Leitsatz (amtlich)
Ein Facharbeiter (Autoschlosser), der seine bisherige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten kann und deswegen innerhalb seines Betriebes in eine Sonderwerkstatt für leistungsgeminderte Arbeitnehmer versetzt worden ist, jedoch aufgrund einer tarifvertraglichen Regelung - unabhängig von der Art seiner Tätigkeit - den vollen Facharbeiterlohn weitererhält, ist nicht berufsunfähig.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
SG Ulm (Entscheidung vom 21.10.1976; Aktenzeichen S 2 J 1396/74) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21. Oktober 1976 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahr 1918 geborene Kläger erlernte das Autoschlosserhandwerk, legte im Jahr 1937 die Gesellenprüfung ab und arbeitete seit 1946 bei der Firma K bzw M AG in Ulm als Schlosser und Rohrbieger. In den Jahren 1971/72 erhielt er einen Lohn nach Lohngruppe 10 des Lohnrahmentarifvertrages für die Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden (Facharbeiten, die außer umfangreichen Berufskenntnissen und einer mehrjährigen Berufserfahrung auch noch ein betriebliches Spezialwissen voraussetzen). Im September 1972 erlitt er einen Herzinfarkt. Seitdem kann er keine schwere Arbeit, sondern nur noch leichtere Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen verrichten. Die Arbeitgeberin versetzte ihn zum 1. Dezember 1974 in die Sonderwerkstatt des Betriebes für leistungsgeminderte Mitarbeiter, und zwar zunächst auf einen sogenannten Springerplatz, dessen Tätigkeit er jedoch nicht ausübte; tatsächlich wurde er in der Sonderwerkstatt mit einfachen, leicht und schnell zu erlernenden und keinen besonderen körperlichen Einsatz verlangenden Helfertätigkeiten der Lohngruppe 5 beschäftigt, die ua Arbeiten umfaßt, die eine Anlernzeit von 10 bis 12 Wochen erfordern. In Ausführung des § 9.1 des Manteltarifvertrages für die Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden vom 20. Oktober 1973 zahlte sie ihm weiterhin den Lohn der Gruppe 10 (1.918,10 DM monatlich im Jahr 1975). Diese Vorschrift lautet:
Arbeitnehmer, die im 55. Lebensjahr stehen oder älter sind und dem Betrieb oder Unternehmen wenigstens 1 Jahr lang angehören, haben Anspruch auf den Verdienst, der aus dem Durchschnittsverdienst der letzten 12 voll gearbeiteten Kalendermonate errechnet wird.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Bescheid vom 5. August 1974 ab. Das Sozialgericht (SG) Ulm hat mit Urteil vom 21. Oktober 1976 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kläger sei auf die neue Tätigkeit in der Sonderwerkstatt zu verweisen, da es sich jedenfalls nicht um eine Tätigkeit einfachster Art handele und da er weiterhin den Facharbeiterlohn erhalte.
Mit der vom SG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt vor: Er könne auf die jetzige Tätigkeit nicht verwiesen werden, da diese weder ein Anlernberuf sei noch einem solchen nach der tariflichen Entlohnung gleichstehe. Daß er den früheren Lohn weitererhalte, sei für die Verweisung ohne Bedeutung, da es sich nur um eine Einkommenssicherung für ältere Arbeitnehmer handele, die dem Wert der Arbeit objektiv nicht entspreche, sondern nur vergönnungsweise gewährt werde. Er beantragt,
das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. August 1974 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. September 1973 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen.
Hilfsweise beantragt er,
eine Entscheidung des Großen Senats zur Verweisbarkeit von Facharbeitern herbeizuführen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Auf ihren Schriftsatz vom 29. Juni 1977 wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das SG hat zutreffend den angefochtenen Bescheid als rechtmäßig angesehen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, da er noch nicht berufsunfähig im Sinn von § 1246 Abs 2 RVO ist.
Die Erwerbsfähigkeit des Klägers mag durch den Herzinfarkt und seine Folgen herabgesunken sein, jedoch nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen einer gesunden Vergleichsperson. Denn der Kläger kann durch seine Tätigkeit in der Sonderwerkstatt noch den vollen Lohn seines bisherigen Berufs erzielen. Die Arbeit in der Sonderwerkstatt entspricht seinen - noch verbliebenen - Kräften und Fähigkeiten, wie das SG festgestellt hat, ohne daß in bezug auf diese Feststellungen Revisionsgründe vorgebracht sind. Der Streit geht lediglich darum, ob diese Arbeit dem Kläger auch subjektiv zugemutet werden kann. Das ist jedoch mit dem SG zu bejahen.
Dabei mag hier dahinstehen, ob die Arbeit in der Sonderwerkstatt als Hilfsarbeitertätigkeit einfachster Art oder - wie das SG andeutet - als Hilfsarbeitertätigkeit, die ein kurzes Anlernen erfordert, zu beurteilen ist. Weiter kann die Rechtsfrage unbeantwortet bleiben, ob ein Facharbeiter auch auf solche ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden kann, die sich durch besondere Qualifikationsmerkmale aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervorheben, wofür ua die tarifliche Einstufung einen wichtigen Anhaltspunkt gibt (Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - vom 11. Juli 1974 - 4 RJ 19/74 -, 6. Februar 1976 - 4 RJ 125/75 -, SozVers 1976, 188, und 26. April 1977 - 4 RJ 93/76 -), oder nur auf diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Bedeutung für den Betrieb mindestens wie ein sonstiger Ausbildungsberuf tariflich bewertet werden (Urteile des BSG vom 26. September 1974 - 5 RJ 98/72 - BSGE 38, 153, 154 = SozR 2200 § 1246 Nr 4 und vom 29. Juni 1977 - 5 RJ 132/76 -). Denn zu den subjektiv zumutbaren Tätigkeiten (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO) gehören auch diejenigen, die in einer Sonderwerkstatt des Betriebes für in der Leistungsfähigkeit eingeschränkte Mitarbeiter zum vollen Lohn in der Tarifgruppe des bisherigen Berufs verrichtet werden, wenn die Fortzahlung des früheren Lohnes auf einer Bestimmung des Tarifvertrages beruht. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen.
Die subjektive Zumutbarkeit einer Verweisung hängt nicht allein vom "Sozialprestige" oder von dem Ansehen, das der bisherige Beruf und der Verweisungsberuf in der Gesellschaft genießen, ab. Bei der Prüfung der Verweisbarkeit können auch sonstige Gesichtspunkte berücksichtigt werden (BSGE 9, 254, 258). Dabei ist die Lohnhöhe von wesentlicher Bedeutung. Das hat das BSG in mehreren Entscheidungen ausgesprochen. Nach einem Urteil des 5. Senats ist ein Anhaltspunkt für soziale Bestimmungsgrößen in der Höhe und in der Sicherheit des Arbeitseinkommens zu sehen (BSGE 17, 191, 195, Handwerker im Bergbau über Tage). Der erkennende Senat hat allgemein die Höhe der Entlohnung in Rechnung gestellt (BSGE 24, 221, 223, Hilfsarbeiter) und in einem zurückverweisenden Urteil eine Untersuchung darüber verlangt, ob sich in den Arbeitseinkünften des Klägers der Wert der erbrachten Leistungen und das soziale Ansehen abgezeichnet haben (BSGE 29, 96, 98, Hafenschiffer). Nach neueren Urteilen des 5. Senats ist die tarifliche Einstufung das wichtigste Indiz für die Beurteilung der betrieblichen Bedeutung eines Berufs (BSGE 31, 106, 108, Oberfeuerwehrmann auf einer Zeche, ähnlich vorher schon in BSGE 25, 186, 189, Reparaturhauer; BSGE 38, 153, 156, Maurer). In einer anderen Entscheidung dieses Senats wird ausgeführt, ein Versicherter könne nicht oder nicht mehr als berufsunfähig angesehen werden, wenn das Entgelt aus der von ihm verrichteten Nichtverweisungstätigkeit kraß das Entgelt übersteige, das ein gesunder Versicherter gleicher Art mit der Verrichtung der bisherigen Tätigkeit des Versicherten tariflich verdienen würde (SozR Nr 103 zu § 1246 RVO, Aa 102 Rs, Betriebsmaurer). Unter Hinweis auf dieses Urteil hat der 1. Senat entschieden, in einem solchen Fall fehle es von vornherein an der vom Gesetz vorausgesetzten sozialen Betroffenheit des Versicherten, der das Gesetz mit der Gewährung jeder Rente wegen Berufsunfähigkeit allein entgegenwirken wolle, nämlich die infolge einer gesundheitsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) eintretende Minderung des Erwerbseinkommens wenigstens zum Teil auszugleichen (Urteil vom 19. Juni 1973 - 1 RA 263/72 -, blinder Justizamtmann).
Der Unterschied im sozialen Ansehen zwischen Verweisungsberuf und bisherigem Beruf mag dann von entscheidender Bedeutung sein, wenn jener mit einem geringeren Lohn verbunden ist als dieser. Ist es umgekehrt, bezieht also der Versicherte im - geringerwertigen - Verweisungsberuf einen höheren Lohn als im bisherigen Beruf, kommt es auf das Sozialprestige nicht an. Liegt der Fall schließlich - wie beim Kläger - so, daß der Lohn in der früheren und in der jetzigen Tätigkeit gleich hoch ist, kann zwar die bloße "Nichtschlechterstellung" den nach dem Gesetz zwingend zu berücksichtigenden Unterschied in der Ausbildung in der Regel nicht ausgleichen (BSGE 24, 7, 12, Textilingenieur - Postoberschaffner); gleichwohl können besondere Umstände - wie sie hier vorliegen - die neue Tätigkeit als zumutbar erscheinen lassen.
Insofern ist zunächst zu berücksichtigen, daß der Kläger in einer vom Betrieb für leistungsgeminderte Arbeitnehmer eingerichteten Sonderwerkstatt tätig ist, die, allen Arbeitskollegen erkennbar, für die "Veteranen" des Betriebes bestimmt ist, das Ergebnis betrieblicher Fürsorge darstellt und nicht nur für den Kläger, sondern allgemein für nicht mehr voll arbeitsfähige Arbeitnehmer bereitsteht. Zum anderen - und diesen Umstand hält der Senat für besonders wichtig - beruht die Zahlung des "alten" Tariflohnes nicht auf einem persönlichen Entgegenkommen des Arbeitsgebers, erfolgt also nicht, wie der Kläger zu meinen scheint, "vergönnungsweise", sondern aufgrund eines Rechtsanspruchs, was im übrigen auch darauf hindeutet, daß die Sonderwerkstatt oder ähnliche Einrichtungen normale Stationen des Arbeitslebens sind. Dabei wird auf den alten Tariflohn nicht, wie in anderen Tarifverträgen, eine Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit ganz oder teilweise angerechnet. Gerade aus der tariflichen Einstufung ergibt sich, daß der Kläger und die ihm gleichstehenden Arbeitnehmer nicht etwa nur einen Zuschuß zu dem an sich verdienten Lohn (der Gruppe 5), sondern weiterhin den alten Tariflohn (der Gruppe 10) - gewissermaßen in Fortwirkung einer in der Regel langjährigen Beschäftigung und des in dieser Zeit erworbenen sozialen und beruflichen Ansehens - beziehen, so daß ihnen damit ihr sozialer Besitzstand im Kern erhalten bleibt, jedenfalls nicht wesentlich geschmälert wird.
Ist aber für den Kläger mit der Beschäftigung in der Sonderwerkstatt - vor allem wegen des weitergezahlten Facharbeiterlohnes - ein wesentlicher sozialer Abstieg nicht verbunden, so muß er sich auf diese Tätigkeit verweisen lassen. Ein Fall der "sozialen Betroffenheit" liegt bei ihm nicht vor. Ein Rentenanspruch besteht deshalb zur Zeit nicht.
Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen.
Der Senat hat keinen Anlaß gesehen, eine Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen. Weder weicht der Senat von einer Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats ab noch erfordert hier die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Anrufung des Großen Senats.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1651100 |
BSGE, 267 |