Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt gewesen ist, dem Kläger aufzutragen, sich in stationäre Heilbehandlung einer BG-Klinik zu begeben, andernfalls seine Verletztenrente entzogen werde.
Der Kläger erhielt nach einem Arbeitsunfall wegen einer Verletzung des linken Mittelfingers nach zwei operativen Eingriffen zunächst eine vorläufige Rente, später eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. Seit April 1976 bezieht er auch Rente wegen Berufsunfähigkeit. Mehrfache Untersuchungen und Begutachtungen des Klägers in den Jahren 1972, 1973 und 1975 ergaben, daß durch eine Teilamputation des linken Mittelfingers ohne Duldungspflicht ein Dauerschaden mit einer MdE von 10 bis 15 v.H. zu erwarten sei. Auf Anfrage der Beklagten verweigerte der Kläger eine Teilamputation des Mittelfingers der linken Hand. Zwei weitere medizinische Gutachten (1975, 1976) bejahten eine Operationsduldungspflicht, wobei der zunächst gehörte Gutachter die MdE als um mindestens 10 v.H. besserungsfähig ansah, während der zweite Gutachter die noch vorhandene MdE mit 10 v.H. bewertete. Die nachfolgende Rentenentziehung hielt die Beklagte im Klageverfahren nicht aufrecht; sie bewilligte vielmehr Rente nach einer MdE von 20 v.H. über den 30. September 1976 hinaus.
Mit Bescheid vom 20. April 1977 gab die Beklagte dem Kläger zur stationären Heilbehandlung zwecks Verbesserung der Funktionsfähigkeit der linken Hand als zumutbarer Maßnahme der Heilbehandlung auf, sich am 10. Mai 1977 In der BG-Klinik einzufinden und kündigte an, wenn der Kläger ohne triftigen Grund sich nicht stationär behandeln lasse, werde sie die Verletztenrente entziehen.
Das Sozialgericht (SG) Heilbronn hat die Klage abgewiesen, weil die vorgesehene Amputation gefahrlos sei und zu einer Besserung der Unfallfolgen führe (Urteil vom 13. Dezember 1978). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 20. April 1977 aufgehoben (Urteil vom 18. Juni 1980).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und der §§ 63 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) 1.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen, hilfsweise: den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Im Ergebnis hat das LSG zutreffend den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Die Beklagte war nicht berechtigt, dem Kläger aufzutragen, sich zur stationären Heilbehandlung zwecks Verbesserung der Funktionsfähigkeit der linken Hand als zumutbarer Maßnahme der Heilbehandlung am 10. Mai 1977 in der BG-Klinik einzufinden und dem Kläger gleichzeitig anzukündigen, sie werde ihm die Verletztenrente entziehen, wenn er sich ohne triftigen Grund nicht stationär behandeln lasse (§ 66 Abs. 3 SGB 1). Das LSG hat den Kläger nach § 63 i.V.m. § 65 Abs. 2 SGB 1 nicht für verpflichtet gehalten, in den von der Beklagten vorgesehenen Eingriff einzuwilligen. Als Maßstab dafür, ob ein Eingriff zumutbar und daher duldungspflichtig ist, hat es für erforderlich gehalten, zwei Zustände miteinander zu vergleichen, nämlich den derzeitigen Unfallfolgezustand als Istzustand und den durch den beabsichtigten Eingriff erreichbaren Zustand als Sollzustand. Erst aus diesem Vergleich lasse sich im Einzelfall, so hat das LSG ausgeführt, ableiten, ob der Eingriff weiteren Schaden für Leben oder Gesundheit mit sich bringen könne, ob er mit erheblichen Schmerzen verbunden sei oder ob er einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeute. Nach Würdigung der einzelnen Umstände des Falles hat das LSG aus ihnen gefolgert, eine durch Teilamputation herbeigeführte verbesserte Greiffunktion der linken Hand werde sich auf die berufliche Arbeit des Klägers praktisch kaum auswirken und insofern den Gesundheitszustand des Klägers nicht bedeutend verbessern, so daß es für die vorgesehene Heilbehandlung schon an der in § 63 SGB 1 verlangten Voraussetzung der durch sie herbeizuführenden Besserung des Gesundheitszustandes fehle. Darüber hinaus hat das Berufungsgericht für den Fall, daß die Voraussetzungen des § 63 SGB 1 erfüllt wären, die von der Beklagten verlangte Einwilligung des Klägers in den operativen Eingriff für unzumutbar erklärt.
Die Beklagte, die die Feststellungen des Berufungsgerichts mit der Verfahrensrüge, das LSG habe die Grenzen des ihm zustehenden Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) überschritten, angreift, vermag hiermit deshalb nicht gehört zu werden, weil es aus Rechtsgründen, die das LSG allerdings in dieser Form nicht erwogen hat, auf die angegriffenen Tatsachenfeststellungen nicht ankommt. Dafür ist folgendes maßgebend:
Nach § 66 Abs. 2 SGB 1 kann der Leistungsträger u.a. bis zur Nachholung der bislang verweigerten Mitwirkung eine Leistung entziehen, wenn derjenige, der eine Sozialleistung wegen MdE erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 62 bis 65 SGB 1 nicht nachkommt und unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß deshalb die Erwerbsfähigkeit nicht verbessert wird. Das Recht zur Rentenentziehung steht der Beklagten nicht zu, da jedenfalls auch eine verbesserte Greiffähigkeit der Iinken Hand des Klägers noch keine Besserung des Gesundheitszustandes im Sinne des § 63 SGB 1 ist, was zu den Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 SGB 1 gehört. Nach § 63 SGB 1 soll sich derjenige, der wegen Krankheit oder Behinderungen Sozialleistungen beantragt oder erhält, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, daß sie eine Besserung seines Gesundheitszustandes herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird. Zwar kann eine Besserung von Störungen körperlicher Funktionen zugleich eine Besserung des Gesundheitszustandes sein. Das ist aber schon dann nicht der Fall, wenn sich diese Besserung nur im beruflichen Bereich auswirkt (vgl. BSGE 37, 138, 141), wovon im bisherigen Verfahren allein die Rede war. Aber auch wenn die Besserung der Greiffähigkeit außerhalb des Berufslebens eine Besserung darstellen würde, wäre diese Besserung dem Nachteil gegenüberzustellen, daß die Besserung durch den Verlust des Fingers erkauft werden müßte. Selbst wenn nach Abwägung aller objektiv faßbaren Umstände die Besserung der Greiffähigkeit trotz des damit verbundenen Verlustes eines Fingers eine Besserung des Gesundheitszustandes wäre, wäre der Kläger gleichwohl nicht verpflichtet, den operativen Eingriff zu dulden. Die Besserung des Gesundheitszustandes ist nämlich nicht nur nach objektiven Maßstäben zu messen. Wenn zwischen dem erstrebten Heilerfolg und dem mit dem operativen Eingriff mit Sicherheit verbundenen irreparablen Körperschaden abgewogen werden muß, darf nicht außer acht gelassen werden, wie der Betroffene selbst den Heilerfolg und den Körperschaden bewertet. Hier ist nicht nur die Vorstellung eines "normalen" Menschen, sondern auch die Vorstellung des jeweiligen Betroffenen maßgebend, um dessen körperliche Unversehrtheit es geht (vgl. BSGE 20, 166; 28, 14, 16). Die Vorstellung des Betroffenen kann jedenfalls dann allein maßgebend sein, wenn diese Vorstellung in sich verständlich ist und es nach objektiven Gesichtspunkten nicht zweifelsfrei erscheint, daß der Heilerfolg den Körperschaden bei weitem überwiegt.
Im Falle des Klägers hat dieser sich davon leiten lassen, die zustimmungsbedürftige Fingeramputation sei eine Art Selbstverstümmelung, die ihn mehr belaste als die durch die Fingerlähmung hervorgerufene Greifschwäche. Hinzu tritt, daß keineswegs nach objektiven Gesichtspunkten feststeht, daß der zu erwartende Heilerfolg den Körperschaden bei weitem überwiegt, denn selbst bei günstigem Verlauf könnte sich die Beklagte nur berechtigt sehen, die MdE um 10 v.H. herabzusetzen.
Bei der Abwägung von Heilerfolg und Körperschaden fällt nicht ins Gewicht, daß bei der hier beabsichtigten Herabsetzung der MdE die Rente des Klägers insgesamt entfallen müßte. Es kann offenbleiben, ob die Mitwirkungspflicht des § 63 SGB 1 nur im Interesse des Betroffenen selbst zu sehen ist oder ob auch finanzielle Interessen des Leistungsträgers beachtet worden müssen (vgl. Maier, DRV 1979, 61; Rüfner, VSSR 1977, 347). Selbst wenn man das letztere entgegen dem Wortlaut der Vorschrift angenommen werden könnte, ist die finanzielle Ersparnis angesichts des erheblichen körperlichen Eingriffs jedenfalls ohne entscheidendes Gewicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen