Leitsatz (amtlich)
Ein Arzt, der nach seinen ausdrücklichen, durch sein Verhalten bestätigten Erklärungen nicht bereit ist, sich in das geltende Kassenarztsystem einzufügen, insbesondere das Gebot der Wirtschaftlichkeit in seiner Behandlungs- und Verordnungsweise zu beachten, ist als Kassenarzt ungeeignet.
Leitsatz (redaktionell)
1. Fehlt dem Kassenarzt die Eignung zur Ausübung der Kassenpraxis, ist das Ermessen der Zulassungsinstanzen (RVO § 368a Abs 6) regelmäßig dahin eingeschränkt, daß die Zulassung entzogen werden muß.
2. Bei einer gröblichen Pflichtverletzung iS des RVO § 368a Abs 6 kommt es grundsätzlich nicht auf das Verschulden oder Nichtverschulden des Kassenarztes an; bei "Überzeugungstätern" ist kein anderer Maßstab anzulegen.
3. Eine über Jahre fortgesetzte und im Ausmaß immer mehr gesteigerte Verletzung des Wirtschaftlichkeitsgebots zerstört das Vertrauensverhältnis und bewirkt die Nichteignung des Kassenarztes für die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung.
Normenkette
RVO § 368a Abs. 6 Fassung: 1955-08-17
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 14. Mai 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, 1912 geboren, 1945 als praktischer Arzt zur Kassenpraxis zugelassen und seit 1953 in Heide/Holstein tätig, wendet sich gegen die am 26. Februar 1969 vom Zulassungsausschuß ausgesprochene und am 27. Juni desselben Jahres vom Berufungsausschuß bestätigte (und zugleich vollzogene) Entziehung der Kassenzulassung. Die Zulassungsinstanzen haben eine fortdauernde gröbliche Verletzung der kassenärztlichen Pflichten vor allem darin gesehen, daß der Kläger seit Jahren in steigendem Maße gegen das Gebot der wirtschaftlichen Behandlungs- und Verordnungsweise verstoßen habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und sich dabei, was die Wirtschaftlichkeit der vom Kläger in größerem Umfange ausgeführten enzymatischen Blutuntersuchungen betrifft, auf in anderen Verfahren erstattete Gutachten der Professoren W und K gestützt, die erhebliche Bedenken gegen die ungebührlich breit gestreute und übertrieben oft angewandte Laboratoriumsdiagnostik des Klägers geäußert hatten. Die Berufung, mit der der Kläger auch seinen schon vor dem SG erhobenen Schadensersatzanspruch weiter verfolgt hat, ist zurückgewiesen worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach eingehender Prüfung der zahlreichen, meist bis zur Revisionsinstanz geführten und ganz überwiegend erfolglos gebliebenen Honorarstreitigkeiten des Klägers, in denen es sich in der Regel um Kürzungen wegen ungewöhnlich hoher, nicht selten über das Zehnfache hinausgehender Überschreitungen der Durchschnittsfallwerte selbst internistischer Praxen gehandelt hatte, zusammenfassend festgestellt, der Kläger habe seine eindeutig unwirtschaftliche Behandlungsweise bis zum Zeitpunkt der Zulassungsentziehung "bewußt und konsequent" fortgesetzt und damit gröblich gegen seine kassenärztlichen Pflichten verstoßen. Diese Pflichtverletzung wiege um so schwerer, als sie "wegen ihrer Dauer, Intensität und Fixierung einer Pression gegen die Ordnung der gesetzlichen Krankenversicherung gleichkommt". Sein Gegensatz zur Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) sei so tief, daß eine Grundlage für die notwendige vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht mehr bestehe. Ihm fehle deshalb die Eignung als Kassenarzt; für disziplinarische Maßnahmen sei unter diesen Umständen kein Raum, vielmehr sei auch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Entziehung der Zulassung und deren sofortiger Vollzug geboten, der Schadensersatzanspruch unbegründet (Urteil vom 14. Mai 1971, dem Kläger zugestellt am 19. Januar 1972).
Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt, mit der er die Verletzung des § 368 a Abs. 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und der Art. 1 Abs. 1, 5 Abs. 1 und 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) rügt. Seiner Auffassung nach kann ein Kassenarzt, der, wie er selbst, mehr leiste als der Durchschnitt seiner Kollegen und nach den Regeln der ärztlichen Kunst notwendig wäre (und dessen Vergütung deshalb entsprechend gekürzt werde), seine Kassenarztpflichten nicht verletzen. Auch der Kassenarzt müsse nach den Geboten der Menschlichkeit handeln und dürfe keine Grundsätze, Vorschriften oder Anweisungen anerkennen oder beachten, die mit dieser Aufgabe nicht vereinbar seien.
Mit dem Versuch, ihm die Kassenzulassung zu entziehen, wolle die KÄV seinen Anspruch auf ärztliche Behandlungsfreiheit vereiteln und ihn unter ihre dirigistischen Prüfungs- und Behandlungsvorschriften beugen, die er nicht als Maxime seines Handelns anerkenne. Im übrigen sei selbst fortgesetzte Unwirtschaftlichkeit der Behandlung, die ihm indessen zu Unrecht vorgeworfen werde, kein Grund für die Entziehung der Kassenzulassung oder für disziplinarische Maßnahmen; allenfalls hätten Honorarkürzungen vorgenommen werden dürfen, eine Entziehung der Zulassung würde ihn dagegen übermäßig hart treffen und sei deshalb auch nach Art. 12 GG nicht zulässig. Schließlich hätten die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Entziehung nicht allein mit Verstößen gegen die Wirtschaftlichkeit der Behandlung begründen dürfen, nachdem die Zulassungsinstanzen ihre "Ermessensentscheidung" auch auf andere Gründe gestützt hätten. Der Kläger beantragt, alle Vorentscheidungen aufzuheben, den Zulassungsinstanzen Mutwillenskosten aufzuerlegen und sie zum Ersatz des ihm durch die Zulassungsentziehung entstandenen Schadens durch Gewährung einer zweijährigen Umsatzgarantie zu verurteilen sowie den Vollzug der Entziehungsentscheidung einstweilen auszusetzen, hilfsweise den Rechtsstreit bezüglich des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs an das zuständige Gericht zu verweisen.
Der beklagte Berufungsausschuß und die Beigeladenen beantragen, die Revision zurückzuweisen. Sie halten das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für zutreffend. Der Kläger habe seine kassenärztlichen Pflichten so schwer und vertrauenszerstörend verletzt, daß mit ihm keine vernünftige kassenärztliche Versorgung mehr durchgeführt werden könne. Als Kassenarzt sei er solange nicht tragbar, wie er ausdrücklich ablehne, sich auf den Boden des geltenden Kassenarztrechts zu stellen, vielmehr dessen Grundsätze bekämpfe, denen er sich durch seine Zulassung unterworfen habe.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, ist ihm die Zulassung zur Kassenpraxis mit Recht entzogen worden.
Nach § 368 a Abs. 6 RVO kann die Zulassung u.a. entzogen werden, wenn "der Kassenarzt seine kassenärztlichen Pflichten gröblich verletzt". Zu den kassenärztlichen Pflichten gehört auch, daß Leistungen, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, nicht bewirkt oder verordnet werden dürfen (§ 368 e RVO). Hiergegen hat der Kläger in den letzten Jahren ständig verstoßen, wie sich aus zahlreichen, vom LSG im einzelnen angeführten und auch dem Senat bekannten Urteilen ergibt, mit denen Honorarkürzungen, die von den Prüfungsinstanzen gegen den Kläger ausgesprochen wurden, in der Regel bestätigt worden sind. Die vom Kläger insoweit erhobenen, die Auslegung des Begriffs der Wirtschaftlichkeit betreffenden Einwände sind in diesem Stadium des Verfahrens nicht mehr zu beachten, die Rechtskraft der ergangenen Entscheidungen schließt eine nochmalige Überprüfung der Kürzungsmaßnahmen hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit aus.
Vielzahl und Umfang der Verstöße des Klägers gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot lassen seine Pflichtverletzungen auch als "gröblich" erscheinen. Dabei kann die Frage des Verschuldens, auf die es im Rahmen des § 368 a Abs. 6 RVO grundsätzlich nicht ankommt (vgl. Urteil des Senats in SozR Nr. 24 zu § 368 a RVO), ebenso unerörtert bleiben wie die weitere Frage, ob nicht bei einem "Überzeugungstäter" wie dem Kläger, der das geltende System der Wirtschaftlichkeitsprüfung aus prinzipiellen Gründen ablehnt, besondere Maßstäbe anzulegen wären. Auch eine Zulassungsentziehung wegen gröblicher Pflichtverletzung ist nicht Sanktion für strafwürdiges Verhalten, sondern eine Maßnahme der Verwaltung, die allein dazu dient, das System der kassenärztlichen Versorgung vor Störungen zu bewahren und damit funktionsfähig zu erhalten. Dieser Sicherungszweck kann u.U. die Entfernung solcher Ärzte erfordern, die lediglich objektiv gegen ihre Kassenarztpflichten verstoßen haben.
Auch eine gröbliche Pflichtverletzung rechtfertigt indessen eine Entziehung der Kassenzulassung - als dem letzten und schwersten, nicht selten die wirtschaftliche Existenz berührenden Eingriff in den Kassenarztstatus - nur, wenn die begangenen Verstöße den Arzt ungeeignet für die weitere Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung machen. Denn nur dann ist die Entziehung zur Sicherung der reibungslosen Versorgung der Versicherten notwendig, sind mithin disziplinarische Maßnahmen nach § 368 m Abs. 4 RVO oder - wenn die Verstöße, wie beim Kläger, das Wirtschaftlichkeitsgebot betreffen - Honorarkürzungen nach § 368 n Abs. 4 oder 5 RVO nicht ausreichend. Nur dann entspricht die Entziehung auch dem - Verfassungsrang genießenden - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der insbesondere im Bereich der grundrechtlich verbürgten Berufsfreiheit zu beachten ist.
Ob ein Kassenarzt durch eine gröbliche Pflichtverletzung seine Eignung verloren hat, wird in der Regel davon abhängen, ob das Vertrauensverhältnis zur KÄV und den Krankenkassen so schwer gestört ist, daß diesen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Arzt nicht zugemutet werden kann, er also für sie - jedenfalls auf Zeit - untragbar geworden ist (BSG 15, 183 f). In diesem Zusammenhang können auch subjektive Momente im Fehlverhalten des Arztes Bedeutung gewinnen, wenn sie, wie etwa bei Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung, seine allgemeine Vertrauenswürdigkeit berühren, oder, wie beim Kläger, seinen Willen zur Erfüllung der ihm als Kassenarzt obliegenden Pflichten in Frage stellen. Andererseits gilt für den Verlust der Eignung als Kassenarzt das gleiche wie für den oben erörterten Begriff der gröblichen Verletzung kassenärztlicher Pflichten; beide setzen nicht notwendig den Nachweis eines vorwerfbaren Verhaltens voraus, sondern können auch bei nur objektiver Gefährlichkeit des Verhaltens vorliegen. Im Falle des Klägers treffen ein subjektives und ein objektives Moment zusammen: Eine nicht nur kritische, sondern scharf ablehnende Haltung gegenüber dem von ihm bekämpften Kassenarztsystem, soweit es eine im Gesetz vorgesehene Wirtschaftlichkeitsprüfung im Sinne der §§ 368 e, 368 n RVO einschließt, und zugleich eine aktive Betätigung dieser negativen Grundeinstellung durch eine seit Jahren fortgesetzte, in ihrem Ausmaß immer mehr gesteigerte Verletzung des Wirtschaftlichkeitsgebotes in der eigenen Kassenpraxis. Daß sich der Kläger dabei - trotz vielfacher Belehrungen durch die Prüfungsinstanzen, die Gerichte und, soweit es sich um rein medizinische Fragen handelt, mehrere Professorengutachten - von seinen irrigen Überzeugungen nicht hat freimachen können, weil er möglicherweise in einer Art von "Rechtsblindheit" befangen ist, entlastet ihn nicht. Denn oberste Richtschnur für die Entscheidung darüber, ob ein Arzt als ungeeignet aus der Kassenpraxis zu entfernen ist, kann nur das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung einer geordneten Versorgung der Versicherten sein. Diese wird aber durch einen Arzt wie den Kläger ebenso gefährdet wie etwa durch einen Arzt, der vorsätzlich oder fahrlässig gegen seine Pflicht zu gewissenhafter Abrechnung der Leistungen verstößt. Wer, wie der Kläger, nach seinen ausdrücklichen, durch sein Verhalten bestätigten Erklärungen nicht bereit ist, sich in das geltende Kassenarztsystem einzufügen, insbesondere das Gebot der Wirtschaftlichkeit in seiner Behandlungs- und Verordnungsweise zu beachten, ist als Kassenarzt ungeeignet und kann deshalb nicht Kassenarzt werden oder bleiben.
Dem Kläger ist somit die Kassenzulassung wegen mangelnder Eignung zu Recht entzogen worden. Daß sein Eignungsmangel in den Entziehungsanträgen des beigeladenen Landesverbandes der Ortskrankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung auch noch mit anderen Tatsachen begründet worden ist und diese Tatsachen vom Zulassungsausschuß in seinem Beschluß mitverwertet worden sind - der Berufungsausschuß hat sie dagegen nur beiläufig erwähnt -, hat die Gerichte nicht gehindert, ihre Entscheidung allein auf die Verstöße gegen die Wirtschaftlichkeit zu stützen. Wie der Senat schon entschieden hat, ist in Fällen, in denen dem Kassenarzt die Eignung zur Ausübung der Kassenpraxis fehlt, das Ermessen der Zulassungsinstanzen (§ 368 a Abs. 6 RVO) regelmäßig dahin eingeschränkt, daß die Zulassung entzogen werden muß (BSG 28, 80, 83). Ein solcher Fall liegt auch hier vor; Umstände, die es ausnahmsweise rechtfertigen könnten, von der Entziehung der Zulassung trotz fehlender Eignung des Klägers abzusehen, sind nicht erkennbar. Eine anderweitige Ermessensentscheidung der Zulassungsinstanzen kommt deshalb nicht in Betracht.
Unbegründet ist schließlich der vom Kläger neben der Anfechtungsklage erhobene, mit der vermeintlichen Unrechtmäßigkeit der Entziehung begründete Ersatzanspruch. Mit ihm will der Kläger erreichen, daß die wirtschaftlichen Nachteile, die für ihn durch den vom Berufungsausschuß angeordneten Vollzug der Entziehung eingetreten sind, wieder rückgängig gemacht werden. Als sogenannter Folgenbeseitigungsanspruch unterliegt er ebenfalls der Entscheidung der Sozialgerichte (vgl. § 131 Abs. 1 SGG und Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Auflage, § 40 Rand-Nr. 94). Die Bestätigung der angefochtenen Zulassungsentziehung erweist zugleich den Ersatzanspruch des Klägers als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1669305 |
BSGE, 252 |