Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankengeldanspruch. Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung. rechtzeitiges Tätigwerden des Versicherten. persönliches Aufsuchen der Arztpraxis zu üblicher Öffnungszeit am ersten Tag nach einer zuvor festgestellten Arbeitsunfähigkeit ohne vorherige Terminvereinbarung
Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter wahrt seinen Anspruch auf weiteres Krankengeld durch rechtzeitiges Tätigwerden grundsätzlich auch dann, wenn er ohne zuvor vereinbarten Termin am ersten Tag nach einer zuvor festgestellten Arbeitsunfähigkeit die Praxis des behandelnden Arztes zu üblicher Öffnungszeit persönlich aufsucht, um wegen derselben Krankheit eine Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung zu erlangen.
Normenkette
SGB V § 44 Abs. 1, § 46 S. 1 Nr. 2 Fassung: 2015-07-16, S. 2 Fassung: 2015-07-16, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 7, § 192 Abs. 1 Nr. 2; AURL § 5 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch im Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Im Streit steht die Zahlung von weiterem Krankengeld vom 18.6. bis 11.9.2018.
Die 1966 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin bezog fortlaufend und über das Ende ihres Beschäftigungsverhältnisses zum 30.4.2018 hinaus Krankengeld wegen Arbeitsunfähigkeit, zuletzt ärztlich festgestellt bis voraussichtlich Sonntag, 17.6.2018. Zu einer Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit durch - wie schon zuvor - ihren Hausarzt am 18.6.2018 kam es nicht. Die Klägerin suchte ohne vorherige Terminvereinbarung an diesem Tag die Arztpraxis auf und erhielt wegen hohen Patientenaufkommens einen Termin für den 20.6.2018, an dem die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wurde. Die Zahlung von weiterem Krankengeld ab dem 18.6.2018 lehnte die Beklagte ab, weil die Fortdauer von Arbeitsunfähigkeit nicht am 18.6.2018, sondern erst am 20.6.2018 ärztlich festgestellt worden sei und diese Feststellungslücke die Mitgliedschaft aus dem Beschäftigungsverhältnis der Klägerin mit Anspruch auf Krankengeld nicht aufrechterhalten habe (Bescheid vom 21.6.2018; Widerspruchsbescheid vom 25.7.2018).
Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide verurteilt, der Klägerin im streitigen Zeitraum Krankengeld zu gewähren (Urteil vom 19.12.2018). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 15.3.2022). Die Voraussetzungen für den Krankengeldanspruch seien erfüllt. Die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung aufgrund Beschäftigung sei aufgrund des Anspruchs auf Krankengeld im streitigen Zeitraum erhalten geblieben, weil die Lücke in der ärztlichen Feststellung von Arbeitsunfähigkeit nicht leistungsschädlich sei. Die Klägerin habe im Sinne der Rechtsprechung des BSG alles ihr Zumutbare zur Erlangung einer lückenlosen Feststellung von Arbeitsunfähigkeit getan, indem sie zu diesem Zweck am 18.6.2018 zu üblicher Öffnungszeit die Praxis ihres behandelnden Arztes aufgesucht habe, dort aber wegen Überlastung des Arztes aufgrund hohen Patientenaufkommens mit ihrem Begehren abgewiesen worden sei. Ihr sei vom Praxispersonal ein Termin für den 20.6.2018 gegeben worden in der Vorstellung, dass eine spätere Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung unschädlich für den Krankengeldanspruch sei. Dieses Fehlverhalten auf Seiten der Vertragsarztpraxis sei der Beklagten zuzurechnen. Hieran ändere nichts, dass die Klägerin ohne vorherige Terminvereinbarung erst am nächsten Tag nach der zuvor festgestellten Arbeitsunfähigkeit ihren Arzt aufgesucht habe, denn dies stelle keine krankengeldschädliche Obliegenheitsverletzung dar.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 46 Satz 1 Nr 2 und § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V. Die Klägerin habe ohne rechtzeitig vereinbarten Termin erstmals am letztmöglichen Tag die Arztpraxis aufgesucht und sich um einen Arzttermin zur erneuten Feststellung von Arbeitsunfähigkeit bemüht. Sie habe nicht damit rechnen können, kurzfristig am gleichen Tag vorstellig werden zu können. Das Risiko, nicht umgehend einen Termin zu erhalten, liege allein in ihrem Bereich und nicht im Verantwortungsbereich des Arztes.
Die Beklagte beantragt,
die die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. März 2022 und des Sozialgerichts Augsburg vom 19. Dezember 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass die Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten über den 17.6.2018 hinaus erhalten geblieben ist und sie weiteres Krankengeld bis zum 11.9.2018 beanspruchen kann.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die Entscheidungen der Vorinstanzen und der Bescheid vom 21.6.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.7.2018, durch den die Beklagte den von der Klägerin verfolgten Anspruch auf Weiterzahlung von Krankengeld über den 17.6.2018 hinaus abgelehnt hat. Richtige Klageart ist die auf Aufhebung der Bescheide und Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Krankengeld gerichtete kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), die als auf ein Grundurteil gerichtet keiner Bezifferung bedarf (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG). Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen ihre ablehnenden Bescheide abzuweisen.
2. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Krankengeld ist § 44 Abs 1 iVm § 46 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 SGB V (diese idF des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes - GKV-VSG vom 16.7.2015, BGBl I 1211) iVm § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V (idF des Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf vom 23.12.2014, BGBl I 2462), der den Erhalt der Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger bei Anspruch auf oder Bezug von Krankengeld bestimmt.
Nach § 44 Abs 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld ua dann, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Ob und in welchem Umfang Versicherte Krankengeld beanspruchen können, bestimmt sich nach dem Versicherungsverhältnis, das im Zeitpunkt des jeweils in Betracht kommenden Entstehungstatbestands für das Krankengeld vorliegt. Nach § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V entsteht dieser Anspruch auf Krankengeld von dem Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit an. Dies gilt auch für an die ärztliche Erstfeststellung von Arbeitsunfähigkeit anschließende Folgefeststellungen (stRspr; vgl BSG vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - BSGE 130, 85 = SozR 4-2500 § 46 Nr 10, RdNr 14 mwN). Der durch das GKV-VSG neu eingefügte § 46 Satz 2 SGB V bestimmt, dass der Anspruch auf Krankengeld jeweils bis zu dem Tag bestehen bleibt, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt; Samstage gelten insoweit nicht als Werktage.
3. Hiernach kann die Klägerin für den streitigen Zeitraum Krankengeld beanspruchen, weil am 18.6.2018, dem ersten Werktag nach dem Ende der zuletzt bis 17.6.2018 ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit, ihre Mitgliedschaft bei der Beklagten mit Anspruch auf Krankengeld aus der vorangegangenen Beschäftigung trotz deren Beendigung fortbestand.
Die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger bleibt abweichend von den Beendigungstatbeständen des § 190 SGB V ua erhalten, solange Anspruch auf Krankengeld besteht (§ 192 Abs 1 Nr 2 SGB V). Davon ist das BSG in ständiger Rechtsprechung zur Rechtslage bis zur Änderung durch das GKV-VSG ausgegangen, wenn mit Ablauf des letzten Tags des Versicherungsverhältnisses mit Anspruch auf Krankengeld und zu Beginn des nächsten Tags alle Voraussetzungen erfüllt waren, um spätestens dann einen Anspruch auf Krankengeld entstehen zu lassen. Demgemäß hat das BSG für den Erhalt des Krankenversicherungsschutzes nach Entwicklungsgeschichte und Systematik über eine rein wortlautbezogene Auslegung hinaus eine Nahtlosigkeit von Beschäftigtenversicherung und mitgliedschaftserhaltenden Krankengeldansprüchen vorausgesetzt und danach eine fortdauernde krankenversicherungsrechtliche Absicherung - bis zur Anspruchserschöpfung - in allen Fällen als gewährleistet angesehen, in denen Arbeitsunfähigkeit zeitlich unmittelbar an ein zuvor bestehendes Beschäftigungsverhältnis oder einen vorangegangenen Krankengeld-Bewilligungsabschnitt anschließt (eingehend BSG vom 10.5.2012 - B 1 KR 19/11 R - BSGE 111, 9 = SozR 4-2500 § 192 Nr 5, RdNr 12 ff mwN). Ausdrücklich genügte dazu auch ein erstmals am ersten Tag nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses entstandener Krankengeldanspruch wegen Arbeitsunfähigkeit (BSG aaO RdNr 13).
Dem hat das GKV-VSG die Grundlage nicht entzogen. Soweit danach nunmehr der Anspruch auf Krankengeld bereits "von dem Tag" der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (§ 46 Satz 1 Nr 2 SGB V) und nicht mehr erst vom Folgetag an entsteht, ändert das nichts daran, dass im Sinne der Nahtlosigkeitsanforderungen ein Krankengeldanspruch zeitlich unmittelbar an die vorangegangene Beschäftigtenversicherung oder den letzten Krankengeld-Bewilligungsabschnitt anschließen kann. Die mitgliedschaftserhaltende Wirkung nahtlos aufeinanderfolgender Krankengeld-Bewilligungsabschnitte setzt allein voraus, dass überhaupt Anspruch auf Krankengeld besteht. Schließt die Feststellung einer weiteren Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit nicht nahtlos an den vorangegangenen Bewilligungsabschnitt an, bewirkt § 46 Satz 2 SGB V in der seit dem 23.7.2015 geltenden Fassung des GKV-VSG die Verlängerung des einer Folgefeststellung vorausliegenden Bewilligungsabschnitts und erweitert den Krankengeldanspruch hieraus, wenn Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit erst am ersten Werktag nach einem Wochenende oder einem Feiertag und nicht unmittelbar am Folgetag des vorangegangenen Bewilligungsabschnitts erneut ärztlich festgestellt wird (vgl zum Ganzen näher BSG vom 7.4.2022 - B 3 KR 9/21 R - BSGE 134, 129 = SozR 4-2500 § 44 Nr 20, RdNr 13 ff).
§ 192 Abs 1 Nr 2 SGB V erhält somit als Rechtsfolge den Krankengeldanspruch, der seinerseits voraussetzt, dass ein Versicherungsverhältnis mit Anspruch auf Krankengeld vorliegt. Darin erschöpfen sich die krankengeldrechtlichen Wirkungen von § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V jedoch nicht. In Verbindung mit § 47 Abs 1 und 2 SGB V bewirkt die Regelung vielmehr zudem, dass Versicherte auch nach Beendigung eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses bei lückenloser Feststellung von Arbeitsunfähigkeit so gestellt sind, als stünden sie weiter im Bezug von Arbeitsentgelt, dessen Ausfall durch Krankengeld ersetzt werden soll (stRspr; vgl letztens BSG vom 17.6.2021 - B 3 KR 2/19 R - BSGE 132, 211 = SozR 4-2500 § 46 Nr 12, RdNr 18 mwN).
4. Demgemäß ist hier für den Anspruch der Klägerin auf weiteres Krankengeld erforderlich, dass ihr Versicherungsschutz am 18.6.2018 noch fortbestand.
a) Es erfolgte indes keine erneute ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Feststellung am 18.6.2018, sondern erst am 20.6.2018. Das Fehlen einer lückenlosen, für die weitere Bewilligung von Krankengeld nötigen Arbeitsunfähigkeits-Feststellung beendete damit an sich die nach § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V aufrechterhaltene Pflichtmitgliedschaft und den Krankenversicherungsschutz mit Anspruch auf Krankengeld ab 18.6.2016. Grundsätzlich hat der Versicherte im Sinne einer Obliegenheit dafür Sorge zu tragen, dass eine rechtzeitige ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Feststellung erfolgt (stRspr; vgl nur BSG vom 16.12.2014 - B 1 KR 37/14 R - BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 17, 22; BSG vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20). Sinn und Zweck all dessen ist es, beim Krankengeld Leistungsmissbrauch und praktische Schwierigkeiten zu vermeiden, zu denen die nachträgliche Behauptung der Arbeitsunfähigkeit und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen könnten. Hieran ist auch die ausnahmsweise Zulassung von rückwirkenden Nachholungen von Arbeitsunfähigkeits-Feststellungen bzw von nicht lückenlosen Feststellungen zu messen (vgl BSG vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - BSGE 130, 85 = SozR 4-2500 § 46 Nr 10, RdNr 18 mwN).
b) Insoweit sind in der Rechtsprechung des BSG enge Ausnahmen anerkannt worden, bei deren Vorliegen der Versicherte so zu behandeln ist, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit erhalten (vgl hierzu grundlegend BSG vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8 zur Rechtslage bis 22.7.2015). Eine Lücke in den ärztlichen Arbeitsunfähigkeits-Feststellungen ist danach nicht nur bei medizinischen Fehlbeurteilungen, sondern auch bei nichtmedizinischen Fehlern eines Vertragsarztes im Zusammenhang mit der Arbeitsunfähigkeits-Feststellung für den Versicherten unschädlich, wenn sie der betroffenen Krankenkasse zuzurechnen ist (dazu im Einzelnen BSG aaO RdNr 34).
Einem "rechtzeitig" erfolgten persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit steht es gleich, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat und rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw -erhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten, und es zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aus dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen ist (vgl hierzu im Einzelnen BSG vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - BSGE 130, 85 = SozR 4-2500 § 46 Nr 10, RdNr 22 ff; so auch BSG vom 29.10.2020 - B 3 KR 6/20 R - SozR 4-2500 § 46 Nr 11 RdNr 27 ff, jeweils für die Rechtslage bis 22.7.2015).
c) Ob dem so ist, erfordert eine wertende Betrachtung der Risiko- und Verantwortungsbereiche des Versicherten, des Arztes und der Krankenkasse. In diese fließen verfassungsrechtliche Vorgaben mit ein (vgl dazu bereits BSG vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - BSGE 130, 85 = SozR 4-2500 § 46 Nr 10, RdNr 24; BSG vom 29.10.2020 - B 3 KR 6/20 R - SozR 4-2500 § 46 Nr 11 RdNr 29).
5. Ein Versicherter wahrt seinen Anspruch auf weiteres Krankengeld durch rechtzeitiges Tätigwerden grundsätzlich auch dann, wenn er ohne zuvor vereinbarten Termin am ersten Tag nach einer zuvor festgestellten Arbeitsunfähigkeit die Praxis des behandelnden Arztes zu üblicher Öffnungszeit persönlich aufsucht, um wegen derselben Krankheit eine Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung zu erlangen.
Zwar ist es sinnvoll und wünschenswert, sich um einen rechtzeitigen Arzttermin zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bereits vor Ablauf des Arbeitsunfähigkeits-Zeitraums zu bemühen. Dies ist aber nicht stets auch eine Obliegenheit des Versicherten, deren Nichterfüllung krankengeldschädlich wäre. Ohne Vorliegen besonderer Umstände darf ein Versicherter grundsätzlich darauf vertrauen, eine Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung seines behandelnden Vertragsarztes wegen derselben Krankheit auch dann zu erlangen, wenn er die Arztpraxis ohne zuvor vereinbarten Termin am letzten noch anspruchserhaltenden Tag zu üblicher Öffnungszeit persönlich aufsucht (vgl dagegen BSG vom 17.6.2021 - B 3 KR 2/19 R - BSGE 132, 211 = SozR 4-2500 § 46 Nr 12, RdNr 24-25, zu bevorstehenden Feiertagen und in Betracht zu ziehenden Praxisschließungen beim 31.12.2014 als letzten anspruchserhaltenden Tag).
Hierfür streitet auch Verfassungsrecht. So hat der Gesetzgeber den zum 11.5.2019 eingefügten § 46 Satz 3 SGB V mit der Überlegung gerechtfertigt, dass in den Fallkonstellationen des § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V der vollständige und dauerhafte Verlust eines Rechtsanspruchs auf Krankengeld im Verhältnis zur Schwere der Obliegenheitsverletzung einer verspäteten Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit, die sonst regelmäßig nur zum Entfallen des Anspruchs auf Krankengeld für den Zeitraum der Säumnis führe, unangemessen sei und eine besondere Härte darstelle (BT-Drucks 19/6337 S 92 f). Der hiermit aufgerufene verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet angesichts der Schwere des Nachteils, der im dauerhaften Verlust des Krankengeldanspruchs durch die Beendigung der Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft nach § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V liegt, eine Fortentwicklung der in der Senatsrechtsprechung anerkannten Ausnahmefallgruppen von der strikten Anwendung der Ausschlussregelung des § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V auch in "Altfällen" bis zum 10.5.2019, in denen - wie hier - die Arbeitsunfähigkeit nachträglich ärztlich festgestellt wird und das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit feststeht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Versicherte sich um eine rechtzeitige ärztliche Feststellung zumindest ernsthaft bemüht hat. Die Anforderungen hieran sind aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zu überspannen.
6. Demzufolge hat die Klägerin nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) Anspruch auf weiteres Krankengeld über den 17.6.2018 hinaus bis einschließlich 11.9.2018.
Die Lücke in den ärztlichen Arbeitsunfähigkeits-Feststellungen ist für sie unschädlich, weil sie dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zuzurechnen ist. Mit dem persönlichen Aufsuchen der Praxis ihres behandelnden Hausarztes am 18.6.2018 als erstem Tag nach Ende der zuvor bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ohne zuvor vereinbarten Termin zur üblichen Öffnungszeit, um eine Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung zu erlangen, hat sie nach den vorstehenden Maßstäben rechtzeitig versucht, eine rechtzeitige ärztliche Feststellung von Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit zu erlangen. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass sie nicht darauf vertrauen durfte, noch am 18.6.2018 eine ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung zu erhalten, hat das LSG nicht festgestellt und sind auch für den Senat nicht ersichtlich. Dass es nicht an diesem Tag zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt gekommen ist, sondern erst verspätet am 20.6.2018, ist maßgeblich nicht der Klägerin zuzurechnen, sondern dem Vertragsarzt und der Krankenkasse. Denn das vom Vertragsarzt angeleitete Praxispersonal hat ihr trotz Schilderung ihres Anliegens wegen hohen Patientenaufkommens einen Termin erst für den 20.6.2018 gegeben, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wurde. Die dahinter stehende (naheliegende) Fehlvorstellung, dass rückwirkende Arbeitsunfähigkeits-Feststellungen für Versicherte nicht leistungsschädlich seien, haben Krankenkassen mit zu verantworten, weil sie als maßgebliche Mitakteure im Gemeinsamen Bundesausschuss an dessen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie beteiligt sind, die eine begrenzte rückwirkende ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Feststellung zulässt (vgl zu den Maßstäben insoweit näher BSG vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - BSGE 130, 85 = SozR 4-2500 § 46 Nr 10, RdNr 23, 28; BSG vom 29.10.2020 - B 3 KR 6/20 R - SozR 4-2500 § 46 Nr 11 RdNr 28, 33).
Demgegenüber durfte die Klägerin darauf vertrauen, dass ihr die ärztliche Feststellung fortdauernder Arbeitsunfähigkeit am ihr hierfür von der Vertragsarztpraxis gegebenen Termin leistungsrechtlich gegenüber der Beklagten nicht schadet (vgl in diesem Sinne bereits BSG vom 26.3.2020 - B 3 KR 9/19 R - BSGE 130, 85 = SozR 4-2500 § 46 Nr 10, RdNr 29). Anderes folgt nicht aus der am 9.11.2017 von der Klägerin unterschriebenen und von der Beklagten vorgefertigten Erklärung, deren Hinweis "Arbeitsunfähigkeit lückenlos nachweisen" erhalten zu haben; hieraus ergeben sich keine weitergehenden Obliegenheiten, die zulasten der Klägerin zu einer anderen Bewertung der Risiko- und Verantwortungsbereiche führen könnten.
Anhaltspunkte für sonstige Gründe, die einem Krankengeldanspruch im streitigen Zeitraum entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich; insbesondere hat die Klägerin auch ihre Rechte bei der Beklagten unverzüglich geltend gemacht (§ 49 Abs 1 Nr 5 SGB V).
|
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. |
|
Behrend |
Knorr |
Flint |
Fundstellen
Haufe-Index 15999686 |
DB 2024, 1006 |
DStR 2024, 12 |