Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Pflegebedürftigkeit mit besonderer Bedarfskonstellation. Begutachtungs-Richtlinien zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments. Ermächtigung zur regelhaften Ergänzung für sehr seltene Fallkonstellationen iSe Härtefallregelung. keine Ermächtigung der Verwaltung zur Härtefallentscheidung im Einzelfall
Normenkette
SGB XI § 15 Abs. 4 S. 1 Fassung: 2015-12-21, S. 2 Fassung: 2015-12-21, § 17 Abs. 1 Fassung: 2015-12-21
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Im Streit steht der Anspruch auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation.
Der 1962 geborene, bei der beklagten Pflegekasse versicherte Kläger bezog seit 1.1.2017 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2. Bei ihm besteht eine angeborene Verkürzung der Arme und Beine mit der Unfähigkeit zum Greifen und Gehen. Auf seinen Höherstufungsantrag bewilligte die Beklagte ihm im Wege der Teilabhilfe seines gegen die Ablehnung höherer Leistungen erhobenen Widerspruchs Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 seit 1.6.2017 und lehnte einen Anspruch auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation ( § 15 Abs 4 SGB XI ) ab (Bescheide vom 18.8.2017 und 11.1.2018; Widerspruchsbescheid vom 29.3.2018) .
Das SG hat - gestützt auf ein von ihm eingeholtes Pflegegutachten - die Klage auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 29.7.2019) . Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 26.5.2021) . Nach den Gesetzesmaterialien und den Begutachtungs-Richtlinien liege eine besondere Bedarfskonstellation nach § 15 Abs 4 SGB XI , die eine Zuordnung zum Pflegegrad 5 ungeachtet der Summe der Gesamtpunkte von gewichteten Punkten rechtfertige, nur bei einer Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine mit einem vollständigen Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen vor. So liege es hier nach dem Pflegegutachten nicht; danach könne der Kläger Alltagsaktivitäten trotz seiner erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen unter Nutzung geeigneter Hilfsmittel und angeeigneter Kompensationsmechanismen selbständig bzw teilselbständig mit seinen Armen und Beinen ausführen.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 15 Abs 4 SGB XI . Der Gesetzgeber gehe davon aus, dass es mehrere besondere Bedarfskonstellationen gebe. Die Begutachtungs-Richtlinien wiesen zwar nur die Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine als besondere Bedarfskonstellation aus, doch könne er im herkömmlichen Sinne nicht greifen, stehen oder gehen. Zudem habe das LSG nicht geprüft, ob bei ihm eine vergleichbare Bedarfskonstellation bestehe.
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Der Kläger beantragt, |
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das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. Mai 2021 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 29. Juli 2019 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. August 2017 in der Fassung des Bescheids vom 11. Januar 2018 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 2018 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Juni 2017 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation nach § 15 Abs 4 SGB XI Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 zu zahlen. |
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Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet ( § 170 Abs 1 Satz 1 SGG ) . Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass er kein Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation beanspruchen kann.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen die bezeichneten Bescheide der Beklagten, soweit mit diesen das vom Kläger begehrte Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation abgelehnt worden ist.
Nach Anerkennung von Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 durch den Teilabhilfebescheid vom 11.1.2018 hat der Kläger im Widerspruchs- und Gerichtsverfahren ausschließlich begehrt, dass bei ihm eine besondere Bedarfskonstellation nach § 15 Abs 4 Satz 1 SGB XI (idF des PSG II vom 21.12.2015, BGBl I 2424) bestehe und er deshalb Anspruch auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 habe. Dies entspricht auch einer sachgerechten Auslegung seines Klagebegehrens ( § 123 SGG ) , weil er höhere Leistungen als nach dem Pflegegrad 3 allein auf dieser materiell-rechtlichen Grundlage beanspruchen konnte. Leistungen nach dem Pflegegrad 5 sind zwar auch nach § 14 SGB XI iVm § 15 Abs 1 bis 3 SGB XI bei schwersten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung möglich. Nach der hierfür in § 15 Abs 2 und 3 SGB XI geregelten Berechnungsweise muss dann jedoch (zumindest) eine Punktzahl von 90 Gesamtpunkten in den verschiedenen Modulen des neuen Begutachtungsinstruments vorliegen, die nur bei einem kumulativen Vorhandensein sowohl von körperlichen als auch von kognitiven Einschränkungen erreicht werden kann; diese Voraussetzungen liegen aber nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG ( § 163 SGG ) nicht vor.
In zeitlicher Hinsicht ist Streitgegenstand der zutreffend erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage ( § 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG ) auf die - wie hier - vollständige Ablehnung eines Leistungsantrags grundsätzlich die gesamte Spanne zwischen der erstmaligen Geltendmachung des Anspruchs bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (vgl BSG vom 17.2.2022 - B 3 P 6/20 R - SozR 4-3300 § 140 Nr 1 RdNr 10) , hier also der Zeitraum vom 1.6.2017 (Erster des Antragsmonats) bis 26.5.2021.
2. Der Senat ist an einer Sachentscheidung nicht gehindert. Der Kläger konnte Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 nach § 37 SGB XI iVm § 15 Abs 4 SGB XI gesondert verfolgen, weil es sich um einen eigenständigen Streitgegenstand handelt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit und des Grads der Pflegebedürftigkeit nach § 14 SGB XI iVm § 15 Abs 1 bis 3 SGB XI einerseits und § 15 Abs 4 SGB XI andererseits sind so unterschiedlich ausgestaltet, dass es sich um eigenständige und abtrennbare Streitgegenstände handelt (vgl zu unterschiedlichen Streitgegenständen bei einheitlichem Klagebegehren letztens BSG vom 30.11.2023 - B 3 P 5/22 R - vorgesehen für BSGE und SozR, RdNr 22 mwN). Wegen der vollständigen Lösung des Prüfprogramms des § 15 Abs 4 SGB XI von dem mit Wirkung zum 1.1.2017 durch den Gesetzgeber des PSG II eingeführten neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem neuen Begutachtungsinstrument (vgl § 15 Abs 4 Satz 1 SGB XI : "auch wenn ihre Gesamtpunkte unter 90 liegen"; BT-Drucks 18/9518 S 86: "unabhängig von den ermittelten Gesamtpunkten") besteht kein normativ angelegter Prüfzusammenhang zwischen beiden Wegen zu einem Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 5. Da den Ausführungen der Beklagten im Begründungsteil ihres Widerspruchsbescheids zu entnehmen ist, dass auch die Anerkennung einer besonderen Bedarfskonstellation nach § 15 Abs 4 SGB XI Gegenstand ihrer Prüfung war, ist das Vorverfahrenserfordernis ( § 78 SGG ) hier erfüllt.
3. Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Pflegegeld ist § 37 Abs 1 SGB XI (idF des PSG II) . Danach können Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen (Satz 1) . Die Pflegebedürftigkeit bestimmt sich nach §§ 14 , 15 SGB XI (idF des PSG II) . Nach § 15 Abs 4 Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige mit besonderen Bedarfskonstellationen, die einen spezifischen, außergewöhnlich hohen Hilfebedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung aufweisen, aus pflegefachlichen Gründen dem Pflegegrad 5 zugeordnet werden, auch wenn ihre Gesamtpunkte unter 90 liegen. Diese mögliche Zuordnung ergänzt die Ermittlung des Grads der Pflegebedürftigkeit aufgrund des neuen Begriffs der Pflegebedürftigkeit ( § 14 SGB XI ) nach Maßgabe des neuen pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ( § 15 Abs 1 bis 3 SGB XI ) , ohne dass gesetzlich besondere Bedarfskonstellationen bestimmt worden sind.
Vielmehr konkretisieren nach § 15 Abs 4 Satz 2 SGB XI (idF des PSG II) der Spitzenverband Bund der Pflegekassen (bis 31.12.2019) bzw (idF des MDK-Reformgesetzes vom 14.12.2019, BGBl I 2789) der Medizinische Dienst Bund (ab 1.1.2020; im Folgenden: MD Bund) in den Richtlinien nach § 17 Abs 1 SGB XI die pflegefachlich begründeten Voraussetzungen für solche besonderen Bedarfskonstellationen. Nach § 17 Abs 1 SGB XI (idF des PSG II bis 31.12.2019 bzw des MDK-Reformgesetzes ab 1.1.2020) erlässt der Spitzenverband Bund der Pflegekassen bzw der MD Bund mit dem Ziel, eine einheitliche Rechtsanwendung zu fördern, unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen bzw im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen Richtlinien zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach § 15 SGB XI sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien).
In den das Gesetz konkretisierenden Begutachtungs-Richtlinien vom 15.4.2016 war die "Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine mit vollständigem Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen" als besondere Bedarfskonstellation ausgewiesen (vgl 4.9.1 - F 4.1.6) . Die durch Beschluss vom 22.3.2021 geänderte Fassung der Begutachtungs-Richtlinien geht von einer besonderen Bedarfskonstellation bei einer "Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine mit vollständigem Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen, die nicht durch Einsatz von Hilfsmitteln kompensiert werden", aus (vgl 4.9.1 - F 4.1.B ; vgl § 53c Abs 3 Satz 4 SGB XI idF des MDK-Reformgesetzes zur Fortgeltung der Richtlinien bis zu deren Änderung bzw Aufhebung durch den MD Bund, der erst mit Wirkung zum 1.1.2022 neu konstituiert wurde) .
4. Die Ermächtigung zur Ausweisung besonderer Bedarfskonstellationen in den Begutachtungs-Richtlinien zielt auf eine regelhafte Ergänzung der Einstufung in Pflegegrade für sehr seltene Fallkonstellationen, nicht aber auf eine Ermächtigung der Verwaltung zur Härtefallentscheidung im Einzelfall.
Dies ergibt sich aus ihrer gesetzlichen Konzeption (vgl BT-Drucks 18/5926 S 114) . Hintergrund hierfür ist, dass der Gesetzgeber des PSG II einen Paradigmenwechsel in der Pflegeversicherung eingeleitet und die Pflegeversicherung und die pflegerische Versorgung durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sowie ein damit verbundenes Begutachtungsinstrument (Neues Begutachtungsassessment - NBA) auf eine neue pflegefachliche Grundlage gestellt hat (vgl BT-Drucks 18/5926 S 1 f, 60 ff) . Die Um- und Neugestaltungen beruhen auf einer Defizitanalyse des bisherigen Systems und gründen auf dem Vorschlag des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs (2009) sowie dem Abschlussbericht des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs (2013). In der Folge hat sich der Gesetzgeber von dem seit Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung zum 1.1.1995 geltenden Begriff der Pflegebedürftigkeit mit einer Einstufung Pflegebedürftiger nach einem zu ermittelnden Zeitaufwand für die Pflege durch Laien gelöst. Zur Anpassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs an pflegefachliche Entwicklungen sollten künftig alle relevanten Aspekte der Pflegebedürftigkeit unabhängig davon einbezogen werden, ob sie auf körperlichen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen beruhen (vgl BT-Drucks 18/5926 S 3 f, 60 ff) . Verbunden hiermit hat der Gesetzgeber bei der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des NBA in pflegefachlicher Hinsicht geprüft, ob sich Bedarfskonstellationen ergeben, deren "jeweiligen gesundheitlichen Probleme sich einer pflegefachlichen Systematisierung im neuen Begutachtungsinstrument entziehen", wobei der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien zwar nur eine besondere Bedarfskonstellation identifiziert, mit § 15 Abs 4 SGB XI aber eine allgemeine Regelung formuliert hat (vgl BT-Drucks 18/5926 S 114) .
Die vom Gesetzgeber so umschriebenen besonderen Bedarfskonstellationen nach § 15 Abs 4 SGB XI fungieren daher als Ergänzung zum neuen Begutachtungsinstrument nach § 15 Abs 1 bis 3 SGB XI im Sinne einer hierauf abgestimmten neuen Härtefallregelung, weil nach deren Berechnungsmodus 90 Gesamtpunkte nur bei einem kumulativen Vorliegen von körperlichen wie kognitiven Einschränkungen erreicht werden können, was im Einzelfall bei einseitigen, vor allem rein körperlichen Krankheitsbildern, zu besonderen Härten führen kann. Ausnahmsweise orientiert sich das Gesetz daher am konkreten Bedarf ("Bedarfskonstellationen") einer Person mit besonderen Anforderungen an die Versorgung und weicht insofern von seiner im Übrigen auf "Beeinträchtigungen" fixierten Betrachtungsweise zugunsten vermehrter Einzelfallgerechtigkeit ab (vgl Luthe in Hauck/Noftz, § 15 SGB XI RdNr 26, Stand September 2020 ; Meßling in jurisPK-SGB XI, 3. Aufl 2021, § 15 RdNr 93 f, Stand 4.1.2023) .
5. Bezogen auf die pflegefachliche Konkretisierung der besonderen Bedarfskonstellationen in den Begutachtungs-Richtlinien ist zugrunde zu legen, dass diese nach der gesetzlichen Konzeption zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsanwendung in der Begutachtungspraxis Bindungswirkung im Verwaltungsbereich und in diesem Rahmen auch gegenüber Versicherten entfalten. So bestimmte § 53a SGB XI (idF des PNG vom 23.10.2012, BGBl I 2246) , dass die vom Spitzenverband Bund der Pflegekassen für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung erlassenen Richtlinien für die Medizinischen Dienste verbindlich sind (Satz 3) . In gleicher Weise sind nach § 53d Abs 3 SGB XI (idF des MDK-Reformgesetzes) die vom MD Bund erlassenen Richtlinien für die Medizinischen Dienste und Pflegekassen verbindlich (Satz 4) .
a) Bereits die Begutachtungs-Richtlinien in der bis 31.12.2016 geltenden Fassung stellten eine verbindliche, einheitliche Begutachtungsgrundlage sowohl für die Pflegekassen als auch für die Medizinischen Dienste dar und entfalteten nach der Rechtsprechung des Senats eine gewisse Bindungswirkung auch im Außenverhältnis zu den Versicherten, indem sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlung zu beachten waren; den Richtlinien kam insoweit über den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG Bindungswirkung zu, zumal sich die Verwaltungspraxis an ihnen orientierte (vgl BSG vom 28.9.2017 - B 3 P 3/16 R - juris RdNr 22 ) .
b) An dieser rechtlichen Einordnung der Begutachtungs-Richtlinien hält der Senat auch bezogen auf die ab 1.1.2017 geltenden Richtlinien und die hier streitige Ermächtigung des § 15 Abs 4 Satz 2 SGB XI zur Konkretisierung der besonderen Bedarfskonstellationen in den Begutachtungs-Richtlinien nach § 17 Abs 1 SGB XI fest. Hiermit ist zum einen verbunden, dass keine Ermächtigung der Verwaltung zur Härtefallentscheidung im Einzelfall besteht. Zum anderen sind auch die Gerichte an der Begründung vergleichbarer Bedarfskonstellationen im Einzelfall gehindert, wenn die Konkretisierung des Gesetzes durch die Richtlinien verfassungsrechtlich zulässig ist und die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung durch die streitige Richtlinienbestimmung gewahrt sind (vgl Luthe in Hauck/Noftz, § 15 SGB XI RdNr 28, Stand September 2020 ; Meßling in jurisPK-SGB XI, 3. Aufl 2021, § 15 RdNr 99, Stand 4.1.2023; Roller in jurisPK-SGB XI, 3. Aufl 2021, § 17 RdNr 70, Stand 12.2.2024; Volkmann in Krauskopf, Soziale Kranken- und Pflegeversicherung, § 15 SGB XI RdNr 31 f und § 17 SGB XI RdNr 5 ff, Stand Juni und April 2022; teilweise aA Baumeister in Berchtold/Huster/Rehborn, Gesundheitsrecht, 2. Aufl 2018, § 15 SGB XI RdNr 18 und § 17 SGB XI RdNr 5 f; vgl weitergehend zum Normcharakter der Richtlinien Axer in Udsching/Schütze, SGB XI, Soziale Pflegeversicherung, 5. Aufl 2018, § 17 RdNr 7).
c) Die Zulässigkeit untergesetzlicher Richtlinien, insbesondere im Gesundheitsrecht, ist unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grenzen anerkannt. So prüfen die für die Krankenversicherung zuständigen Senate des BSG unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG (vgl BVerfG vom 10.11.2015 - 1 BvR 2056/12 - BVerfGE 140, 229 = SozR 4-2500 § 92 Nr 18 zu einer Richtlinie des GBA im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung) insbesondere, inwieweit der GBA für seine jeweils zu treffende Entscheidung durch ein hinreichend dichtes Konkretisierungsprogramm des Gesetzgebers, ggf einschließlich verfahrensrechtlicher Vorgaben, angeleitet ist (vgl etwa BSG vom 20.4.2016 - B 3 KR 18/15 R - SozR 4-2500 § 132a Nr 9 RdNr 20 f mwN; BSG vom 18.12.2018 - B 1 KR 11/18 R - BSGE 127, 188 = SozR 4-2500 § 137e Nr 2, RdNr 18 mwN) . Vergleichbare Maßstäbe gelten bei der Prüfung, ob sich die Begutachtungs-Richtlinien innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens bewegen.
6. Danach erweist sich die gesetzliche Ermächtigung zur untergesetzlichen Normkonkretisierung der besonderen Bedarfskonstellationen in § 15 Abs 4 Satz 2 SGB XI in den Begutachtungs-Richtlinien als im Grundsatz verfassungsrechtlich zulässig. Die wesentlichen Vorgaben sind im Gesetz getroffen, konkretere inhaltliche Vorgaben enthalten die Gesetzesmaterialien.
Der Gesetzgeber hat den Begriff der Pflegebedürftigen mit besonderen Bedarfskonstellationen in § 15 Abs 4 Satz 1 SGB XI zunächst tatbestandlich selbst näher umschrieben und mit unbestimmten Rechtsbegriffen in generalisierender Weise vorgegeben, dass hierunter Personen fallen, "die einen spezifischen, außergewöhnlich hohen Hilfebedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung aufweisen". Gleichzeitig hat er durch eine entwicklungsoffene Formulierung deutlich gemacht, dass es mehrere besondere Bedarfskonstellationen geben kann. Mit der Vorgabe des § 15 Abs 4 Satz 1 SGB XI , dass Pflegebedürftige mit besonderen Bedarfskonstellationen aus "pflegefachlichen Gründen" dem Pflegegrad 5 zugeordnet werden können, auch wenn ihre Gesamtpunkte unter 90 liegen, wird in systematischer Hinsicht klargestellt, dass eine von dem 2017 neu eingeführten Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem NBA grundsätzlich unabhängige "Bedarfslage" eine Zuordnung zu dem Pflegegrad 5 rechtfertigt. Zugleich verdeutlicht § 15 Abs 4 Satz 2 SGB XI , dass sich die Befugnis zur Normkonkretisierung auf die Festlegung von "pflegefachlich begründeten Voraussetzungen" bezieht. Insofern wird auf eine spezifische, im Spitzenverband Bund der Pflegekassen bzw MD Bund vorausgesetzte Sachnähe verwiesen. Maßgebend für ein einheitliches Handeln im Einzelfall, insbesondere der Medizinischen Dienste und der Pflegekassen, ist die Festlegung von besonderen Bedarfskonstellationen aufgrund pflegefachlicher Expertise. Damit sind wesentliche Vorgaben im Gesetz aufgenommen (vgl dagegen bei anderer Rechtslage BSG vom 19.2.1998 - B 3 P 7/97 R - SozR 3-3300 § 15 Nr 1, juris RdNr 11 zur zweifelhaften Delegation der Festlegung wesentlicher Tatbestandsvoraussetzungen) .
Weitere Vorgaben an den Richtliniengeber finden sich in den Gesetzesmaterialien, die bei der Prüfung des Umfangs der gesetzlichen Anleitung - insoweit durch die in den Materialien zum Ausdruck gekommene Konzeption - herangezogen werden können. Danach sollen Pflegebedürftige erfasst werden, deren "jeweiligen gesundheitlichen Probleme sich einer pflegefachlichen Systematisierung im neuen Begutachtungsinstrument entziehen", was "für wenige, besonders gelagerte Fallkonstellationen" möglich sei ( BT-Drucks 18/5926 S 114) . Neben dieser weiteren inhaltlichen Konkretisierung nehmen die Gesetzesmaterialien zum Verfahren der Festlegung von besonderen Bedarfskonstellationen Bezug auf die vom Expertenbeirat 2013 nach Anregungen aus der Pflegepraxis in Auftrag gegebene Prüfung verschiedener Fallkonstellationen und deren Bestätigung durch die Praktikabilitätsstudie des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (vgl auch dazu BT-Drucks 18/5926 S 114) .
Gesetzlich ist die pflegefachliche Ausrichtung der Richtlinien durch Beteiligungsvorschriften vor deren Erlass abgesichert ( § 17 Abs 1 Satz 2 ff SGB XI ) . Es ist zudem bestimmt, dass die Richtlinien nach § 17 Abs 1 SGB XI , in welche die Konkretisierung der besonderen Bedarfskonstellationen nach § 15 Abs 4 Satz 2 SGB XI aufzunehmen sind, der Genehmigung des BMG für deren Wirksamwerden bedürfen ( § 17 Abs 2 SGB XI ) . Auch ist der Erlass einer Rechtsverordnung durch dieses Ministerium mit Vorschriften zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach § 15 SGB XI sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI ermöglicht (vgl § 16 SGB XI ) .
7. Die pflegefachlich begründete nähere Bestimmung nur der Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine als einer besonderen Bedarfskonstellation in den Begutachtungs-Richtlinien hält sich in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung und steht in Übereinstimmung auch mit den Gesetzesmaterialien.
Als Richtliniengeber konnte sich der Spitzenverband Bund der Pflegekassen an dem in den Gesetzesmaterialien bezeichneten Bericht des Expertenbeirats 2013 zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs orientieren. Dieser hatte nach einer Auswertung von "Härtefall-Gutachten" nach vormaligem Recht empfohlen, neben der Einstufung Pflegebedürftiger aufgrund des NBA eine gesonderte Berücksichtigung von "Bedarfskonstellationen" (Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und Beine; ausgeprägte motorische Verhaltensauffälligkeiten mit Selbst- oder Fremdgefährdung) für die Annahme des Pflegegrads 5 vorzusehen, und weitere Simulationsstudien angeregt (vgl Bericht Expertenbeirat 2013, S 23 ff) . In der sodann in Auftrag gegebenen Praktikabilitätsstudie führte der Medizinische Dienst des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen aus, dass allein die Festlegung der Bedarfskonstellation "Gebrauchsunfähigkeit der Arme und Beine" als von den Gutachtern zu identifizierende und inhaltlich angemessene Regelung empfohlen worden sei, weiter konkretisiert und als besondere Bedarfskonstellation umgesetzt werden solle (Abschlussbericht 2015, S 45 ff, 57). In der Studie wurde auch diskutiert, wie der personelle Unterstützungsbedarf von Antragstellern zu bewerten sei, die zwar nicht mehr greifen könnten, dennoch aber in der Lage seien, ihre Finger bewusst einzusetzen, um zB den Joystick eines Elektrorollstuhls zu steuern. Es müsse - so die Gutachter - deutlich werden, dass bei einem vollständigen Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen Restfunktionen wie eine abgeschwächte und eingeschränkte aktive Beweglichkeit einzelner Finger oder des Handgelenks bzw Unterarms noch vorhanden sein könnten (vgl Abschlussbericht 2015, S 47). Auch diese wertungsmäßige Vergleichbarkeit hat der Richtliniengeber aufgegriffen, indem er formuliert hat, dass eine Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und Beine auch vorliegt, wenn eine minimale Restbeweglichkeit der Arme vorhanden ist oder nur noch unkontrollierbare Greifreflexe bestehen.
Der Richtliniengeber war schließlich berechtigt, als weitere Konkretisierung in die Richtlinien aufzunehmen, dass die Einschränkungen "nicht durch Einsatz von Hilfsmitteln kompensiert werden". Hiermit hat er dem Grundsatz des Vorrangs der Rehabilitation vor Pflege ( § 31 SGB XI ) Rechnung getragen, der auch in den Begriff der Pflegebedürftigkeit Eingang gefunden hat ( § 14 Abs 1 Satz 2 SGB XI : Personen, die Beeinträchtigungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können) .
Der Senat hat keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Normkonkretisierung zu eng gefasst sein könnte, zumal unter Berücksichtigung des Übergangszeitraums nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des nach der gesetzlichen Konzeption als lernendes System mit begleitender wissenschaftlicher Evaluation (vgl § 18c Abs 2 SGB XI idF des PSG II) ausgestalteten neuen Begutachtungsinstruments (vgl BT-Drucks 18/5926 S 112, 114) .
8. Ausgehend hiervon liegt beim Kläger nach den von ihm nicht angegriffenen Feststellungen des LSG auf der Grundlage des vom SG eingeholten Pflegegutachtens keine Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine mit vollständigem Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen im Sinne des § 15 Abs 4 SGB XI iVm den Begutachtungs-Richtlinien vor. Es ist revisionsrechtlich insbesondere nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht bei seiner Überzeugungsbildung die Nutzung geeigneter Hilfsmittel durch den Kläger und dessen im Laufe des Lebens angeeigneten Kompensationsmechanismen berücksichtigt hat.
Weder vorgetragen noch erkennbar ist, dass neue pflegefachliche Erkenntnisse die Aufnahme weiterer Bedarfskonstellationen im Zusammenhang mit der Situation des Klägers erfordern könnten, zumal die in die Richtlinien aufgenommene Konstellation gerade solche wie hier erfassen soll. Raum für die Prüfung, ob bei dem Kläger eine "vergleichbare Konstellation" gegeben ist, besteht daher ebenso wenig wie sie für die von der Beklagten für notwendig gehaltene ergänzende Prüfung bestanden hätte, ob darüber hinaus "besondere Anforderungen an die pflegerische Versorgung" vorliegen. Diese Voraussetzung des § 15 Abs 4 Satz 1 SGB XI ist bereits vom einheitlichen Tatbestand der besonderen Bedarfskonstellation umfasst.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG . |
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Flint |
Knorr |
Behrend |
Fundstellen
Haufe-Index 16234066 |
KrV 2024, 122 |
SGb 2024, 223 |
ZfF 2024, 170 |