Leitsatz (redaktionell)
1. Der Zusatz im Unterhaltsvergleich: "Vorstehende Ausfertigung wird dem Kläger in Höhe von DM 15,-- monatlich zum Zwecke der Zwangsvollstreckung erteilt" erfaßt nur einen so geringen Betrag, daß er keinen Unterhalt iS des RVO § 1265 darstellt.
2. Während des Bestehens der Ehe ist ist die gesetzliche Unterhaltspflicht nach BGB § 1360 unabdingbar.
Bei Beginn der Ausbildung ist im Einzelfall nicht zu übersehen, ob sie in der Mindestzeit beendet wird oder verlängert werden muß oder sonstwie unterbrochen wird, so daß sie erst später abgeschlossen werden kann. Diese Ungewißheit erlaubt es, die Zeit der Berufsausbildung als wirtschaftlichen Dauerzustand anzusehen. Eine Unterhaltsunfähigkeit des Versicherten, die sich bei Anwendung des EheG § 59 ergeben würde, soll bei AVG § 42 S 2 (= RVO § 1265 S 2) keine Rolle spielen.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1965-06-09; AVG § 42 S. 1 Fassung: 1965-06-09; EheG § 59; BGB § 1360; RVO § 1265 S. 2; AVG § 42 S. 2
Tenor
Die Revisionen der Klägerin und der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. September 1970 werden zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Umstritten ist, ob die Klägerin Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes hat (§ 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Der Versicherte, von Beruf Ingenieur, ist im Dezember 1957 gestorben. Im Dezember 1956 ist die Ehe mit der Klägerin rechtskräftig aus seinem Verschulden geschieden worden. Aus der Ehe stammen drei Kinder, die 1941, 1944 und 1945 geboren sind; 1948 ist ein nichteheliches Kind des Versicherten geboren. Der Versicherte hat nicht wieder geheiratet. Die Klägerin, die ehelichen Kinder und der Versicherte hatten in einem Unterhaltsprozeß im Dezember 1952 vor dem Amtsgericht einen Unterhaltsvergleich abgeschlossen. Darin hatte sich der Versicherte, der damals arbeitslos war, verpflichtet, die Familienzuschläge und nach Arbeitsaufnahme ein Drittel seines monatlichen Nettoeinkommens an die Klägerin und die Kinder abzuführen; er hatte in dem Vergleich auf die Erhebung einer Abänderungsklage nach § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verzichtet, "jedoch nur für den Fall seiner Nichtwiederverheiratung". Er zahlte im April 1957 80 DM und im August 1957 50 DM.
Der Versicherte war teils in Beschäftigungsverhältnissen, teils freiberatend tätig. Er verdiente von Januar bis April 1955 insgesamt 2.400,- DM brutto, von Juni bis Dezember 1955 insgesamt 4.299,- DM, im Dezember 1956 600,- DM und von Januar bis 8. Mai 1957 2.000,- DM. Nach einer Vereinbarung mit einem Unternehmen von Dezember 1957 sollte er von Januar 1958 an als Berater gegen ein Honorar von monatlich 1.200,- DM tätig werden.
Die Klägerin war von 1955 bis Ostern 1957 mit einem monatlichen Gehalt von 264,38 DM brutto beschäftigt. Von Mai bis November 1957 war sie in einem Schülerheim gegen monatlich 180,- DM netto bei freier Kost und Wohnung (brutto ca. 325 DM) beschäftigt. Im November 1957 begann sie eine 4-semestrige Ausbildung als technische Lehrerin. Die Studienkosten wurden vom Land Hessen übernommen. Dazu erhielt sie einen Zuschuß von monatlich 150,- DM.
Die Kinder befanden sich vom Dezember 1956 bis Dezember 1957 in einem Schülerheim. Die Kosten wurden aus dem Bundesjugendplan bestritten.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenrente an die Klägerin ab (Bescheid vom 20. März 1959). Das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Witwenrente vom 1. Juli 1958 (Antragsmonat) an zu gewähren (Urteil vom 16. August 1967). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat das Urteil geändert und die Klage insoweit abgewiesen, als das SG Witwenrente bis 30. Juni 1965 zugesprochen hat; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 29. September 1970).
Das LSG hat den Anspruch der Klägerin für die Zeit seit 1. Juli 1965 nach § 42 Satz 2 AVG bejaht: Der Versicherte habe der Klägerin zur Zeit seines Todes bei seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen keinen Unterhalt leisten müssen. Die Klägerin sei während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten unterhaltsbedürftig gewesen. Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand sei der Zeitraum seit Mitte November 1957, als die Klägerin sich in Ausbildung befunden und nur einen Unterhaltsbeitrag von monatlich 150,- DM bezogen habe. Bei der Bemessung des erforderlichen Mindestunterhalts der Klägerin sei von den Sozialhilferegelsätzen auszugehen. Danach habe der Unterhaltsbedarf der Klägerin Ende 1957 etwa bei 200,- DM monatlich gelegen. Bei eigenen Einkünften von 150,- DM sei die Klägerin somit unterhaltsbedürftig gewesen.
Für die Zeit vor dem 1. Juli 1965 könne die Klägerin Hinterbliebenenrente nicht beanspruchen (§ 42 Satz 1 AVG).
Der Versicherte habe nicht während des ganzen Jahres vor seinem Tode Unterhalt tatsächlich gewährt. Er habe während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes keinen Unterhalt leisten müssen, da er nach seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen dazu nicht in der Lage gewesen sei. Der Anspruch könne nicht auf den Vergleich von Dezember 1952 als sonstigen Grund gestützt werden. Auch wenn damit der Unterhalt für die Zeit nach der Scheidung habe geregelt werden sollen, habe der Vergleich im maßgebenden Zeitraum der Klägerin doch keinen Unterhaltsanspruch gewährt; denn sie habe nach dem Vergleich zusammen mit den Kindern nur Anspruch auf einen Bruchteil des Erwerbseinkommens des Versicherten gehabt. Der Versicherte sei aber ohne Erwerbseinkommen gewesen.
Die Klägerin und die Beklagte haben Revision eingelegt.
Die Klägerin hat beantragt,
das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte hat beantragt,
das Urteil des LSG zu ändern, das Urteil des SG in vollem Umfang aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin meint, das LSG habe zu Unrecht die Unterhaltsfähigkeit des Versicherten während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes verneint. Der Versicherte sei während dieses Zeitraumes auf Grund des Vergleichs zum Unterhalt verpflichtet gewesen. Er sei nur vorübergehend ohne Einkünfte gewesen; denn die Beratertätigkeit von Januar 1958 an sei schon vereinbart gewesen.
Die Beklagte bekämpft die Auffassung des LSG, die Zeit von Mitte November 1957 bis zum Tode des Versicherten sei der letzte wirtschaftliche Dauerzustand und die Klägerin sei in dieser Zeit unterhaltsbedürftig gewesen. Das LSG habe die von vornherein gegebene Befristung der Ausbildung zu Unrecht für rechtsunerheblich erachtet.
Aber selbst wenn man den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vom Beginn der Ausbildung an rechne, bestehe kein Anspruch auf Hinterbliebenenrente, weil die Klägerin in dieser Zeit nur in geringfügigem Umfang unterhaltsbedürftig gewesen sei. Im Unterhaltsrecht gebe es keine an den Sozialhilfesätzen zu messende untere Grenze des Unterhaltsbedarfs. Vielmehr habe der schuldige Ehemann den nach den zur Zeit der Scheidung bestehenden Einkommens- und Vermögensverhältnissen beider Ehegatten angemessene Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte der Frau nicht ausreichten. Bei Heranziehung der Sozialhilfesätze wären nicht die tatsächlichen Lebensverhältnisse maßgebend, sondern bestimmte Lebensverhältnisse würden fingiert. Dies widerspreche dem Unterhaltsrecht. Zur Zeit der Scheidung hätten die Klägerin und der Versicherte zusammen ein Einkommen von etwa 800,- DM netto gehabt. Unterhaltspflichten des Versicherten gegenüber minderjährigen Kindern seien zu berücksichtigen. Dann wären für den Versicherten und die Klägerin 480,- DM verblieben. Ein Drittel davon = 160,- DM wäre als angemessener Unterhalt der Klägerin zur Zeit der Scheidung anzusehen. Sie habe während der Ausbildung nur 10,- DM weniger erhalten. Ein so geringer Unterhaltsanspruch könne den Anspruch nach § 42 AVG nicht auslösen.
Für die Zeit bis 1. Juli 1965 könne ein Anspruch nicht auf § 42 Satz 1 AVG gestützt werden. Der Vergleich von Dezember 1952 sei auf die Verhältnisse während der Ehe abgestellt gewesen. Zudem habe er nicht nur die Klägerin, sondern auch die Kinder begünstigt und die Leistungen nicht bruchteilmäßig aufgeteilt. Der Anteil der Klägerin sei nur geringfügig gewesen.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs.2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revisionen der Klägerin und der Beklagten sind unbegründet. Der Entscheidung des LSG ist im Ergebnis zuzustimmen.
Das LSG hat zu Recht verneint, daß der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Die zwei Zahlungen im Jahre 1957 für die Klägerin und die Kinder reichen zur Erfüllung der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG nicht aus.
Das LSG hat auch zu Recht die zweite Alternative des § 42 Satz 1 AVG, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt aus "sonstigen Gründen" zu leisten hatte, als nicht erfüllt angesehen. Der Unterhaltsvergleich ist nicht ein "sonstiger Grund". Aus dem Verzicht des Versicherten auf eine Abänderungsklage bei Nichtwiederverheiratung kann entnommen werden, daß der Vergleich auch die Zeit nach der Scheidung umfassen sollte. Zwar kann ein Vollstreckungstitel einen sonstigen Grund bilden, weil er einen selbständigen Vollstreckungsanspruch gegen den Staat begründet und vom materiell-rechtlichen Inhalt des verpflichtenden Titels unabhängig ist (BSG 20, 1). Der Zusatz im Unterhaltsvergleich: "Vorstehende Ausfertigung wird dem Kläger in Höhe von DM 15,- monatlich zum Zwecke der Zwangsvollstreckung erteilt" erfaßt aber nur einen so geringen Betrag, daß er, selbst wenn er der Klägerin allein zustände, keinen Unterhalt im Sinne des § 42 AVG darstellt (SozR Nr. 26, 41, 49 zu § 1265 RVO).
In dem Vergleich ist nicht eine besondere materiell-rechtliche, vertragliche Regelung zu sehen, die die gesetzliche Unterhaltspflicht für Zeiten ausschließen sollte, in denen der Versicherte weder Arbeitslosenunterstützung mit Familienzuschüssen noch Arbeitseinkommen erhielt. Eine solche Auslegung wäre gesetzwidrig; sie ließe außer Betracht, daß während des Bestehens der Ehe die gesetzliche Unterhaltspflicht nach § 1360 BGB unabdingbar ist. Zwar ist für die Zeit nach der Scheidung eine vertragliche Regelung der Unterhaltspflicht nach § 72 EheG möglich. In dem Vergleich wird aber insoweit nicht ausdrücklich zwischen den Zeiten während des Bestehens der Ehe und nach der Scheidung unterschieden. Aus dem Verzicht auf eine Abänderungsklage für den Fall der Nichtwiederverheiratung kann nicht gefolgert werden, daß die Unterhaltspflicht nach der Scheidung für Zeiten, in denen der Versicherte weder Arbeitslosenunterstützung noch Arbeitseinkünfte bezog, überhaupt entfallen sollte. In dem Vergleich sind lediglich die Art und die Höhe der Leistungen des Versicherten bei den üblichen Einkommensarten - Arbeitslosenunterstützung, Arbeitsentgelt - geregelt.
Das LSG hat zu Recht auch einen Unterhaltsanspruch der Klägerin nach der ersten Alternative des § 42 Satz 1 AVG verneint. Danach muß der gesetzliche Unterhaltsanspruch im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten bestanden haben. Es ist nicht rechtswidrig, daß das LSG als letzten wirtschaftlichen Dauerzustand die Monate November und Dezember 1957 angesehen hat, nachdem die Klägerin ihre Berufsausbildung begonnen hatte. Zwar ist die Zeit der Berufsausbildung im Berufsleben einer Person nur ein vorübergehender Zustand. Damit ist er aber nicht datumsmäßig fixiert, wie dies bei einem von vornherein befristeten Arbeitsverhältnis der Fall ist. Wenn auch eine Mindestdauer für die Ausbildung zu einem bestimmten Beruf allgemein festgelegt ist, so ist doch im Einzelfall bei Beginn der Ausbildung, zumal wenn sie erheblich länger als ein Jahr dauern muß, nicht zu übersehen, ob sie in der Mindestzeit beendet wird oder verlängert werden muß oder sonstwie unterbrochen wird, so daß sie erst später abgeschlossen werden kann. Diese Ungewißheit erlaubt es, die Zeit der Berufsausbildung der Klägerin als wirtschaftlichen Dauerzustand anzusehen. Während dieses letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes konnte der Versicherte der Klägerin mangels Einkommens oder Vermögens keinen Unterhalt leisten. Deshalb besteht schon aus diesem Grund kein Unterhaltsanspruch der Klägerin. Es kommt für § 42 Satz 1 AVG nicht weiter darauf an, ob sie unterhaltsbedürftig war.
Dem LSG ist zuzustimmen, daß es einen Rentenanspruch der Klägerin nach § 42 Satz 2 AVG vom 1. Juli 1965 an bejaht hat. Danach ist Satz 1 des § 42 AVG anzuwenden - die Nichtgewährung von Witwenrente vorausgesetzt - wenn eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestanden hat, d.h. wenn ein Anspruch der Geschiedenen nach Satz 1 nur aus dem Grund nicht besteht, weil der Versicherte nicht unterhaltsfähig war. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Die Unterhaltsfähigkeit des Versicherten ist gemäß § 58 EheG 1946 nach den Lebensverhältnissen, d.h. nach Beruf- und Einkommensverhältnissen beider Ehegatten zur Zeit der Scheidung zu beurteilen. Danach richtet sich der Anspruch der geschiedenen Frau auf angemessenen Unterhalt. Verpflichtungen des Versicherten, die nach § 59 EheG zu berücksichtigen wären, können bei § 42 Satz 2 AVG nicht berücksichtigt werden; denn eine Unterhaltsunfähigkeit des Versicherten, die sich bei Anwendung des § 59 EheG ergeben würde, soll bei Satz 2 des § 42 AVG gerade keine Rolle spielen. Es wird vielmehr unterstellt, daß der Versicherte unterhaltsfähig nach § 58 EheG wäre (vgl. Zimmer, Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 2. Aufl., Anm. 13 zu § 1265 RVO).
Zur Zeit der Scheidung im Dezember 1956 hatten der Versicherte und die Klägerin ein Einkommen von monatlich zusammen ca. 800,- DM netto. Als angemessener Unterhalt der Ehefrau wird ein Anteil am Gesamteinkommen von etwa 1/3 bis 3/7 angesetzt. Dies wären hier etwa 265,- bis 340,- DM. Darauf ist das eigene Einkommen der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten anzurechnen. Dabei bleibt nach Abzug des Zuschusses von monatlich 150,- DM an die Klägerin im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand noch ein so erheblicher Betrag als Anspruch auf angemessenen Unterhalt offen, daß er Unterhalt im Sinne des § 42 AVG, d.h. etwa 25 v.H. des Gesamtbedarfs, darstellt. Somit war die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten unterhaltsbedürftig.
Die Revision der Beklagten ist deshalb nicht begründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen