Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der in diesem Verfahren angefochtene Bescheid der Beklagten vom 22. April 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 1980, durch welchen die dem Kläger wegen einer Berufskrankheit (BK) gewährte Rente entzogen wurde, deshalb rechtswidrig ist, weil er dem Kläger früher als im vorletzten Monat des Schutzjahres zugestellt wurde.
Der Kläger bezog wegen eines am 6. Juni 1977 eingetretenen Versicherungsfalles vorläufige Verletztenrente in Höhe von 25 v. H. der Vollrente (Bescheid vom 28. März 1978). In seinem aufgrund einer Untersuchung am 20. Februar 1980 erstatteten Gutachten kam der von der Beklagten gehörte Sachverständige zu dem Ergebnis, daß die BK ausgeheilt sei. Nach der im März 1980 durchgeführten Anhörung des Klägers entzog die Beklagte die Verletztenrente durch ihren am 23. April 1980 zur Post gegebenen Bescheid vom 22. April 1980 mit Ablauf des Monats Juni 1980. Den Widerspruch des Klägers wies sie zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben, weil er frühestens in dem Kalendermonat hätte zugehen dürfen, der dem Monat vorausging, mit dessen Ablauf die Rentenentziehung wirksam wurde, also im Mai 1980 (Urteil vom 22. April 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. Oktober 1983). Zwar werde das Urteil des SG durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gestützt, welche eine vorzeitige Beunruhigung, des Verletzten habe vermeiden wollen. Dieser Rechtsprechung, sei jedoch durch die Einführung der Anhörung des Verletzten im Verwaltungsverfahren die Grundlage entzogen worden. Die Anhörung schaffe mit der Bekanntgabe des beabsichtigten Vorgehens des Versicherungsträgers den Zustand der Unsicherheit, welcher durch die Erteilung des Bescheides beseitigt werde, so daß der Bescheid möglichst bald nach der Anhörung zugehen sollte. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach seiner Auffassung hat die Beklagte die in § 622 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) festgelegte einjährige Schutzfrist nicht eingehalten. Diese bestehe trotz Einführung der Anhörungspflicht im Sozialgesetzbuch (SGB) unverändert weiter und habe mit ihr nichts zu tun. Die in der Rechtsprechung zum Zeitpunkt der Bekanntgabe belastender Verwaltungsakte herausgearbeiteten rechtlichen Erwägungen treffen nach Meinung des Klägers nach wie vor zu.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 18. Oktober 1983 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 22. April 1982 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Durch die vorgeschriebene Anhörung im Verwaltungsverfahren werde eine unnötige Überraschung des Verletzten vermieden. Die Anhörung müsse, damit sie ihren Zweck erreiche, frühzeitig durchgeführt werden. Damit verursache der Bescheid selbst keine vermeidbare vorzeitige Beunruhigung mehr. Im übrigen führe die Verletzung von Formvorschriften allenfalls zur Aufhebbarkeit eines Bescheides, jedoch nicht zu seiner Nichtigkeit.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist dem Kläger nicht zu früh zugestellt worden.
Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und den Senat daher bindenden tatsächlichen Feststellungen im Urteil des LSG ist die BK des Klägers ausgeheilt. Demzufolge hängt die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 22. April 1980 davon ab, ob dieser Bescheid bereits im April 1980 zugestellt werden durfte. Das ist nach der Überzeugung des erkennenden Senats der Fall.
Nach § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO wurde die dem Kläger gewährte vorläufige Verletztenrente "mit Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall" - also ab 7. Juni 1979 - zur Dauerrente. Eine Dauerrente kann gem. Satz 2 dieser Vorschrift nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden. Das bedeutet indes nicht, daß die Beklagte erst nach Ablauf des Schutzjahres, also erst im Juni 1980, einen die Rente entziehenden Bescheid hätte erteilen dürfen. Hiervon sind auch weder das SG noch der Kläger ausgegangen. Vielmehr ist § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO als eine dem Schutz des Rentenbezuges dienende Vorschrift anzusehen und dahin zu verstehen, daß eine Dauerrente frühestens nach einjährigem Bezug herabgesetzt oder entzogen werden darf. Diese "materielle Auffassung" (RVA AN 1911, 447) ist in der Rechtsprechung stets vertreten worden (RVA aaO und EuM 22, 9, 10; BSGE 32, 215, 217; BSG SozR RVO § 622 Nrn. 7 und 9; s. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl., S. 585; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 622 Anm. 5 Buchst. a; Bereiter-Hahn/Schieke/ Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 622 RdNr. 2).
Die Beklagte durfte somit den angefochtenen Bescheid vor dem Ablauf des Schutzjahres im Juni 1980 erteilen; denn nach § 623 Abs. 2 RVO wird die Entziehung der Rente erst mit dem Ablauf des auf die Zustellung des Bescheides folgenden Monats wirksam. Demzufolge ist der Versicherungsträger, welcher beim Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die Dauerrente nur für die Dauer des Schutzjahres - ggf. in der festgestellten Höhe - belassen will, gehalten, den Verletzten in dem Monat zu bescheiden, der dem letzten Monat des Schutzjahres vorangeht (BSGE 32, 215, 217).
Zutreffend haben SG und LSG beachtet, daß der im Hinblick auf § 623 Abs. 2 RVO notwendige Zeitraum für die Erteilung eines Herabsetzungs- oder Entziehungsbescheides zum Ende des Schutzjahres vom BSG zugleich als "äußerste Grenze für die Zustellung des Herabsetzungs- oder Entziehungsbescheides während des Laufes des Schutzjahres" angesehen worden ist, um eine unnötige frühe Beunruhigung des Rentenbeziehers zu vermeiden (BSGE 32, 215, 217). Bei Anwendung dieses Rechtsgrundsatzes hätte die Beklagte ihren Entziehungsbescheid dem Kläger folglich nicht schon Ende April 1980, sondern vielmehr erst im Mai 1980 erteilen dürfen, weil das Schutzjahr für den Bezug der Dauerrente, wie oben dargelegt, erst Ende Juni 1980 endete.
Diese Rechtsprechung beruhte auf dem gesetzgeberischen Grundgedanken für die Einführung des Schutzjahres, wonach der Rentenempfänger während der Schutzzeit nicht "in beständige Unruhe versetzt werden" sollte (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1898/1900, Band 175 S. 3057, zitiert u.a. in RVA AN 1911, 447). Diesem Zweck des Gesetzes hat das Reichsversicherungsamt (RVA) von Anfang an dadurch Nachdruck verliehen, daß es die Erteilung eines neuen Bescheides "etwa zu jeder Zeit'' des Sperrjahres (RVA AN 1911, 447, 448) für unzulässig hielt und schließlich nur in engen zeitlichen Grenzen ermöglichte (RVA AN 1913, 691, 693). Diese Rechtsprechung hat das BSG, wie dargelegt, fortgeführt, ohne dabei zu verkennen, daß der Verletzte bereits durch die notwendigen Vorkehrungen für den rechtzeitigen Erlaß eines Herabsetzungs- und Entziehungsbescheides zum Ende des Schutzjahres betroffen und beunruhigt sein würde (BSGE 27, 244, 246/247).
Das LSG hat überzeugend dargelegt, daß durch die Festlegung eines Anhörungsrechtes zunächst in § 34 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) und nunmehr in § 24 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) eine veränderte Bewertung der Stellung des Berechtigten im Verwaltungsverfahren realisiert ist. Danach ist dem Berechtigten rechtzeitig vor Erlaß eines belastenden Verwaltungsaktes Gelegenheit zu geben, sich zu den für die beabsichtigte Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Die dem Anspruch auf rechtliches Gehör nachgebildete Berechtigung (BSG SozR 1300 § 24 Nr. 4) des am Verwaltungsverfahren Beteiligten soll seine Einflußnahme auf die beabsichtigte Entscheidung ermöglichen (BSGE 44, 207, 211). Sie ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für die Stellung des Betroffenen im Verwaltungsverfahren bedeutsamer als sein auch heute grundsätzlich noch schutzwürdiger Anspruch auf Unterlassung unnötiger vorzeitiger Beunruhigung durch den Versicherungsträger vor Ablauf des Schutzjahres. Diese vom Gesetzgeber vorgenommene Wertung erfordert zur Sicherung der rechtmäßigen Anhörung nicht nur regelmäßig früher als bisher die Einleitung der für die Neufeststellung der Rente erforderlichen Ermittlungen. Auch die Mitteilung der für die beabsichtigte Entscheidung erheblichen Tatsachen wird in der Regel früher als im vorletzten Monat des Schutzjahres geboten sein, da anschließend eine nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles zu bestimmende angemessene Zeit sowohl für den Betroffenen zur Äußerung als auch für den Versicherungsträger gegeben sein muß, um die Äußerung des Betroffenen vor der Entscheidung zu berücksichtigen, was gegebenenfalls erforderliche weitere Ermittlungen einschließt. Die Mitteilung der für die beabsichtigte Entscheidung maßgebenden Tatsachen, deren Zeitpunkt - wie dargelegt - sich nach den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalles richtet und regelmäßig früher als im vorletzten Monat des Schutzjahres liegt, führt jedoch in den Fällen einer in Betracht kommenden Rentenminderung zu der vor Inkrafttreten des § 34 SGB I a.F. und § 24 SGB X erst mit dem Bescheid eingetretenen, für die bisherige Rechtsprechung maßgebenden Beunruhigung des Versicherten. Der Bescheid beendet, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, u.a. die durch die Anhörung bedingte Ungewißheit des Berechtigten. Seine Erteilung im nahen Anschluß an die Anhörung steht daher im Einklang mit Sinn und Zweck des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO i.V.m. § 24 SGB X. Da die Beklagte den Kläger angehört und die Dauerrente bis zum Ende des Schutzjahres belassen hat, ist die Rentenentziehung durch Zustellung des Bescheides etwa 9 Wochen vor Ablauf der Schutzfrist nicht rechtswidrig.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 518476 |
BSGE, 192 |