Leitsatz (amtlich)
Trifft in Tuberkulosefällen ein Anspruch auf Krankenpflege (Familienkrankenpflege) gegen einen Träger der sozialen Krankenversicherung mit einem Anspruch auf Heilbehandlung gegen einen Träger der Rentenversicherung zusammen, so ruht während ambulanter Behandlung des Kranken der Anspruch gegen den Rentenversicherungsträger auch dann, wenn er umfassender ist als der Anspruch gegen den Krankenversicherungsträger, wenn insbesondere der Rentenversicherungsträger die Kosten eines größeren Heilmittels (hier: eines Stützkorsetts bei Wirbelsäulentuberkulose) nicht nur teilweise, wie die KK (vgl RVO § 193 Abs 2), sondern voll zu tragen hätte.
Leitsatz (redaktionell)
Korsett als Heil- oder Hilfsmittel.
Die Herstellung eines Korsetts ist ein handwerklich!technischer handwerklich-technischer Fertigungsvorgang und kann daher nicht als ein Teil der ärztlichen Behandlung iS der RVO §§ 182, 122 angesehen werden.
Das Korsett kann Heilmittel (RVO § 182 Abs 1 Nr 1 § 193 Abs 2) oder Heilmittel (RVO § 187 Nr 3) sein, je nachdem, ob es in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der ärztlichen Behandlung deren Erfolg sichern oder unterstützen soll oder ob es im Anschluß an die ärztliche Behandlung eine Funktionsbeeinträchtigung des Körpers ausgleichen soll.
Normenkette
RVO § 193 Abs. 2 Fassung: 1911-07-19, § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1946-11-07, § 187 Nr. 3 Fassung: 1911-07-19, § 122 Abs. 1 Fassung: 1911-07-19
Tenor
Die Revision des klagenden Landes gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Oktober 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsvorfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der klagende Sozialhilfeträger hat für die - an Wirbelsäulentuberkulose erkrankte - Ehefrau eines Versicherten den bisher nicht gedeckten Teil der Kosten eines Korsetts übernommen und verlangt dessen Erstattung von der beklagten Krankenkasse, hilfsweise von der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (LVA). Frau H. wurde seit Ende 1966 wegen aktiver Wirbelsäulentuberkulose ambulant behandelt und erhielt im Januar 1967 "zur Unterstützung der Wirbelsäule" ein sog. Spondylitis-Stangenkorsett. An den Gesamtkosten von 693,45 DM beteiligte sich die beklagte Krankenkasse, bei der der Ehemann der Kranken versichert war, mit einem Zuschuß von 200 DM, den seinerzeit die Satzung der Kasse im Höchstfall für größere Heil- und Hilfsmittel vorsah. Den nicht gedeckten Kostenteil von 493,45 DM übernahm vorläufig der Kläger. Sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene lehnte eine Erstattung der Restkosten ab; die Beigeladene berief sich dabei auf § 1244 a Abs. 3 RVO, wonach in Tuberkulosefällen ein Anspruch auf ambulante Heilbehandlung gegen den Träger der Rentenversicherung ruhe, wenn, wie hier, ein Anspruch auf (Familien-) Krankenpflege gegen einen Träger der Krankenversicherung bestehe, auch wenn dessen Leistungsverpflichtung hinter der des Rentenversicherungsträgers zurückbleibe. Die Vorinstanzen haben die Klage für unbegründet gehalten. Das Landessozialgericht(LSG) hat ausgeführt: Die Versorgung mit einem Korsett gehöre, wenn, wie hier, der Kostenrahmen für kleinere Heilmittel überschritten werde, nicht mehr zur Krankenpflege im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), insbesondere nicht zur ärztlichen Behandlung, soweit, wie hier, nicht die Verordnung, sondern die Herstellung des Korsetts in Betracht komme. Das Korsett sei vielmehr ein größeres Heilmittel, zu dessen Kosten die beklagte Krankenkasse nur den - von ihr gewährten- Zuschuß von DM 200 habe leisten müssen. Auch die beigeladene LVA brauche die streitigen Restkosten nicht zu übernehmen, weil ihre Verpflichtung zur Gewährung von ambulanter Heilbehandlung nach § 1244 a Abs. 3 RVO zwar auch die Versorgung mit einem Korsett einschließen könne, hier jedoch wegen des - allerdings weniger umfassenden - Anspruchs auf Familienkrankenpflege geruht habe (Urteil vom 26. Oktober 1971).
Der Kläger verfolgt mit der zugelassenen Revision seinen Erstattungsanspruch weiter. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei den streitigen Kosten um solche der Heilbehandlung, für die die Beklagte, jedenfalls aber die Beigeladene einzustehen habe. Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte, hilfsweise die Beigeladene, zu verurteilen, die streitigen Restkosten von 493,45 DM zu erstatten.
Die Beklagte und die Beigeladene halten das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragen die Zurückweisung der Revision.
II
Die Revision des klagenden Sozialhilfeträgers ist nicht begründet. Wie das LSG richtig entschieden hat, steht dem Kläger ein - auf § 59 Abs. 2 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes in Verbindung mit §§ 1531 ff RVO gestützter-- Ersatzanspruch weder gegen die beklagte Krankenkasse noch gegen die beigeladene LVA zu.
Der Senat tritt dem LSG zunächst darin bei, daß die Versorgung mit einem Korsett der fraglichen Art, dessen Kosten den Grenzbetrag für kleinere Heilmittel überschreiten (die Satzung der Beklagten sah für diese seinerzeit einen Höchstbetrag von 75 DM vor), nicht zu der nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO als Sachleistung zu gewährenden Krankenpflege gehört. Wie schon das LSG ausgeführt hat, ist die Herstellung eines solchen Korsetts ebensowenig wie etwa die von orthopädischen Fußstützen oder von Zahnersatz (BSG 23, 176, 178 f; SozR Nr. 55 zu § 182 RVO) Teil der ärztlichen Behandlung, sondern ein handwerklich-technischer Fertigungsvorgang, der sich deutlich von der den Arzt obliegenden Verordnung und gegebenenfalls Anpassung des Korsetts unterscheidet. Daran ändert es nichts, daß auch das Korsett für die Erzielung des Heilerfolges dienlich und vielleicht sogar notwendig ist. Als "Sachmittel" gehört es nach der Begriffsbildung der §§ 182 ff RVO nicht zu den vom Arzt oder unter seiner Aufsicht von Hilfspersonen (§ 122 RVO) zu erbringenden persönlichen Leistungen. Wird es, wie im vorliegenden Fall, nicht erst nach Abschluß der Behandlung beschafft, um - wie z.B. eine Beinprothese oder ein Hörgerät - fehlende Körperteile zu ersetzen oder Funktionsbeeinträchtigungen auszugleichen ("Hilfsmittel", vgl. die Urteile des Senats vom 15. Dezember 1971, BSG 33, 263, und vom 16. März 1972, 3 BK 34/70), sondern soll es in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung deren Erfolg sichern oder unterstützen ("Heilmittel"), überschreitet es andererseits den Kostenrahmen der kleineren Heilmittel, so kann sich nach geltendem Recht die Krankenkasse auf die Zahlung eines Kostenzuschusses beschränken, der allerdings mindestens dem Höchstbetrag für kleinere Heilmittel entsprechen muß (§ 193 Abs. 2 RVO i.V. m. Nr. 1 der Sozialversicherungsordnung Nr. 30 vom 5. Dezember 1947, Arbeitsblatt für die britische Zone 1947, 425). Diesen Kostenzuschuß hat die Beklagte hier geleistet, eine weitergehende Verpflichtung hatte sie weder gegenüber dem Versicherten noch gegenüber dem Kläger.
Das LSG hat mit Recht auch die beigeladene LVA wegen der streitigen Kosten nicht für ersatzpflichtig gehalten. Nach § 1244 a Abs. 3 RVO besteht zwar bei aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose, an der Frau H. litt, und unter bestimmten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die hier erfüllt waren, gegen den Träger der Rentenversicherung ein Anspruch auf Heilbehandlung, der - weitergehend als ein Anspruch auf Krankenpflege nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO oder Familienkrankenpflege nach § 205 Abs. 1 RVO - auch die Versorgung mit einem Stützkorsett der fraglichen Art einschließen kann (vgl. § 1237 Abs. 2 RVO). Dieser Anspruch ruht jedoch für die Dauer der ambulanten Behandlung, wenn ein Anspruch auf Krankenpflege oder Familienkrankenpflege gegen einen Träger der sozialen Krankenversicherung begründet ist (§ 1244 a Abs. 3 Satz 2 RVO). Hiernach hat bei Tuberkulosekranken, denen Behandlungsansprüche sowohl aus der Krankenversicherung wie aus der Rentenversicherung zustehen, die Leistungspflicht der Krankenkasse den Vorrang vor der des Rentenversicherungsträgers, solange die Behandlung ambulant erfolgt. Das gilt auch dann, wenn die Leistungen der Krankenkasse weniger umfassend sind als die des Rentenversicherungsträgers. Hätte dieser in einem solchen Fall verpflichtet werden sollen, die Leistungen der Krankenversicherung zu ergänzen ("aufzustocken"), so hätte das Gesetz, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, anders gefaßt werden müssen; es hätte dann nämlich statt "Besteht Anspruch auf Krankenpflege …" heißen müssen: "Soweit Anspruch auf Krankenpflege … besteht".
Es gibt auch keine Anhaltspunkte für die Annahme, daß der Wortlaut des Gesetzes versehentlich zu weit gefaßt worden ist und den wirklichen Absichten des Gesetzgebers nicht entspricht. Dieser kann bei Schaffung der genannten Vorschrift davon ausgegangen sein, daß ein Anspruch auf Krankenpflege (Familienkrankenpflege) im allgemeinen auch einem tuberkulosekranken Versicherten ausreichenden Versicherungsschutz bietet, daß also ein zusätzlicher oder ergänzender Schutz durch den Rentenversicherungsträger insoweit nicht erforderlich ist. Daß diese Voraussetzung nicht in jedem denkbaren Fall zutrifft, mag der Gesetzgeber im Interesse einer klaren und möglichst einfach zu handhabenden Regelung in Kauf genommen haben, zumal als weiterer Leistungsträger immer noch die Sozialhilfe bereitsteht. Es würde jedenfalls die Befugnisse des Richters überschreiten, wollte er den Rentenversicherungsträger entgegen dem - nicht erkennbar sinnwidrigen - Wortlaut des Gesetzes für verpflichtet halten, ambulante Heilbehandlung nach § 1244 a Abs. 3 zu gewähren, "soweit" eine Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers nicht besteht. Auch in anderen vergleichbaren Zusammenhängen, z.B. beim Zusammentreffen eines "schlechteren" Krankenpflegeanspruchs aus eigener Versicherung mit einem "besseren", aber nach § 205 Abs. 1 RVO ruhenden Anspruch auf Familienkrankenpflege, können die Leistungslücken ces vorrangigen Anspruchs nicht unter ergänzender Heranziehung des ruhenden Anspruchs geschlossen werden (vgl. BSG 28, 47, 48 mit weiteren Nachweisen). Das gleiche muß auch hier gelten.
Da der Kläger somit weder von der Beklagten noch von der Beigeladenen den verlangten Ersatz zu beanspruchen hat, ist seine Klage mit Recht abgewiesen worden. Die Revision ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen