt worden sei, einen konkludenten Verzicht auf angemessene Fristverlängerung erblicke, wäre eine weitere Anhörungsmitteilung erforderlich gewesen, da das LSG dem Beweisantrag nicht gefolgt sei. Der dem Beweisantrag beigefügte Bericht des St. Josef-Hospitals vom 25. Juli 1997 habe die bis dahin gegebene Prozeßsituation wesentlich verändert. Denn er erwähne über die bis dahin gestellten Diagnosen hinaus in seiner Therapieempfehlung, daß eine Arthrodese des linken Ellenbogengelenks erforderlich sei. Demgemäß sei die Durchführung einer operativen Versteifung dieses Gelenks für Oktober 1997 vorgesehen gewesen. Das LSG hätte mithin der Frage nachgehen müssen, ob eine Arthrodese tatsächlich erfolgt sei, und ggf des weiteren, ob sich daraus eine von den bisher eingeholten Gutachten abweichende Einschätzung des Restleistungsvermögens ergeben habe. Die Entscheidung des LSG beruhe auch auf dem gerügten Verfahrensfehler, weil die Möglichkeit bestehe, daß das Berufungsgericht nach entsprechenden weiteren Ermittlungen zu der Überzeugung gelangt wäre, ihm, dem Kläger, sei eine vollschichtige Tätigkeit nicht mehr zuzumuten.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beschluß des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19. Juni 1998 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält den Beschluß des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung begründet. Der Beschluß des LSG leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, der einer Sachentscheidung des erkennenden Senats entgegensteht.
Das LSG hat seine Entscheidung unter Verletzung des klägerischen Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) getroffen. Insbesondere hat es gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verstoßen.
Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG, außer in den Fällen des § 105 Abs 2 Satz 1 SGG, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 derselben Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Zwar hat das LSG den Kläger mit Schreiben vom 11. Mai 1998 zu einer möglichen Entscheidung durch Beschluß iS von § 153 Abs 4 Sätze 1 und 2 SGG gehört. Doch wäre – unabhängig von der Frage, ob diese Anhörung ordnungsgemäß war (vgl dazu etwa BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 7) – eine erneute Anhörung des Klägers erforderlich gewesen.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat mehrfach entschieden, daß im Verfahren nach § 153 Abs 4 SGG eine erneute Anhörung erforderlich wird, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozeßsituation entscheidungserheblich ändert. Das ist zB der Fall, wenn der Kläger auf die (erste) Anhörung hin einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung widerspricht und – auch ohne Stellung eines förmlichen Beweisantrages – ein Attest vorlegt, aus dem sich nach seiner Behauptung eine Verschlimmerung der Gesundheitsstörungen ergibt (BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 SB 7/98 R; vgl auch BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4; BSG, Urteil vom 28. Juli 1999 – B 9 SB 6/98 R; BSG, Urteil vom 24. Februar 2000 – B 2 U 32/99 R; Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 6. Aufl 1998, § 153 RdNr 20).
Auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat wiederholt entschieden, daß ein nach (erster) Anhörung erfolgtes neues Vorbringen zu einer Änderung der Prozeßlage in dem Sinne führen kann, daß im sog vereinfachten Berufungsverfahren eine erneute Anhörungsmitteilung zu ergehen hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 90/89 –, Buchholz 312 EntlG Nr 60; BVerwG, Urteil vom 28. August 1995 – 3 B 7/95 –, Buchholz 418.00 Ärzte Nr 91; BVerwG, Urteil vom 18. Juni 1996 – 9 B 140/96 –, Buchholz 310 § 130a VwGO Nr 16). Zur Begründung heißt es ua: Eine Mitteilung, daß auch nach Prüfung des neuen Vortrags durch die Berufsrichter des Berufungssenats am sog vereinfachten Berufungsverfahren festgehalten werde, habe den Sinn, dem Kläger zu ermöglichen, Beweisanträge, die er sonst in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll geben könne, bereits in diesem Stadium des Verfahrens zu stellen. Auf diese Weise werde das Berufungsgericht gezwungen, das weitere Ermittlungsverlangen des Klägers nochmals zu überprüfen, und dem Kläger im Falle der Ablehnung uU die Verfahrensrüge eröffnet.
Vorliegend geht der Kläger zu Recht davon aus, daß aufgrund seines Schreibens vom 8. Juni 1998 ein erneutes Anhörungsverfahren erforderlich wurde, wenn das LSG ohne weitere Ermittlungen nach wie vor durch Beschluß gemäß § 154 Abs 2 SGG entscheiden wollte. Denn mit dem genannten Schreiben hat er einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung widersprochen, die Einholung eines Sachverständigengutachtens – wenngleich ohne Nennung des Beweisthemas – angeregt und zur Begründung auf den als Anlage beigefügten Arztbericht des St. Josef-Hospitals vom 25. Juli 1997 verwiesen. Dort ist unter „Diagnose” vermerkt: „Posttraumatische Arthrose linker Ellenbogen, Zustand nach Arthroskopie linker Ellenbogen mit Debridement, partieller Synovketomie und Briden-Resektion vom 26. Juli 1996”. Als Therapie ist eine „Arthrodese linkes Ellenbogengelenk” vorgesehen; des weiteren ist als Termin für eine stationäre Aufnahme der 2. Oktober 1997 genannt. Die Bezugnahme auf diesen Arztbrief stellt sich als neues wesentliches Vorbringen des Klägers dar, das die bis dahin gegebene Prozeßsituation maßgebend verändert hat.
Rechtserheblich war dieses Vorbringen, weil sich – aus der sachlich-rechtlichen Sicht des Berufungsgerichts (vgl dazu BVerwG, Urteil vom 18. Juni 1996 – B 140/96 –, Buchholz 310 § 130a VwGO Nr 16) – durch die ärztlicherseits vorgesehene Arthrodese das für die Beurteilung von EU/BU bedeutsame Leistungsvermögen des Klägers (vgl §§ 43 Abs 2, 44 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) in relevanter Weise verändert haben konnte, da mit einer solchen Operation eine erhebliche Bewegungseinschränkung des Ellenbogengelenks einherzugehen pflegt (vgl insoweit auch BSG, Urteil vom 19. August 1997 – 13 RJ 57/96). Insoweit wäre auch nicht eine nur vorübergehende Leistungseinschränkung, sondern ein Dauerzustand anzunehmen. Zugleich könnte als Folge davon die Einsetzbarkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einschränkender, als geschehen, zu beurteilen gewesen sein.
Der Hinweis des LSG, der Vortrag des Klägers im Berufungsverfahren sei nicht geeignet, das überzeugende Beweisergebnis des erstinstanzlichen Verfahrens in Frage zu stellen führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar hat das LSG insoweit hervorgehoben, dem Arztbrief des St. Josef-Hospitals vom 25. Juli 1997 sei nicht zu entnehmen, daß der Kläger in die „Pflegestufe 2” einzustufen und rückwirkend ab Januar 1997 erwerbsunfähig sei, da beides unter der Überschrift „Anamnese” angegeben sei, weshalb diese Einschätzung auf den eigenen Angaben des Klägers beruhe und dieser im übrigen den Nachweis für eine Einstufung in die „Pflegestufe 2” schuldig geblieben sei. Doch reichen diese Ausführungen nicht aus, den Verzicht des LSG auf eine weitere Anhörungsmitteilung zu rechtfertigen. Denn zur Frage der Arthrodese und ihren möglichen Folgen für das Leistungsvermögen des Klägers hat das LSG nicht Stellung bezogen.
Das LSG durfte von einer weiteren Anhörungsmitteilung nicht auch deswegen absehen, weil der für die Arthrodese vorgesehene Termin zur Zeit der Abfassung des Arztberichtes (25. Juli 1997) noch in der Zukunft lag. Das vom Berufungsgericht durchgeführte (erstmalige) Anhörungsverfahren fand im Mai 1998 statt; der Beschluß des LSG erging im Juni 1998. Beide berufungsgerichtlichen Maßnahmen erfolgten mithin nach dem für Oktober 1997 vorgesehenen Operationstermin.
Ebensowenig war ein weiteres Anhörungsverfahren des LSG deshalb entbehrlich, weil der Kläger früheres Vorbringen bzw einen früher gestellten Beweisantrag lediglich wiederholt hätte (vgl BVerwG, Urteil vom 17. Juli 1998 – 1 B 73/98 –, Buchholz 130.0 RuStAÄndG Nr 3). Er hatte den entsprechenden Arztbericht bis dahin nicht vorgelegt und auf die vorgesehene Arthrodese nicht hingewiesen. Daß dieser Arztbericht dem LSG aus der beigezogenen Akte L 16 Kr 93/97 bekannt war, ist unerheblich, da die Notwendigkeit der Durchführung einer Arthrodese im Berufungsverfahren nicht thematisiert worden war.
Schließlich kann der angefochtene Beschluß des LSG auf dem Unterlassen einer erneuten Anhörung des Klägers beruhen (vgl allgemein dazu: Meyer-Ladewig, aaO, § 62 RdNr 11, § 160 RdNrn 20, 23 jeweils mwN). Es ist nicht auszuschließen, daß der Kläger im Fall einer weiteren Anhörungsmitteilung des Inhalts, das LSG wolle an seiner Absicht, eine die Berufung zurückweisende Entscheidung durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung zu treffen, festhalten, einen prozeßordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt hätte. In Konsequenz dessen ist denkbar, daß das LSG von seinem Vorhaben, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß zu entscheiden, Abstand genommen und eine Beweisaufnahme mit einem für den Kläger günstigen Ergebnis durchgeführt hätte.
Der erkennende Senat kann den berufungsgerichtlichen Verfahrensfehler wegen der fehlenden Möglichkeit eigenständiger Sachverhaltsaufklärung (vgl § 163 SGG) nicht selbst beheben. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Beschluß des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen