Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz auf der Fahrt zu einem anderen Grenzpunkt als die Wohnung. Unfallschutz auf dem Weg zum Wohnwagen
Orientierungssatz
1. Der ursächliche Zusammenhang des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu einem anderen Ort als der Wohnung ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Versicherte sich (auch) an diesem Ort seinen privaten Belangen widmen wollte. Entscheidend für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO ist vielmehr, ob der Weg von der Arbeitsstätte zu einem anderen Ort als der eigenen Wohnung rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Versicherten bestimmt war, von der versicherten Tätigkeit am Ort der Tätigkeit zurückzukehren (vgl BSG 1964-10-30 2 RU 157/63 = BSGE 22, 62). Daran fehlt es, wenn für die Wahl eines anderen Zielpunktes persönliche Gründe bestimmend waren, aus denen zu folgern ist, daß die voraufgegangenen versicherte Tätigkeit und der durch sie bestimmte Ausgangspunkt für die Zurücklegung des Weges als unwesentlich in den Hintergrund treten (vgl BSG 1975-07-30 2 RU 73/74 = USK 7597).
2. Bei Wegen, deren Ausgangs- oder Endpunkt sich nicht mit dem Wohnbereich des Beschäftigten deckt, ist für die Beurteilung des Unfallversicherungsschutzes auch der Länge des Weges die ihr zukommende Bedeutung, aber auch nicht die allein entscheidende Bedeutung beizumessen (vgl BSG 1963-08-30 2 RU 147/60 = BG 1964, 294).
3. Vorbehaltlich der Lage des Einzelfalles ist vor allem für Wege mit ungewöhnlichen Entfernungen, vor allem bei Erholungsfahrten in eine andere Ortschaft und von dort unmittelbar zurück zur Arbeitsstätte anzunehmen, daß der Weg nicht von dem Vorhaben des Beschäftigten geprägt ist, sich zur Arbeit zu begeben oder von dieser zurückzukehren, mit der Folge, daß es an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit fehlt.
Normenkette
RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 16.12.1980; Aktenzeichen L 3 U 25/80) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 05.02.1980; Aktenzeichen S 7 U 72/78) |
Tatbestand
Der Ehemann der Klägerin, W L (L.) war als Drucker in einem Druck- und Pressebetrieb beschäftigt. Am 27. Juli 1977 (Donnerstag) erlitt er gegen 5.50 Uhr bei dem Zusammenstoß seines Kraftwagens mit einem anderen Fahrzeug einen tödlichen Unfall. Nachdem er von 22.00 Uhr am Vortag bis 5.00 Uhr gearbeitet und um 5.37 Uhr den Betrieb verlassen hatte, war er nicht zu seiner etwa 3 km entfernt im Westen der Stadt gelegenen Wohnung, sondern in nördlicher Richtung gefahren, weil er in seinem Wohnwagen schlafen wollte, der auf einem von ihm gepachteten Grundstück etwa 18 km vom Betrieb entfernt in N am R stand.
Die Beklagte lehnte eine Hinterbliebenenentschädigung ab; der Unfall sei kein Arbeitsunfall, weil der Weg zum Wohnwagen nicht in einem angemessenen Verhältnis zum üblichen Heimweg gestanden und keine betriebliche Notwendigkeit bestanden habe, den Wohnwagen anstelle der Wohnung aufzusuchen (Bescheid vom 21. Februar 1978).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 5. Februar 1980). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Witwenrente zu zahlen (Urteil vom 16. Dezember 1980). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der Weg des Ehemannes der Klägerin vom Betrieb zum Wohnwagen sei von dessen Vorhaben geprägt gewesen, von der Arbeit zurückzukehren. Der deshalb gegebene ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit entfalle nicht wegen der Unverhältnismäßigkeit des üblichen Rückweges gegenüber dem tatsächlich gewählten Weg. Entscheidend sei, daß der Weg hinsichtlich Dauer und Länge üblicherweise als ein Weg von der Arbeitsstätte gewertet werden könne. Dies sei der Fall bei einem Weg von 18 km und einer Dauer von etwa 1/2 Stunde, weil Beschäftigte häufig gerade in einer solchen Entfernung von der Arbeitsstätte wohnten. Der Weg des Ehemannes der Klägerin nach N, um dort nach Beendigung der Nachtschicht im Wohnwagen zu schlafen, sei ein Weg vom Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die für ihn erforderliche Nachtruhe habe der Ehemann der Klägerin nach den Umständen in seiner Familienwohnung nicht finden können.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, die Entscheidung des LSG stehe nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Der Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO entfalle schon wegen der erheblich größeren Entfernung des Standorts des Wohnwagens im Vergleich zur Entfernung der Familienwohnung von der Betriebsstätte. Rechtlich bedeutsam sei auch, daß der Weg von der Arbeitsstätte nicht endgültig zum Wohnwagen führen, dort vielmehr lediglich eine Erholungspause zum Ausschlafen eingelegt und anschließend am frühen Nachmittag desselben Tages die Wohnung aufgesucht werden sollte. Soweit hiernach die Wohnung als Endziel der zunächst zum Standort des Wohnwagens führenden Fahrt anzusehen sei, schließe die unverhältnismäßige Länge und Dauer dieses Weges den Versicherungsschutz ebenfalls aus.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ua vor: Der Wohnwagen sei in den Sommerferien bei Nachtarbeit die Schlafstätte ihres Ehemannes gewesen. Für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO sei die Länge des Wegen ohne Belang. Entscheidend sei allein, daß der Ehemann dort nach beendeter Nachtschicht besser habe schlafen können als in der Familienwohnung. Wegen der häufigen Nachtarbeit sei das besondere Schlafbedürfnis des Ehemannes betriebsbedingt gewesen. Für das durch den längeren Weg gegebene höhere Risiko habe der Betrieb, der die Nachtarbeit benötigte, über die Versicherung der Beklagten einzutreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Klägerin steht die ihr im angefochtenen Urteil zugesprochene Hinterbliebenenentschädigung zu (s § 589 Abs 1 RVO), da ihr Ehemann bei seinem tödlichen Unfall nach § 550 Abs 1 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat.
Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs 1 RVO auch ein Unfall auf einem mit einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Von dem in dieser Vorschrift genannten Ausgangspunkt, dem Ort der Tätigkeit, hat der Ehemann der Klägerin nach Beendigung der Nachtschicht den Weg angetreten, auf dem er verunglückt ist. Er fuhr allerdings nicht zu seiner im Westen O gelegenen Wohnung, in der sich die Klägerin und die beiden - damals - 11 und 12 Jahre alten Söhne aufhielten, son- schlug die nördliche Richtung nach N ein, um sich dort auf seinem Grundstück am R in seinem Wohnwagen auszuschlafen. Mit Recht ist aber das LSG bei der rechtlichen Beurteilung davon ausgegangen, daß in § 550 Abs 1 RVO allein der Ort der Tätigkeit als Ausgangspunkt des Rückweges oder als Ende des Hinweges festgelegt ist und infolgedessen weder der Hinweg von der Wohnung aus angetreten werden noch der Rückweg in der Wohnung enden muß (ständige Rechtsprechung des BSG, s BSGE 22, 60, 61 mwN; s auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.9. Aufl S 485 o und p mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum; Gitter in SGB - Sozialversicherung - Gesamtkommentar, § 550 Anm 3 Buchst c). Jedoch genügt es nach dieser Recht- sprechung zur Begründung des Versicherungsschutzes nicht allein, daß der Ort der Tätigkeit Ausgangs- oder Endpunkt des Weges ist. § 550 Abs 1 RVO setzt vielmehr einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit und der Tätigkeit im Unternehmen voraus, daß nach dieser Vorschrift nicht schon ohne weiteres Versicherungsschutz besteht, wenn der Weg zum Ort der Tätigkeit führt oder von ihm ausgeht. Ist nicht die eigene Wohnung der andere Endpunkt des nach oder von dem Ort der Tätigkeit angetretenen Weges, wird sich im allgemeinen eher als im Regelfall die Frage nach dem inneren ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit stellen. Auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur eigenen Wohnung wird grundsätzlich ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit angenommen, weil der Versicherte diesen Weg wegen seiner voraufgegangenen Tätigkeit im Unternehmen zurücklegen muß, obwohl dieser Weg dem Versicherten regelmäßigen zugleich dazu dient, an dessen Endpunkt seinen persönlichen Interessen im privaten Bereich nachzugehen. Der ursächliche Zusammenhang des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu einem anderen Ort als der Wohnung ist somit nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Versicherte sich (auch) an diesem Ort seinen privaten Belangen widmen wollte. Entscheidend für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO ist vielmehr, ob der Weg von der Arbeitsstätte zu einem anderen Ort als der eigenen Wohnung rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Versicherten bestimmt war, von der versicherten Tätigkeit am Ort der Tätigkeit zurückzukehren (s BSGE aa0 S 62). Daran fehlt es, wenn für die Wahl eines anderen Zielpunktes persönliche Gründe bestimmend waren, aus denen zu folgern ist, daß die voraufgegangene versicherte Tätigkeit und der durch sie bestimmte Ausgangspunkt für die Zurücklegung des Weges als unwesentlich in den Hintergrund treten (s ua BSG Urteil vom 30. Juli 1975 - 2 RU 73/74 -).
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und deshalb für das BSG bindenden Feststellungen im angefochtenen Urteil (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) wollte der Ehemann der Klägerin von der Arbeitsstätte aus seinen Wohnwagen aufsuchen, um dort zu schlafen, weil er den nach der voraufgegangenen Nachtschicht erforderlichen Schlaf zu dieser Zeit in seiner Wohnung nicht finden konnte. Es lag somit ein sachgerechter, mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängender Grund für den Ehemann der Klägerin vor, einen anderen Endpunkt als die eigene Wohnung für den Weg vom Ort der Tätigkeit zu wählen (s BSGE aa0). Die hierin liegenden besonderen Umstände des Falles rechtfertigen es nicht, den Versicherungsschutz deshalb zu versagen, weil der Standort des Wohnwagens etwa 18 km von der Arbeitsstätte entfernt lag, während bis zur Wohnung nur etwa 3 km zurückzulegen waren. Der ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit wird zwar verneint, wenn der Weg zu einem anderen Ort als der eigenen Wohnung nach der Verkehrsanschauung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg des Versicherten nach und von dem Ort der Tätigkeit steht (BSGE 22, 60, 62, ständige Rechtsprechung; s Brackmann aa0 S 485q und r mit zahlreichen Nachweisen auch aus dem Schrifttum). Da die vom erkennenden Senat bei Wegen, deren Ausgangs- oder Endpunkt sich nicht mit dem Wohnbereich des Beschäftigten deckt, getroffene Einschränkung sich aus dem Erfordernis des ursächlichen Zusammenhangs mit der Tätigkeit im Unternehmen ergibt, hat der Senat, wie grundsätzlich bei der Beurteilung der Kausalität, die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles als maßgebend angesehen. Er hat demnach entgegen der Auffassung von Benz (BG 1977, 32, 33, 36/37) auch der Länge des Weges die ihr zukommende Bedeutung (s Brackmann aa0 S 485r), aber auch ihr nicht die allein entscheidende Bedeutung beigemessen (s ua BSG Urteil vom 30. August 1963 - 2 RU 147/60 -). Ausschlaggebend für die Beurteilung ist somit, ob der nicht zwischen Arbeitsstätte und Wohnung zurückgelegte Weg sich unter Berücksichtigung aller Umstände von dem üblichen Weg nach und von der Arbeitsstätte so erheblich unterscheidet, daß er nicht von dem Vorhaben des Beschäftigten geprägt ist, sich zur Arbeit zu begeben oder von dieser zurückzukehren. Der erkennende Senat hat darauf hingewiesen (BSGE aa0), daß dies vorbehaltlich der Lage des Einzelfalles vor allem für Wege mit ungewöhnlichen Entfernungen, vor allem bei Erholungsfahrten in eine andere Ortschaft und von dort unmittelbar zurück zur Arbeitsstätte anzunehmen sein wird. Hier lagen die Verhältnisse aber anders. Der um 15 km längere Weg war weder ungewöhnlich lang, noch unterschied er sich bei der Zurücklegung mit dem Kraftwagen hinsichtlich seiner Dauer so erheblich von dem Weg zur Wohnung, daß deshalb das Vorhaben, sich nach der Nachtschicht zu dem nur am dritten Ort gesicherten notwendigen Schlaf zu begeben, nicht als rechtlich wesentlich für die Wahl des weiteren Weg angesehen werden könnte. Auch in seinem Urteil vom 11. Oktober 1973 (2 RU 1/73) hat der Senat den Versicherungsschutz nicht schon allein deshalb verneint, weil die Wohnung der Verletzten 2 km, der Ort, von dem aus sie am Unfalltag den Weg zu ihrer Arbeitsstätte antrat, dagegen 22 km von dieser entfernt lag. Der Senat hat es vielmehr auch als wesentlich angesehen, daß die Verletzte auf dem Weg von einem Urlaub zur Arbeitsstätte verunglückte (s auch BSG Urteil vom 20. April 1978 - 2 RU 1/77 -). Entsprechendes gilt für das Urteil des Senats vom 30. Juli 1971 (2 RU 229/68) zur Fahrt von einem Urlaub in Lübeck zur Aufnahme der Arbeit in Hamburg.
Die Revision der Beklagten ist danach nicht begründet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1662440 |
NJW 1983, 2286 |