Entscheidungsstichwort (Thema)
Überweisung eines Unternehmens an eine andere Berufsgenossenschaft wegen Änderungen in der Unternehmensstruktur. Überraschungsentscheidung. rechtliches Gehör
Leitsatz (amtlich)
Zur berufsgenossenschaftlichen Zuständigkeit, wenn zwei Unternehmen, die verschiedenen Berufsgenossenschaften angehören, fusionieren und ein Gesamtunternehmen bilden.
Orientierungssatz
Zur Frage der Überraschungsentscheidung und der Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil das Urteil des LSG den tatsächlichen Verhandlungslauf und die dabei erfolgten (rechtlichen) Hinweise und Erörterungen des LSG nicht wiedergebe; deshalb die Beklagte sich nicht zu den nunmehr im Urteil niedergelegten rechtlichen Erwägungen des LSG habe äußern können.
Normenkette
RVO § 667 Abs. 1 S. 1, § 664 Abs. 3, § 647 Abs. 1 S. 1, § 668 Abs. 1; SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Darmstadt (Entscheidung vom 19.08.1986; Aktenzeichen S 3 U 90/83) |
Hessisches LSG (Entscheidung vom 24.01.1990; Aktenzeichen L 3 U 1326/86) |
Tatbestand
Streitig ist, ob das Unternehmen der Klägerin wegen grundlegender Änderungen in der Unternehmensstruktur von der Großhandels- und Lagerei-Berufsgenossenschaft (Beklagte) an die Berufsgenossenschaft (BG) der chemischen Industrie (Beigeladene) zu überweisen ist.
Die Klägerin hat ihren Sitz in D und ist seit dem 20. Juni 1950 mit einem "Handel mit haarkosmetischen Erzeugnissen, Geräten und Einrichtungen" im Betriebsverzeichnis der Beklagten als Mitglied geführt. Die Mitgliedschaft umfaßte ursprünglich die Verwaltungs- und Handelszentrale in D . Hinzu kamen später die Verkaufsniederlassungen im gesamten Bundesgebiet, das Zentrallager in W , das Entwicklungslabor in D sowie die Niederlassung "W " in K (die sich mit der Herstellung und dem Verkauf von Friseurtechnik und Friseureinrichtungen befaßt). Bis 1971 war Gegenstand des Unternehmens der Vertrieb fast ausschließlich der Produkte der O GmbH, H , deren Gesellschaftsanteile derselben Familie wie die Aktien der Klägerin gehörten. Die O GmbH stellte im wesentlichen haarkosmetische Erzeugnisse und in geringem Umfang Geräte für die Haarpflege her. Sie ist seit dem Jahre 1951 Mitglied der Beigeladenen.
Im Jahre 1972 fusionierte die Klägerin mit der O GmbH, deren Betrieb gleichzeitig in die Form einer Zweigniederlassung mit der Bezeichnung "O , Zweigniederlassung der W AG" überführt wurde. Nach der Verschmelzung der beiden Firmen wurden in der Zweigniederlassung weiterhin kosmetische Erzeugnisse und Geräte für die Haarpflege hergestellt. Anläßlich der Fusion wurde der Geschäftszweck der Klägerin geändert. Gegenstand des Unternehmens ist nach § 2 der Satzung idF vom 13. Juli 1972 seitdem der "Betrieb einer chemischen und technischen Fabrik; die Herstellung und der Vertrieb von chemischen, pharmazeutischen und kosmetischen Waren; die Herstellung und der Vertrieb von Apparaten, Geräten und Maschinen aller Art sowie Kunststofferzeugnissen; der Betrieb eines allgemeinen Ein- und Ausfuhrgeschäftes."
Erstmals mit Schreiben vom 7. September 1972 an die Beklagte und die Beigeladene wies die Klägerin darauf hin, daß infolge der Fusion nunmehr Produktion und Vertrieb in einem einheitlichen Unternehmen zusammengefaßt seien. Sie - die Klägerin - betreibe nunmehr keinen Großhandel mehr, sondern vertreibe ausschließlich die von ihr selbst hergestellten Erzeugnisse. Zugleich bat sie die beteiligten BGen, sich untereinander abzustimmen, welcher BG sie künftig angehören werde. Daraufhin teilte die Beklagte der Klägerin mit, durch die Fusion sei keine grundlegende Änderung des Unternehmens eingetreten; für die Zweigniederlassung in H bleibe die Beigeladene und für die Verkaufszentrale in D sie - die Beklagte - zuständig (Schreiben vom 12. September 1972). Die Beigeladene ihrerseits stimmte dieser Auffassung zu (Schreiben vom 22. Oktober 1972). Daraufhin teilte die Klägerin der Beklagten mit Schreiben vom 14. Dezember 1972 mit, es bleibe die Frage offen, bei welcher BG die fusionierten Betriebsteile der Ex-W AG und der Ex-O GmbH Mitglied seien. Da die Umordnung des Unternehmens noch nicht abgeschlossen sei, wolle man es erst bei der von den beteiligten BGen vertretenen Auffassung belassen. Sobald die Firmenorganisation ihre endgültige Form gefunden habe, werde man sich wieder mit der Beklagten ins Benehmen setzen.
Mit Schreiben vom 14. Januar 1983 beantragte die Klägerin, sie zum nächstmöglichen Termin an die Beigeladene zu überweisen und wies zur Begründung auf die strukturellen und organisatorischen Veränderungen im Unternehmen hin. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 9. Juni 1983 ab. Sie führte aus, bei der Klägerin seien keine strukturellen oder organisatorischen Veränderungen eingetreten, die versicherungsrechtlich eine andere berufsgenossenschaftliche Zugehörigkeit zur Folge hätten. Die bei ihr versicherten Betriebe der Klägerin hätten nach wie vor gleiche Aufgaben und Funktionen wie andere Großhandelsbetriebe. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. August 1983).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. August 1986). Der Überweisungsanspruch nach § 667 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nicht begründet, weil eine wesentliche Änderung in den Betriebsverhältnissen der Klägerin nicht eingetreten sei. Eine wesentliche Änderung könne zwar auch in grundlegenden und nachhaltigen Veränderungen der Betriebsstruktur gesehen werden; eine solche sei jedoch auch durch die Fusion mit dem früher selbständigen Herstellerbetrieb O GmbH nicht eingetreten.
Mit ihrer hiergegen gerichteten Berufung hat die Klägerin geltend gemacht, nach Abschluß der organisatorischen Umstrukturierung im Jahre 1983 sei sie, die W AG, heute ein Produktionsunternehmen mit der üblichen Vertriebsorganisation; in D würden Produktion und Vertrieb für den Betriebsteil H organisiert. Während früher die W AG ein Handelsunternehmen gewesen sei, das überwiegend die Produkte der O GmbH vertrieben habe, sei jetzt in D die Hauptverwaltung des durch die Unternehmensfusionierung neu geformten Chemieunternehmens.
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit den in ihrem Unternehmerverzeichnis eingetragenen Unternehmensteilen mit Wirkung zum 1. Januar 1984 an die Beigeladene zu überweisen (Urteil vom 24. Januar 1990). Der Anspruch der Klägerin auf Überweisung ihres Unternehmens in D richte sich nicht nach § 664 Abs 3 RVO, sondern nach § 667 Abs 1 Satz 1 RVO. Ob eine den Zuständigkeitswechsel begründende wesentliche Änderung im Unternehmen vorliege, sei hier nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der erstmaligen Aufnahme der W AG in das Unternehmerverzeichnis der Beklagten zum 20. Juni 1950 zu beurteilen. Hiervon ausgehend sei eine wesentliche Änderung der betrieblichen Verhältnisse der Klägerin zu bejahen. Sie liege darin, daß durch die im Jahre 1972 erfolgte Verschmelzung mit der O GmbH in Verbindung mit der erst im Jahre 1983 abgeschlossenen organisatorischen Umstrukturierung aus dem Handelsunternehmen W AG ein produzierendes Unternehmen geworden sei, dessen Schwerpunkt in der Herstellung kosmetischer (chemischer) Produkte liege. Dabei gebe der Produktionsbetrieb in H dem Gesamtunternehmen der Klägerin sein besonderes Gepräge und sei deshalb maßgebend für seine sozialversicherungsrechtliche Stellung. Die Unternehmensteile der bisherigen W AG dienten dabei nicht nur dem Produktionsbetrieb in H , sondern seien Bestandteil des Gesamtunternehmens der Klägerin, weil die einzelnen Betriebsteile einer einheitlichen Leitung unterstünden; insbesondere sei nach dem Organisationsplan der Klägerin die Produktion dem Vorstandsmitglied der Klägerin für die Region Deutschland, dem alle in Deutschland vorhandenen Unternehmensteile unterstünden, zugeordnet. Im übrigen habe die Klägerin ihr Recht auf Überweisung der streitigen Unternehmensteile nicht verwirkt, wie sich aus ihrem Schreiben vom 14. Dezember 1972 ergebe, in welchem sie auf die noch offene Frage der berufsgenossenschaftlichen Zuordnung der fusionierten Betriebsteile nach Abschluß der endgültigen Neuorganisation des Unternehmens hingewiesen habe.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung formellen (§ 62 Sozialgerichtsgesetz -SGG-, § 103 SGG, § 202 SGG iVm §§ 139, 278 Abs 3 der Zivilprozeßordnung -ZPO-) sowie materiellen Rechts (§ 667 Abs 1 iVm §§ 647 Abs 1, 658 Abs 2 Nr 1 RVO). Das LSG habe zu Unrecht eine wesentliche Änderung der Betriebsverhältnisse iS des § 667 Abs 1 RVO angenommen; hierzu habe das LSG keine eindeutigen Tatsachenfeststellungen getroffen. Davon abgesehen handele es sich bei der Klägerin nicht um ein Gesamtunternehmen gemäß § 647 Abs 1 RVO, bei dem notwendigerweise neben einem Hauptunternehmen ein fremdartiges Nebenunternehmen vorliegen müsse, um eine einheitliche Versicherung bei einer einzigen BG, nämlich der des Hauptunternehmens, zu rechtfertigen. Hier handele es sich um zwei getrennt erfaßte, unterschiedlich firmierende Unternehmensteile. Auch für die Zeit nach dem Jahre 1972 habe sich bis auf die formalrechtlichen und innerorganisatorischen Veränderungen nichts wesentliches verändert. Die fachliche Gliederung der BGen zwinge zu dem Schluß, daß - wie hier - organisatorisch verselbständigte Vertriebsbereiche, die seit jeher im Mitgliederverzeichnis der Beklagten eingetragen seien, nicht auf dem Umweg über § 667 Abs 1 RVO - und dies allein aus beitragsrechtlichen Gründen - auf die Herstellungs-BG zu übertragen seien. Derartige Vertriebsbereiche gehörten gleichsam zum "Kernbereich" der Beklagten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom
24. Januar 1990 aufzuheben und die Berufungen der
Klägerin und der Beigeladenen gegen das Urteil des
Sozialgerichts Darmstadt vom 19. August 1986 zurück-
zuweisen.
Die Klägerin und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht die Beklagte verpflichtet, die Klägerin mit ihren im Unternehmerverzeichnis der Beklagten eingetragenen Unternehmensteilen mit Wirkung zum 1. Januar 1984 an die Beigeladene zu überweisen.
Für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Überweisung ihres Unternehmens ist nicht § 664 Abs 3 RVO, sondern § 667 Abs 1 Satz 1 RVO maßgebend. Nach den Feststellungen des LSG liegt keine ursprünglich unrichtige Eintragung iS des § 664 Abs 3 RVO vor (s BSGE 15, 282, 289; 38, 187, 190; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 513 mwN); im Jahre 1950 war das Unternehmen der Klägerin als reiner Handelsbetrieb zu Recht in das Unternehmerverzeichnis der Beklagten eingetragen worden. Hiervon gehen auch das LSG und die Beteiligten aus.
Nach § 667 Abs 1 Satz 1 RVO hat die BG das Unternehmen an den zuständigen Träger der Unfallversicherung zu überweisen, wenn sich die Zuständigkeit für dieses Unternehmen ändert. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Entgegen der Auffassung der Revision liegt eine wesentliche Änderung in den betrieblichen Verhältnissen der Klägerin vor. Demzufolge ist die Beklagte verpflichtet, das Unternehmen der Klägerin an die Beigeladene als den zuständigen Unfallversicherungsträger zu überweisen. Die hiergegen von der Revision erhobenen materiell-rechtlichen und verfahrens-rechtlichen Rügen greifen nicht durch.
Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß die Frage, ob eine den Zuständigkeitswechsel begründende Änderung im Unternehmen vorliegt, nach den Verhältnissen zu beurteilen ist, die zum Zeitpunkt der Eintragung in das Kataster der Beklagten vorgelegen haben (s Urteile des Senats vom 26. Mai 1982 - 2 RU 70/80 - HVGBG RdSchr VB 140/82 und vom 31. Mai 1988 - 2 RU 62/87 - HV-Info 1988, 1662 mwN). Daher kommt es hier entscheidend darauf an, ob eine wesentliche Änderung seit der zum 20. Juni 1950 vorgenommenen Eintragung in das Kataster der Beklagten eingetreten ist. Diese Eintragung beruhte nach den Feststellungen des LSG auf der seinerzeit bestehenden sachlichen Zuständigkeit der Beklagten.
In der Rechtsprechung und im Schrifttum ist seit langem anerkannt, daß eine die Zuständigkeit der Beklagten berührende Änderung der Verhältnisse, auf die § 667 Abs 1 Satz 1 RVO als Voraussetzung für eine Unternehmerüberweisung abstellt, wesentlich sein muß (Schiedsstelle EuM 27, 213, 214; BSGE 15, 282, 288/289; 49, 222, 226; BSG Urteil vom 31. Mai 1988 - 2 RU 62/87 - aaO; Brackmann, aaO S 515 mwN; KassKomm-Ricke, § 667 RVO RdNr 2). Diese Gesetzesauslegung berücksichtigt nicht nur den Grundsatz der Katasterrichtigkeit, sondern auch den von der Revision besonders hervorgehobenen Grundsatz der Katasterstetigkeit (BSG aaO) und damit des Katasterfriedens. Dementsprechend sollen nur solche nachhaltigen, wesentlichen Betriebsveränderungen zu einer Überweisung führen, die das Gepräge des Unternehmens grundlegend umgestaltet haben (BSG aaO mwN); es müssen grundlegende Änderungen in der Unternehmensstruktur, die für die Zuständigkeitsfrage wesentlich sind, vorhanden sein (BSG Urteil vom 26. Mai 1982 - 2 RU 70/80 - aaO). Eine solche grundlegende Änderung kann auch durch die Fusion von bis dahin selbständigen Unternehmen iS des § 658 Abs 2 Nr 1 RVO eintreten (s BSGE 49, 283, 284; KassKomm-Ricke aaO).
Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) auf der Grundlage einer umfassenden Sachaufklärung in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, daß die Unternehmensstruktur des Betriebes der Klägerin sich seit der Eintragung in das Kataster der Beklagten im Jahre 1950 grundlegend verändert hat, wodurch die Zuständigkeit der Beigeladenen begründet worden ist. Diese Änderung liegt darin, daß das Unternehmen der Klägerin durch die im Jahre 1972 erfolgte Fusion mit der O GmbH und den nachfolgenden strukturellen und organisatorischen Änderungen sich von einem selbständigen Großhandelsbetrieb entsprechend seinem ursprünglichen Gesellschaftszweck zu einem neu geformten Produktionsunternehmen umgewandelt hat, dessen Schwerpunkt nunmehr in der Herstellung kosmetischer (chemischer) Produkte liegt. Nach den Feststellungen des LSG war die Klägerin bis zum Jahre 1972 ein Großhandelsunternehmen, das die Produkte der O GmbH vertrieb; heute ist die W AG ein grundlegend anderes Unternehmen, nämlich ein Produktionsunternehmen der chemischen Industrie mit der üblichen Vertriebsorganisation der eigenen Produkte und mit dem Sitz der Hauptverwaltung in D . Somit liegt auch nicht, wie die Revision meint, lediglich eine "Expansion der Geschäftstätigkeit der Klägerin" vor. Entgegen der Auffassung der Revision hat das LSG auch nicht die nur formalrechtliche und gesellschaftsrechtliche Zusammenfassung der W AG mit der O GmbH im Jahre 1972 - unter dem "Dach" der W AG mit Sitz in D - mit einer wesentlichen Änderung der betrieblichen Verhältnisse gleichgesetzt. Vielmehr hat sich das LSG umfassend mit den betrieblichen Verhältnissen befaßt und eingehend begründet, worin es die wesentliche Änderung sieht.
Nach den weiteren Feststellungen des LSG besteht die W AG in ihrer derzeitigen Form aus verschiedenen Betriebsteilen, ua dem Produktionsbetrieb in H einerseits und der Hauptverwaltung mit der umfassenden Entwicklungs- und Forschungsabteilung in D andererseits. In einem solchen Fall richtet sich die berufsgenossenschaftliche Zuordnung des Unternehmens nach der besonderen Zuständigkeitsregel des § 647 Abs 1 RVO, die auf dem Gedanken beruht, daß auch ungleichartig gestalteten Unternehmen, die zu einem Gesamtunternehmen verbunden sind, möglichst nur ein einziger Versicherungsträger gegenüberstehen sollte (Brackmann aaO S 508b).
Nach § 647 Abs 1 Satz 1 RVO ist für ein verschiedenartige Bestandteile umfassendes Unternehmen die BG zuständig, der das Hauptunternehmen angehört. Hauptunternehmen ist das Unternehmen, das im Gesamtunternehmen hervortritt. Das Hauptunternehmen gibt ihm sein besonderes Gepräge und ist maßgebend für seine sozialversicherungsrechtliche Stellung (RVA AN 1921, 157, 158; BSGE 49, 283, 285; Brackmann aaO S 508b/ 509; KassKomm-Ricke, § 647 RVO RdNrn 3 ff sowie 13). Dies gilt für Zuständigkeitsabgrenzungen sowohl zwischen zwei BGen für Produktionsunternehmen (s BSG Urteil vom 31. Mai 1988 - 2 RU 62/87 - aaO) als auch zwischen einer solchen BG einerseits und einer BG für Handelsunternehmen andererseits.
Ein Gesamtunternehmen liegt dann vor, wenn zwischen den einzelnen Teilunternehmen ein wirtschaftlicher und betriebstechnischer Zusammenhang besteht. Dazu ist erforderlich, daß die einzelnen Betriebsteile einer einheitlichen Leitung unterstehen und der Verfügungsgewalt des Unternehmers unterliegen (BSGE 49, 283, 285). Dieser Zusammenhang kann sich auch äußern in einer räumlichen Verbindung, dem Austausch von Arbeitskräften zwischen den Betrieben, gemeinsamen Einrichtungen uä (s Platz/Geiberger BB 1990, 1621, 1622). Dabei sind jeweils die Umstände des Einzelfalles von Bedeutung, wobei eine lebensnahe Betrachtung entscheidet (BSGE 49, 283, 285; Brackmann aaO S 510).
Nach den Feststellungen des LSG untersteht der Produktionsbetrieb in H der Leitung und Verfügungsgewalt der Hauptverwaltung der Klägerin in D . Entgegen der Auffassung der Revision stellt der Betrieb der Klägerin in D keinen "Handels- und Vertriebsbereich" dar, der als Unternehmen ohne wirtschaftlichen und betriebstechnischen Zusammenhang von dem Produktions- und Industriebetrieb in H getrennt wäre. Vielmehr handelt es sich bei dem "Betrieb" in D um die Hauptverwaltung, in der nach den Feststellungen des LSG als wesentliche Teile die Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die Personalabteilung, die Rechtsabteilung, die Kunden- und Finanzbuchhaltung und der gesamte Einkauf angesiedelt sind. Der betriebstechnische und wirtschaftliche Zusammenhang zwischen den beiden Unternehmensteilen ergibt sich auch aus dem Organisationsplan der Klägerin, wonach die Produktion dem Vorstandsmitglied der Klägerin für die Region Deutschland, dem alle in der Bundesrepublik vorhandenen Unternehmensteile unterstehen, zugeordnet ist. Dementsprechend ist eine "innerorganisatorische Selbständigkeit" des Vertriebsbereichs der Klägerin, wie die Revision meint, hier nicht gegeben.
Entgegen der Auffassung der Revision hat das LSG in zutreffender Weise den Produktionsbetrieb in H als "Hauptunternehmen" iS des § 647 Abs 1 Satz 1 RVO angesehen. Dieser Betrieb gibt dem Unternehmen der Klägerin sein besonderes Gepräge (RVA AN 1921, 157, 158; BSGE 39, 112, 117; 49, 283, 285). Dies ergibt sich schon aus der nach der Fusion mit der O GmbH neu gefaßten Satzung der Klägerin, wonach Gegenstand des Unternehmens in erster Linie der Betrieb einer chemischen und technischen Fabrik sowie die Herstellung von chemischen, pharmazeutischen und kosmetischen Waren ist. Es kommt dabei nicht, wie die Revision meint, auf die Anzahl der Mitarbeiter im Betriebsteil H einerseits und dem Betriebsteil in D andererseits an. Der Hilfs- oder Nebenbetrieb muß nicht notwendigerweise eine geringere Personalstärke als das Hauptunternehmen haben (BSGE 49, 283, 286; KassKomm-Ricke § 647 RdNr 13).
Die Revision wendet ferner ein, der Betriebsteil in H könne schon deshalb nicht als Hauptunternehmen angesehen werden, weil seinerzeit die O GmbH in der Form einer Zweigniederlassung der W AG übergeführt worden sei. Wie das LSG indessen festgestellt hat, wurde für das Gesamtunternehmen der Name "W " gewählt, weil diese Bezeichnung das seit dem Jahre 1924 älteste und wichtigste Warenzeichen des Unternehmens war. Zudem war zur Zeit der Fusion die Klägerin eine Aktiengesellschaft (AG) und das Unternehmen O eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Die Rechtsform einer AG für das Gesamtunternehmen wurde gewählt, um - wie es im Jahre 1983 auch geschah - "an die Börse zu gehen". Davon unabhängig ist die Frage, welcher Betriebsteil als Hauptunternehmen iS des § 647 Abs 1 RVO anzusehen ist. Das ist - wie das LSG zutreffend entschieden hat - nach den tatsächlichen Verhältnissen zu beurteilen. Für die unfallversicherungsrechtliche Zuordnung eines durch Fusionierung geschaffenen Gesamtunternehmens kommt es nicht darauf an, welche Rechtspersönlichkeit dieses Unternehmen fortführt; entscheidend ist vielmehr der wirtschaftliche Schwerpunkt der Unternehmenstätigkeit, der hier nach den Feststellungen des LSG überwiegend in der Herstellung chemischer (haarkosmetischer) Erzeugnisse besteht. Damit steht das seit dem Jahre 1950 wesentlich veränderte Unternehmen der Klägerin seiner Eigenart nach der Beigeladenen als dem zuständigen Unfallversicherungsträger wesentlich näher als der Beklagten (s BSG Urteil vom 31. Mai 1988 - 2 RU 62/87 - aaO).
Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der von der Revision besonders hervorgehobene Prospekt der Klägerin vom August 1983 für die Zulassung zum Börsenhandel zu beurteilen; aus diesem Prospekt geht hervor, daß die Klägerin über zahlreiche inländische und ausländische Beteiligungen verfügt. Gegenstand des Überweisungsantrags ist indessen ausschließlich die W AG in Deutschland mit ihren bei der Beklagten eingetragenen Unternehmensteilen, nicht hingegen das Konzernunternehmen der "W -G " mit seinen in- und ausländischen Tochterunternehmen. Zutreffend ist das LSG daher auf diese Beteiligung nicht eingegangen. Damit liegt der in diesem Zusammenhang von der Beklagten gerügte Verfahrensfehler (§ 103 iVm § 128 SGG) nicht vor.
Entgegen der Auffassung der Revision hat die Klägerin ihr Recht auf Überweisung auch nicht verwirkt. Abgesehen davon, daß der Unfallversicherungsträger von Amts wegen die Überweisung des Betriebes vorzunehmen hat, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen des § 667 Abs 1 RVO gegeben sind, hat die Klägerin in ihrem anläßlich der Fusion an die Beklagte gerichteten Schreiben vom 14. Dezember 1972 darauf hingewiesen, daß die Frage der berufsgenossenschaftlichen Zuordnung offen bleibe; sobald die beabsichtigte Firmenorganisation ihre endgültige Form gefunden habe, werde sie - die Klägerin - sich wieder mit der Beklagten ins Benehmen setzen. Diese richtige, den Katasterfrieden beachtende Haltung kann deshalb eine Verwirkung nicht begründen; sie kam zudem ausschließlich der Beklagten zugute.
Entgegen ihrer Rüge ist der Beklagten auch nicht das rechtliche Gehör (§ 62, § 128 Abs 2 SGG, Art 103 des Grundgesetzes -GG-) versagt worden. Inhalt dieses Grundsatzes ist, daß den Beteiligten von Amts wegen die Möglichkeit gegeben werden muß, sich zu allem tatsächlichen Vorbringen zu äußern. Hier hat zwar der Vertreter der Klägerin in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG eine Festschrift zur 100-Jahr-Feier der Firma W und einen Ordner mit Unterlagen überreicht, von denen die Vertreter der übrigen Beteiligten eine Ablichtung erhielten. Die Beklagte hat jedoch nicht schlüssig dargelegt, daß sie in diesem Termin die prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, um sich das rechtliche Gehör zu verschaffen. Sie hat insbesondere nicht vorgetragen, ihrem rechtskundigen Prozeßbevollmächtigten sei keine Möglichkeit gegeben worden, ihren Anspruch auf rechtliches Gehör etwa durch Stellung eines Vertagungsgesuchs wahrzunehmen (s Beschluß des Senats vom 15. August 1990 - 2 BU 102/90 - und Urteil des Senats vom 19. März 1991 - 2 RU 28/90 -, jeweils mwN).
Die Beklagte rügt weiter eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil das Urteil des LSG den tatsächlichen Verhandlungslauf und die dabei erfolgten (rechtlichen) Hinweise und Erörterungen des LSG nicht wiedergebe; deshalb habe sie - die Beklagte - sich nicht zu den nunmehr im Urteil niedergelegten rechtlichen Erwägungen des LSG äußern können (Verstoß gegen § 202 SGG iVm §§ 139, 278 Abs 3 ZPO). Diese sich im sozialgerichtlichen Verfahren auf einen Verstoß gegen § 106 Abs 1 SGG anstelle von § 139 ZPO (BSG SozR Nr 21 zu § 103 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 3 Aufl, § 103 RdNr 1) stützende Rüge geht fehl. Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll zwar verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der die Beteiligten keine Veranlassung hatten, sich zu äußern (s ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 70 sowie Beschluß des Senats vom 6. Dezember 1989 - 2 BU 159/89 -). Dies gilt insbesondere, wenn ein Rechtsmittelgericht dem Rechtsstreit eine neue Wendung geben will, mit dem die Beteiligten nicht zu rechnen brauchten (Meyer-Ladewig aaO, § 62 RdNr 8 mwN). Im vorliegenden Fall war die Beklagte nicht in einer solchen Überraschungssituation. Denn wie sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 24. Januar 1990 ergibt, hatte der Vertreter der Beklagten eine Abschrift des Urteils des BSG vom 31. Mai 1988 - 2 RU 62/87 - überreicht. Dementsprechend kann sich die Beklagte nunmehr nicht darauf berufen, daß das LSG seine Entscheidung "überraschend und nahezu ausschließlich auf die Entscheidung des BSG vom 31. Mai 1988 abgestellt" habe. Davon abgesehen gibt es keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gedanken oder alle in Betracht kommenden einschlägigen höchstrichterlichen Entscheidungen zu erörtern (s Beschluß des Senats vom 6. Dezember 1989 - 2 BU 159/89 -).
Der schließlich vom LSG zum 1. Januar 1984 festgestellte Überweisungszeitpunkt ist im Hinblick auf den im Januar 1983 gestellten Antrag der Klägerin nicht zu beanstanden. Nach § 668 Abs 1 RVO wird die Überweisung zwar erst mit dem Ablauf des Geschäftsjahres wirksam, in dem sie dem Unternehmer mitgeteilt wird. Diese Vorschrift betrifft aber nur den Regelfall des § 667 Abs 1 RVO, in welchem die Überweisung von der BG durchgeführt wird. Wird die vom Unternehmer beantragte Überweisung dagegen abgelehnt, so ist der Ablauf des Geschäftsjahres maßgebend, in dem der Antrag gestellt wurde (BSG Urteil vom 31. Mai 1988 - 2 RU 62/87 - aaO). Davon abgesehen haben die Beteiligten übereinstimmend erklärt, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 667 Abs 1 Satz 1 RVO der 1. Januar 1984 als der maßgebliche Überweisungszeitpunkt anzusehen sei.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen