Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Rentenbeginn
Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Streitig ist der Rentenbeginn.
Der Kläger, von Beruf Elektriker, bezog von der beigeladenen Betriebskrankenkasse (BKK) bis zum 5. März 1975 Krankengeld. Am 5. Februar 1975 hatte er bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme beantragt. Diese wurde vom 30. April bis zum 11. Juni 1975 in einem Rheumakrankenhaus durchgeführt. Für deren Dauer und die Anschlußzeit bis zum 18. Juni 1975 erhielt der Kläger von der Beklagten Übergangsgeld. Am 5. August 1975 stellte er den Antrag auf Rente. Die Beklagte bewilligte ihm, ausgehend von einem bereits im Juli 1973 eingetretenen Versicherungsfall, für die Zeit vom 1. August 1975 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 6. Februar 1976).
Das Sozialgericht Reutlingen (SG) gab dem Klageantrag - Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente schon ab 19. Juni 1975 - statt (Urteil vom 24. Juli 1978). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hob die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage ab (Urteil vom 6. April 1979).
Es hat ausgeführt:
§ 1241d Abs. 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) führe hier zu keinem früheren Rentenbeginn. Danach könne ein Antrag auf Rehabilitation nur dann als Rentenantrag gelten, wenn bereits bei der Entscheidung über den Antrag die Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit nicht zu erwarten sei. Das ergäben Ausnahmecharakter, Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn der Vorschrift. Ein Antrag, dem entsprochen worden sei, könne nicht mehr in einen anderen Antrag umgedeutet werden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision wendet sich der Kläger gegen die Rechtsauffassung des LSG: Ob die Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit zu erwarten sei, könne nicht nach der subjektiven Betrachtungsweise, sondern müsse nach objektiven Gesichtspunkten geprüft werden. Deshalb komme es nicht darauf an, daß der Versicherungsträger zunächst - objektiv unrichtig - die Voraussetzungen für eine Rehabilitationsmaßnahme als gegeben angesehen und diese Maßnahme durchgeführt habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. April 1979 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. Juli 1978 zurückzuweisen.
Die Beigeladene schließt sich dem Antrag des Klägers an.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, der Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" bezwecke nicht nur eine Rangfolge der verschiedenen Leistungen, sondern auch den grundsätzlichen Ausschluß der Kumulierung.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des landessozialgerichtlichen Urteils. Der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit besteht wie das SG antragsgemäß erkannt hat - bereits mit, Wirkung vom 19. Juni 1975.
Daß der Kläger seit Juli 1973 erwerbsunfähig ist, hat das LSG unwidersprochen angenommen; der Senat schließt sich dieser rechtlichen Würdigung an. Zwischen den Beteiligten besteht auch kein Streit, daß bei dieser Sach- und Rechtslage die Erwerbsunfähigkeitsrente erst mit dem 1. August 1975 beginnt, wenn lediglich der in diesem Monat gestellte Rentenantrag maßgebend ist (§ 1290 Abs. 2 RVO).
Hier indessen gilt der Rentenantrag als schon am 5. Februar 1975 gestellt. Das folgt aus § 1241d Abs. 3 RVO. Nach dieser Vorschrift gilt der Antrag auf Rehabilitation als Antrag auf Rente, wenn der Versicherte berufs- oder erwerbsunfähig ist und nicht zu erwarten ist, daß die Erwerbsfähigkeit erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Entgegen der von der Vorinstanz und der Beklagten vertretenen Ansicht setzt § 1241d Abs. 3 RVO nicht voraus, daß noch keine Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt worden sei. Vielmehr gilt der Antrag auf Rehabilitation auch und immer dann als Rentenantrag, wenn sich die Erwerbsfähigkeit des (berufs- oder erwerbsunfähigen) Versicherten nicht wiederherstellen läßt - also unabhängig davon, ob eine (erfolglose) Rehabilitationsmaßnahme noch stattgefunden hat oder nicht. Dies ist vom 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 10. Oktober 1979 - 3 RK 25/79 - (= SozR 2200 § 1241d Nr. 1) sowie vom 11. Senat mit Urteil vom 31. Januar 1980 - 11 RA 36/79 - entschieden worden. Dem schließt sich der Senat im Ergebnis an.
Die Ansicht des LSG und der Beklagten, der Wortlaut des § 1241d Abs. 3 RVO spreche dafür, den Antrag auf Rehabilitation nur dann als Antrag auf Rente gelten zu lassen, wenn bei Entscheidung über die Rehabilitationsmaßnahme kein günstiger Einfluß auf die Erwerbsfähigkeit zu erwarten (gewesen) ist und dies zu einer negativen Entscheidung (ge-) führt (hat), hält der Senat in dieser allgemeinen Form nicht für richtig. Immerhin hat sich der Gesetzgeber in dem mit dem Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl. I, 1881) eingeführten § 1241d Abs. 3 RVO einer anderen Formulierung bedient als in § 1236 Abs. 1 RVO, wo darauf abgehoben ist, daß die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Der Passus "nicht zu erwarten ist" schließt die Notwendigkeit einer "objektiven nachträglichen Prognose" nicht ein, sondern gestattet auch die lediglich rückschauende, im nachhinein durch bessere Einsicht gewonnene Betrachtung. Die Rechtsprechung hat wiederholt bei Begriffen, die nach ihrem bloßen Wortlaut an eine vorausschauende Betrachtung anknüpfen, der rückschauenden Bewertung unter Berücksichtigung des späteren tatsächlichen Geschehens den Vorzug gegeben, namentlich wenn erst dann eine eindeutige und abschließende Beurteilung ermöglicht wird (vgl. zu den Worten "auf nicht absehbare Zeit" in § 1247 Abs. 2 S. 1 RVO BSG in SozR 2200 § 1247 Nr. 16 S. 27/28 und Leitsatz; § 580 Nr. 1 S. 4; ferner - für das Gebiet der Arbeitsförderung die vom 11. Senat im Urteil vom 31. Januar 1980 erwähnten Entscheidungen BSGE 37, 163, 171 und SozR 4100 § 36 Nr. 16 S. 44). Diese rückschauende Betrachtung muß nach der Ansicht des Senats im Rahmen des § 1241d Abs. 3 RVO jedenfalls dann möglich sein, wenn - wie hier - noch in zeitlichem und ursächlichem Zusammenhang mit dem Rehabilitationsverfahren die Erkenntnis gewonnen worden ist, es sei mit keinem Erfolg (mehr zu rechnen. In diesem Zusammenhang hat der 11. Senat bereits darauf hingewiesen, daß § 1241d Abs. 3 RVO die Ablehnung des Rehabilitationsantrages nicht als Tatbestandsmerkmal enthält. Deshalb kann auch der Einwand, der Antrag sei durch die gewährte Rehabilitationsmaßnahme "verbraucht", nicht überzeugen. Im übrigen müßte sonst der "Verbrauch" des Antrages auch im Falle der Ablehnung des Antrages auf Rehabilitation eingetreten sein.
Würde man, wie es das LSG möchte, die spätere Entwicklung und überhaupt spätere Umstände dafür, daß die Erhaltung, wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit "nicht zu erwarten ist" unberücksichtigt lassen, so könnte es entgegen der vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung dann gleichwohl nicht offen bleiben, ob sich die Prognose "möglicherweise als von vornherein fragwürdig oder gar unzutreffend erweist". Denn gerade in konsequentem Verfolg einer wortwörtlichen Auslegung müßte dann überprüfbar sein und im einzelnen festgestellt werden, daß objektiv die in § 1241d Abs. 3 RVO umschriebene Erwartung nicht bestanden hat. Insbesondere läßt sich entgegen der Meinung des LSG und der Beklagten (ebenso anscheinend Kugler, Rehabilitation in der Rentenversicherung, BfA-Schriftenreihe, Anm. zu § 18d Abs. 3 AVG S. 190, 191) dann auch nicht folgern, über diese Frage sei nach Bewilligung der Rehabilitation nicht mehr zu befinden, weil die Maßnahme nur bei einer positiven Prognose habe durchgeführt werden können; sonst würde schon aus einem Handeln des Versicherungsträgers zugleich im Ergebnis geschlossen, daß dieser richtig gehandelt habe und deshalb berechtigt gewesen sei, keinen fiktiven Rentenantrag anzunehmen - obwohl die Voraussetzungen der Fiktion vorlagen und der Versicherte ein rechtliches Interesse daran hat, die Folgen der Fiktion des schon gestellten Rentenantrags für sich zu beanspruchen. Daraus erhellt, daß bei einer engen wortwörtlichen Auslegung in Fällen wie dem vorliegenden die Schwierigkeiten der "objektiven nachträglichen Prognose" und deren Überprüfung aufträten, mit denen sich Versicherungsträger und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit beschäftigen müßten. Dies zeigt aber auch, daß es schwerlich der wirkliche, in § 1241d Abs. 3 RVO erklärte Wille des Gesetzgebers gewesen seit kann, die Fiktion der Rentenantragstellung von der Ablehnung eines Rehabilitationsverfahrens abhängig zu machen.
Die Entstehungsgeschichte, die zu § 1241d Abs. 3 RVO geführt hat, und der Zusammenhang, in dem diese Vorschrift steht und gesehen werden muß, stützen die obigen Ausführungen. In der Regierungsbegründung heißt es zu § 183 Abs. 7 RVO (BT-Drucks. 7/1237 S. 64), nur wenn die Erwerbsfähigkeit nicht wiederhergestellt werden könne, gelte der Antrag auf Rehabilitation nach § 1241d Abs. 3 RVO als Antrag auf Rente. Hier ist also, worauf der 3. und 11. Senat in ihren Urteilen bereits hingewiesen haben, weder der Prognose des Rentenversicherungsträgers noch der Ablehnung des Rehabilitationsantrages Bedeutung beigemessen, sondern einzig auf die tatsächlich nicht wiederherzustellende Erwerbsfähigkeit abgehoben worden. § 1241d Abs. 3 RVO ist letztlich ein normierter Unterfall des im RehaAnglG verstärkt zum Ausdruck gekommenen Grundsatzes "Rehabilitation vor Rente", wonach Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit erst dann bewilligt werden sollen, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation durchgeführt worden sind oder wenn ein Erfolg solcher Maßnahmen nicht zu erwarten ist (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 RehaAnglG nebst Begründung, BT-Drucks. 7/1237 S. 56). Entsprechend diesem Grundsatz soll der Versicherte nach Möglichkeit zunächst den Weg der Rehabilitation versuchen. In Übereinstimmung damit hat des weiteren die Krankenkasse nicht mehr, wie früher, das Recht, den erwerbsunfähigen Versicherten zur Stellung eines Rentenantrag anzuhalten; sie kann ihn nach der Neufassung des § 183 Abs. 7 RVO aufgrund des RehaAnglG nur noch auffordern, einen Antrag auf Maßnahmen zur Rehabilitation beim Rentenversicherungsträger zu stellen.
Die vorstehenden Überlegungen führen hin zum Sinn und Zweck der Vorschrift. Dieser spricht in starkem Maß für die hier vertretene Ansicht. Das ist in den beiden erwähnten Entscheidungen des BSG eingehend erörtert worden. Dort ist sinngemäß ausgeführt, ein erwerbsunfähiger Versicherter dürfe nicht dadurch benachteiligt werden, daß er, im Einklang mit der Zielsetzung des RehaAnglG, mit der Stellung des Antrags auf Rehabilitation nicht zugleich die Rente beantrage. Ein solcher Nachteil trete aber in Form eines späteren Beginns des Übergangsgeldes oder der Rente ein, wenn - wie auch im vorliegenden Fall - zunächst ein erfolgloses Rehabilitationsverfahren durchgeführt worden sei und man dann die in § 1241d Abs. 3 RVO normierte Fiktion verneine; diese ungerechtfertigte Schlechterstellung ergebe sich jedenfalls dann, wenn der Versicherte keinen Anspruch auf Krankengeld habe oder das Krankengeld geringer als die Leistung des Rentenversicherungsträgers sei. Schlösse man sich der Gegenmeinung an, so könnten derartige Nachteile - wie die beim BSG anhängig gewordenen Verfahren zeigen - nur präventiv dadurch vermieden werden, daß man dem berufs- oder erwerbsunfähigen Versicherten riete, zusammen mit einen Rehabilitationsantrag stets vorsorglich auch einen Rentenantrag zu stellen. Dieser Ausweg, der dann als legitim angesehen werden müßte, würde aber nicht nur die Vorschrift des § 1241d Abs. 3 RVO zur Bedeutungslosigkeit verurteilen, sondern auch den erklärten Willen des Gesetzgebers des RehaAnglG unterlaufen.
Die Revision des Klägers mußte daher Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.4 RJ 53/79
1980-02-21BSG
Bundessozialgericht
Fundstellen