Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz auf Wegen zu oder von der Schule (Unterbrechung wegen einer privaten Besorgung). Unfallversicherungsschutz bei geringfügiger Unterbrechung des Schulwegs
Leitsatz (amtlich)
Schüler, die nach vorzeitiger Beendigung des Unterrichts darauf warten, verabredungsgemäß von einem Angehörigen zur Zurücklegung des Heimweges abgeholt zu werden, stehen dabei unter Versicherungsschutz (Ergänzung zu BSG 1976-05-20 8 RU 98/75 = BSGE 42, 42).
Leitsatz (redaktionell)
1. Schülern steht die Wahl des Verkehrsmittels für die Zurücklegung des Weges nach und von der Schule frei; selbst wenn der Weg von dem Schüler zumutbar zu Fuß zurückgelegt werden kann, besteht Versicherungsschutz auch bei Unfällen, die darauf zurückzuführen sind, daß der Schüler ein öffentliches oder privates Verkehrsmittel für die Zurücklegung des Weges wählt.
2. Der Unfallversicherungsschutz eines 12 1/2jährigen Schülers wird nicht dadurch unterbrochen, daß sich der Schüler während der Wartezeit auf das Beförderungsmittel auf einen nahe gelegenen Spielplatz begibt, um dort mit Spielkameraden zu spielen.
Orientierungssatz
Die strengen Maßstäbe, die für die Annahme einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit für Erwachsene zu beachten sind, werden dem vielfältigen Spieltrieb und dem Gruppenverhalten der Schulkinder im Zusammenhang mit dem Schulweg nicht gerecht; es entspricht vielmehr auch der Verkehrsanschauung, daß derartige Unterbrechungen regelmäßig mit zum Schulweg gehören. Der bei der Beurteilung des Versicherungsschutzes während einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach und von der Schule anzuwendende Begriff der Geringfügigkeit kann auch nicht nach absoluten Maßstäben beurteilt werden, vielmehr sind die gesamten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten den Ersatz seiner Aufwendungen in Höhe von 1.871,- DM aus Anlaß eines Unfalls der Schülerin M. P. (geb. 1. Juli 1963), deren Vater (Beigeladener) bei der Beklagten für den Fall der Krankheit versichert ist.
M. wohnt in P.,A., und besuchte die Haupt- und Realschule in P.. Am 9. Dezember 1975 endete der Schulunterricht wegen des Ausfalls der letzten Unterrichtsstunde bereits um 12.05 Uhr statt um 13.00 Uhr. Da M. mit ihrer Mutter abgesprochen hatte, daß diese sie um 13.00 Uhr mit dem eigenen Kraftfahrzeug abholen würde, begab sich M. von der Schule aus zu einem etwa 80 m entfernt liegenden Spielplatz. Dort kam es mit einigen Klassenkameraden zu einem Streit, in dessen Verlauf M. zu Boden fiel und sich den Außenknöchel des linken Beines brach. Die Kosten der ärztlichen Behandlung trug der Kläger. Den Ersatz der Aufwendungen in Höhe von 1.871,- DM lehnte die Beklagte ab, weil Unfallversicherungsschutz bestanden habe. Das Sozialgericht (SG) Kiel hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger 1.871,- DM zu erstatten (Urteil vom 25. November 1977). Auf die Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Dezember 1980). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Unfall der Schülerin M. habe nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm § 550 Abs 1 RVO dem gesetzlichen Versicherungsschutz unterlegen, denn er habe in dem erforderlichen zeitlichen, örtlichen und inneren ursächlichen Zusammenhang mit dem Schulbetrieb gestanden. Die im Rechtssinn wesentliche Ursache für den Eintritt des Unfalls sei das vorzeitige Unterrichtsende - um 12.05 Uhr anstatt um 13.00 Uhr - gewesen. Beim Unterrichtsende um 13.00 Uhr wäre M. von ihrer Mutter abgeholt worden und hätte weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, den Spielplatz aufzusuchen, so daß es nicht zu dem Unfall gekommen wäre. Zweifellos sei das Verhalten von M. eine Bedingung im naturwissenschaftlichen Sinne für den Unfall gewesen. Denn wäre sie zu Fuß nach Hause gegangen oder auf dem Schulgelände geblieben, wäre es wahrscheinlich ebenfalls nicht zu dem Unfall gekommen. Ihr Verhalten habe aber letztlich in der schulischen Situation gewurzelt und könne daher nicht als eigenwirtschaftliches Verhalten ihrer Privatsphäre zugerechnet werden, so daß eine Unterbrechung des inneren Zusammenhanges zwischen dem späteren Geschehensablauf und dem voraufgegangenen Schulbetrieb nicht eingetreten sei. Das Warten der Schülerin M. sei zwar durch die auf 13.00 Uhr festgelegte Verabredung mitbestimmt gewesen, welche einzuhalten ihr die kindliche Gehorsamspflicht gegenüber den Eltern geboten habe. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, daß in diesem Augenblick die Lösung vom Schulbetrieb und der Übertritt in die private Sphäre erfolgt sei, denn vorherrschend sei nach wie vor die durch den Unterrichtsausfall veränderte Lage im Schulbetrieb gewesen, ohne die alle zeitlich nachfolgenden Geschehensabläufe sich unmöglich hätten vollziehen können. Es komme demnach für die rechtliche Wertung nicht darauf an, ob M. eine andere Verhaltensweise (etwa die Zurücklegung des Heimweges zu Fuß) als Alternative zum Warten zumutbar gewesen wäre. Ebensowenig sei die Kausalkette dadurch unterbrochen worden, daß M. während der Wartezeit den Spielplatz aufgesucht und sich dort zusammen mit anderen Klassenkameraden spielend betätigt habe. In der Schule habe sie die Wartezeit nicht verbringen können, da dort für unterrichtsfreie Schüler kein Aufenthaltsraum oder ein sonstiger geeigneter Bereich mit entsprechender Beaufsichtigung zur Verfügung gestanden habe. Dadurch seien die Schüler angereizt worden, ihre Wartezeit nach eigenem Belieben entsprechend ihren jeweiligen Neigungen zu verbringen. Es entspreche kindlicher Neigung und altersüblichem Verhalten, eine Wartezeit auf einem von der Gemeinde eingerichteten Spielplatz zu verbringen. Der innere Zusammenhang mit dem Schulbetrieb wäre erst dann zu verneinen, wenn M. sich in so hohem Maße vernunftswidrig und gefahrbringend verhalten hätte, daß sie mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Eintritt eines Unfalls hätte rechnen müssen. Davon könne nach dem festgestellten Geschehen auf dem Spielplatz jedoch keine Rede sein. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG habe trotz eines ausdrücklichen Hinweises in der mündlichen Verhandlung nicht gewürdigt, daß der Weg von der Schule zur Wohnung der Schülerin M. nur etwa 1200 m betragen habe. M. hätte daher zu Fuß nach Hause gehen können, zumal der Heimweg keinerlei besondere Gefahren aufgewiesen habe. Sie hätte die elterliche Wohnung dann bereits zu einem Zeitpunkt erreicht, bevor die Mutter sie von der Schule abgeholt hätte. Zwar sei der Unterrichtsausfall durch den Schulbetrieb verursacht gewesen. Das Warten von M. außerhalb der Schule gehe jedoch auf die Anweisung der Mutter der Schülerin zurück. Bei richtiger Auslegung des unfallversicherungsrechtlichen Kausalbegriffes hätte das LSG nicht zu dem Ergebnis gelangen dürfen, daß der vorzeitige Schulschluß die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei. Der Kläger beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 17. Dezember 1980 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Kiel vom 25. November 1977 zurückzuweisen. Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen. Sie trägt vor, daß der Ersatzanspruch des Klägers nicht begründet sei, da die Schülerin M. einen vom Kläger zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten habe. Der Versicherungsschutz sei gegeben, weil die Ursache, die das Unfallereignis herbeigeführt habe, im schulischen Bereich gelegen habe. Als alleinige Unfallursache sei der vorzeitige Schulschluß anzusehen. Dieser allein habe dazu geführt, daß M. auf den Spielplatz gegangen und es dort zum Unfall gekommen sei. Die Anweisung von M.s Mutter, sie möge nach Schulschluß warten, da sie abgeholt würde, sei für den Unfall nicht kausal gewesen. Denn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge wäre die Mutter von M. um 13.00 Uhr an der Schule gewesen und hätte M., ohne daß es zum Unfall gekommen wäre, nach Hause gefahren. Durch das Aufsuchen des Spielplatzes sei die Kausalkette nicht unterbrochen worden, denn es habe sich um eine nur geringfügige Unterbrechung gehandelt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien bei der Beurteilung, ob eine nur geringfügige Unterbrechung vorliege, bei Schülern im Rahmen der Gesamtbeurteilung die von dem natürlichen Spieltrieb der Kinder und gegebenenfalls einem dem Alter entsprechenden Gruppenverhalten ausgehenden Gefahren besonders zu beachten. M. sei ihrem kindlichen Spieltrieb gefolgt als sie den nahegelegenen Spielplatz aufgesucht habe. Auch die Auseinandersetzung mit ihren Spielkameraden, die zum Unfall geführt habe, sei dem kindlichen Wesen zuzurechnen. Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger wegen dessen Aufwendungen aus Anlaß des Unfalls der Schülerin M. P. nach § 1509 a RVO Ersatz zu leisten; denn die Schülerin hat am 9. Dezember 1975 einen Arbeitsunfall erlitten, den der Kläger zu entschädigen hat. Als Schülerin einer allgemeinbildenden Schule war M. während des Besuchs dieser Schule nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO gegen Arbeitsunfall versichert. Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs 1 RVO auch ein Unfall auf einem mit dem Besuch der Schule zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Ein zeitlicher und örtlicher Zusammenhang mit dem Schulbesuch begründet allein den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift jedoch nicht; vielmehr setzt § 550 RVO einen inneren Zusammenhang zwischen dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit - hier dem Schulbesuch - voraus (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 486 c).
Obwohl nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO nicht von einem Umfassenden Versicherungsschutz ohne Rücksicht auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule ausgegangen werden kann (BSGE 35, 207, 211; 41, 149, 151; 51, 257, 259), gelten jedoch auch bei Schülern die allgemeinen bei der Beurteilung von Wegeunfällen zu beachtenden Grundsätze. Wie anderen Versicherten steht auch den Schülern die Wahl des Verkehrsmittels für die Zurücklegung des Weges nach und von der Schule frei (BSGE 4, 219, 222; 10, 226, 227; 20, 219, 221; Brackmann, aaO, S 486 f; Gitter in SGB - Sozialversicherung - Gesamtkommentar, § 550 RVO Anm 5). Selbst wenn der Weg von dem Versicherten zumutbar zu Fuß zurückgelegt werden kann, besteht Versicherungsschutz auch bei Unfällen, die darauf zurückzuführen sind, daß der Versicherte ein öffentliches oder privates Verkehrsmittel für die Zurücklegung des Weges wählt (BSG, Urteil vom 28. Juli 1982 - 2 RU 49/81 -). Die freie Wahl, ein Verkehrsmittel zu benutzen, schließt den Versicherungsschutz beim Warten auf das Beförderungsmittel ein (RVA EuM 25, 2; BSGE 42, 42, 44). Das Warten gehört zum Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hatte die Schülerin M. am Unfalltag mit ihrer Mutter vereinbart, daß diese sie nach der Schule mit dem Kraftwagen abholt. Nachdem der Unterricht jedoch unvorhergesehen bereits um 12.05 Uhr endete, dauerte der mit dem Schulbesuch zusammenhängende Versicherungsschutz auch während der Wartezeit ohne Rücksicht darauf fort, daß M. hätte zu Fuß nach Hause gehen können.
Der Versicherungsschutz wurde nicht dadurch unterbrochen, daß M. nicht in oder an der Schule auf ihre Mutter wartete, sondern sich auf den etwa 80 m von der Schule entfernten Spielplatz begab, um dort mit ihren Schulkameraden zu spielen. Im allgemeinen besteht zwar nach den in ständiger Rechtsprechung zum Versicherungsschutz auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit entwickelten Grundsätzen während einer persönlichen Verrichtungen dienenden erheblichen Unterbrechung dieses Weges kein Versicherungsschutz, während der Versicherungsschutz aufrecht erhalten bleibt, wenn die persönliche Verrichtung hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer und der Art ihrer Erledigung keine rechtlich ins Gewicht fallende und somit keine erhebliche Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit bedeutet, sondern nur als geringfügig anzusehen ist (vgl ua BSGE 43, 113, 115; SozR Nr 5 und 28 zu § 543 RVO aF; SozR 2200 § 539 Nr 21 und § 549 Nr 1; Brackmann, aaO, S 486 t und x). Wie der Senat in seinem Urteil vom 25. Januar 1977 (BSGE 43, 113, 115; s auch BSG USK 77220, 77228 und 8116) zum Versicherungsschutz von Schülern während des Besuchs allgemeinbildender Schulen auf dem Schulweg ausgeführt hat, sind der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die angeführten Grundsätze zum Versicherungsschutz während der Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit insoweit für den Versicherungsschutz der Schüler gemäß § 550 Abs 1 RVO nicht gelten sollen. Der Senat hat in diesen Urteilen jedoch näher ausgeführt, daß die strengen Maßstäbe, die für die Annahme einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit für Erwachsene zu beachten sind, dem vielfältigen Spieltrieb und dem Gruppenverhalten der Schulkinder im Zusammenhang mit dem Schulweg nicht gerecht werden; es entspricht vielmehr auch der Verkehrsanschauung, daß derartige Unterbrechungen regelmäßig mit zum Schulweg gehören (Brackmann, aaO, S 483 s). Der bei der Beurteilung des Versicherungsschutzes während einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach und von der Schule anzuwendende Begriff der Geringfügigkeit kann auch nicht nach absoluten Maßstäben beurteilt werden, vielmehr sind die gesamten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.
Die Schülerin M. hat nach der Gesamtwürdigung aller vom LSG festgestellten Umstände am Unfalltag den Weg vom Besuch der Schule nach Hause dadurch, daß sie den nahegelegenen Spielplatz aufsuchte, nur geringfügig unterbrochen. Dem für die Beurteilung der Geringfügigkeit maßgebenden Zeitfaktor der Unterbrechung kommt hier keine entscheidende Bedeutung zu, da M., ohne den Versicherungsschutz zu verlieren, bis zum Abholen durch ihre Mutter mit der Fortsetzung ihres Weges warten durfte. Da während der Wartezeit alle Betätigungen, insbesondere auch Spielereien, unter Versicherungsschutz stehen, die dem Verhalten von Schülern des jeweiligen Alters entsprechen (BSGE 42, 42, 46), war M., wie das LSG im einzelnen zutreffend dargelegt hat, auch während des Aufenthaltes auf dem Spielplatz unfallversicherungsrechtlich geschützt. Denn es entspricht dem altersgemäßen Verhalten eines 12 1/2 Jahre alten Kindes, daß es die Wartezeit bis zum Abholen durch seine Mutter dadurch ausfüllt, daß es einen nahegelegenen Spielplatz aufsucht, um dort mit Klassenkameraden zu spielen. Dazu mag auch beigetragen haben, daß, wie das LSG festgestellt hat, in der Schule kein Aufenthaltsraum für unterrichtsfreie Schüler zur Verfügung stand.
Die Schülerin hat sonach am 9. Dezember 1975 einen Arbeitsunfall erlitten (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO iVm § 550 Abs 1 RVO), den der Kläger als der zuständige Unfallversicherungsträger (§ 657 Abs 1 Nr 5 RVO) zu entschädigen hat.
Eine Kostenentscheidung entfällt (§ 193 Abs 4 RVO).
Fundstellen