Entscheidungsstichwort (Thema)
Formalmitgliedschaft
Leitsatz (amtlich)
Ein Rechtsmißbrauch der den Versicherten nach § 183 Abs 7 RVO aF zur Rentenantragstellung auffordernden Krankenkasse kann das Zustandekommen einer Formalmitgliedschaft nach § 315a RVO auf den vom Versicherten selbst nicht rechtsmißbräuchlich gestellten Antrag nicht verhindern.
Leitsatz (redaktionell)
Die Aufforderung einer Krankenkasse, einen offensichtlich unbegründeten Rentenantrag zu stellen, könnte möglicherweise einen Schadensersatzanspruch einer anderen, für die Durchführung der formalen Mitgliedschaft zuständigen Krankenkasse, begründen.
Normenkette
RVO § 183 Abs. 7 Fassung: 1961-07-12, § 315a Abs. 1 S. 1 Fassung: 1967-12-21, § 82 Fassung: 1972-08-10; BGB § 826 Fassung: 1896-08-18
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.11.1979; Aktenzeichen L 4 Kr Lw 50/77) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 26.05.1977; Aktenzeichen S 11 Kr 16/76) |
Tatbestand
Streitig ist, ob der klagende Bezirk Oberpfalz im Rahmen der sog Vereinbarung anstelle des Halbierungserlasses (VH) eine Erstattung von Kosten verlangen kann, die er für eine stationäre Behandlung des Beigeladenen zu 3) - im folgenden: Sohn R - in der Zeit vom 8. Mai 1974 bis zum 1. Mai 1975 getragen hat.
Der am 8. November 1952 geborene Sohn R wurde seit April 1972 mit Unterbrechungen wegen einer Erkrankung des schizophrenen Formenkreises im Nervenkrankenhaus R stationär behandelt. Im März 1973 meldete sein Vater, der Beigeladene zu 2) - im folgenden: Vater R -, der als landwirtschaftlicher Unternehmer nach § 2 Abs 1 Nr 1 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) bei der Beklagten versichert ist, den Sohn als nach § 2 Abs 1 Nr 3 KVLG versicherungspflichtigen mithelfenden Familienangehörigen bei der Beklagten an; er gab an, daß der Sohn seit 1966 im Unternehmen hauptberuflich tätig sei. Auf Anfragen erfuhr die Beklagte, daß der Sohn R außerhalb der Landwirtschaft jeweils mehrere Monate in den Jahren 1970 und 1971 krankenversicherungspflichtig beschäftigt war. Daraufhin beteiligte sie sich nach Maßgabe der VH an den Krankenhauskosten.
Nach Eingang der Mitteilung des Krankenhauses, daß Sohn R erwerbsunfähig sei, forderte die Beklagte diesen im März 1974 gem § 20 Abs 3 Satz 1 KVLG iVm § 183 Abs 7 Reichsversicherungsordnung (RVO) damaliger Fassung zur Stellung eines Rentenantrages auf. Dem entsprach Vater R als Pfleger des Sohnes am 28. März 1974 und meldete außerdem den Sohn zum 7. Mai 1974 als mithelfenden Familienangehörigen bei der Beklagten ab. Der Rentenantrag hatte keinen Erfolg; die zuständige Landesversicherungsanstalt lehnte ihn am 28. August 1974 ab, weil die Wartezeit mit nur elf Beitragsmonaten nicht erfüllt sei.
Nachdem sowohl die Beklagte als auch die zu 1) beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) eine Beteiligung an den Krankenhauskosten für die Zeit ab dem 8. Mai 1974 verweigerten, hat der Kläger gegen die Beklagte Klage erhoben und in den Vorinstanzen deren Verurteilung zur Kostenerstattung im Rahmen der VH für die streitige Zeit erreicht. Zur Begründung hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt: Die Beklagte sei zur Gewährung von Krankenhauspflege zunächst noch aufgrund eines nachgehenden Anspruchs aus der beendeten Mitgliedschaft des Sohnes R (§§ 13 Abs 3 Satz 2, 17 Abs 1 Satz 2 KVLG) und dann aufgrund eines Anspruchs des Vaters R auf Familienhilfe (§ 32 KVLG) verpflichtet gewesen; die § 32 KVLG damaliger Fassung ergänzende Satzungsbestimmung (§ 37 Abs 3 aF) fordere entgegen der Auffassung der Beklagten nicht, daß die Behinderung des Sohnes (dauernde Erwerbsunfähigkeit) schon bei Vollendung des 18. Lebensjahres bestanden habe. Die Leistungspflicht der Beklagten sei nicht wegen des im März 1974 gestellten Rentenantrages entfallen, weil dieser keine Formalmitgliedschaft des Sohnes R bei der beigeladenen AOK begründet habe. Bei einem rechtsmißbräuchlich gestellten Antrag komme keine Formalversicherung nach § 315a RVO zustande. Dasselbe müsse gelten, wenn zwar nicht der Rentenantragsteller, wohl aber die die Antragstellung veranlassende Körperschaft, wie hier die Beklagte, rechtsmißbräuchlich gehandelt habe. Die Beklagte habe erkennen können und müssen, daß ein Rentenantrag des Sohnes R keine Aussicht auf Erfolg habe. Ihre Aufforderung zur Antragstellung habe deshalb nur den Sinn haben können, Lasten auf einen anderen Kostenträger abzuwälzen. Ob sie dies beabsichtigt habe, könne dahinstehen, weil bei einer Körperschaft des öffentlichen Rechts die Kenntnis der objektiven Rechtslage zur Annahme der unzulässigen Rechtsausübung ausreiche. Es widerspreche zudem der Fürsorgepflicht, Versicherte in aussichtslosen Fällen mit von ihnen dann endgültig zu tragenden Krankenversicherungsbeiträgen zu belasten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte (sinngemäß),
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Sie rügt Verletzung des § 32 KVLG aF und der zugehörigen Satzungsbestimmung sowie des § 315a RVO. Einen Rechtsmißbrauch bestreitet sie ua deshalb, weil es nicht ihre Aufgabe sei, Voraussetzungen eines Rentenanspruchs einschließlich derjenigen des § 1252 RVO (Wartezeitfiktion) zu prüfen. Gerade aus Fürsorge für den Sohn R habe sie ihn wegen des absehbaren Endes des Krankengeldbezuges (7. Mai 1974) auf jede Möglichkeit zum weiteren Bestreiten des Lebensunterhalts hinweisen müssen.
Der Kläger und die beigeladene AOK beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Vater R und Sohn R sind im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger kann von ihr nicht nach § 1531 RVO iVm § 82 Nr 1 KVLG und der VH Ersatz von Aufwendungen für die Krankenhausbehandlung des Sohnes R in der streitigen Zeit verlangen, weil die Beklagte in dieser Zeit nicht zur Gewährung von Krankenhauspflege für den Sohn R verpflichtet war.
Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob und wie lange gegen die Beklagte ohne den im März 1974 gestellten Rentenantrag zunächst ein nachgehender Anspruch des Sohnes R auf Krankenhauspflege aus beendeter Mitgliedschaft und dann ein Anspruch des Vaters R auf Familienkrankenhauspflege für den Sohn R gegeben gewesen wären. Denn Ansprüche dieser Art konnten nur dann zum Zuge kommen, wenn der Rentenantrag keine Formalmitgliedschaft des Sohnes R bei der beigeladenen AOK begründete. Entgegen der Ansicht des LSG hat der Antrag jedoch zu einer solchen geführt. Diese Formalversicherung und der sich ihr anschließende nachgehende Anspruch aus § 183 Abs 1 Satz 2 RVO (iVm § 315a Abs 2) schlossen die etwaigen Ansprüche gegen die Beklagte aus (§ 315a Abs 3 iVm § 165 Abs 1 Nr 6 RVO, § 32 Abs 1 KVLG, damaliger Fassung).
Nach § 315a Abs 1 Satz 1 RVO in der 1974 gültigen Fassung gelten als Mitglieder der nach der RVO zuständigen Krankenkasse Personen, die eine Rente ua aus der Rentenversicherung der Arbeiter beantragt haben, ohne die Voraussetzungen für den Bezug der Rente zu erfüllen. Dieser Tatbestand war beim Sohn R gegeben. Wenn das LSG meint, die Rechtsfolge des § 315a RVO sei gleichwohl nicht eingetreten, weil die Beklagte die Stellung des Rentenantrages rechtsmißbräuchlich veranlaßt habe, so vermag dem der Senat nicht zu folgen.
Mit der Frage, ob ein Rechtsmißbrauch das Zustandekommen einer Formalmitgliedschaft nach § 315a RVO verhindern (oder sie beenden) kann, hat sich das Bundessozialgericht (BSG) schon mehrmals befaßt. In BSGE 23, 293, 297 hat der 3. Senat des BSG offengelassen, wie zu entscheiden wäre, wenn der Rentenantrag in Kenntnis der Unbegründetheit des erhobenen Rentenanspruchs in der Absicht gestellt werde, den Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung zu erhalten. Nach der später in SozR Nr 3 zu § 315a RVO vertretenen Ansicht könnte dann erwogen werden, dem Antrag die Wirkung nach § 315a RVO zu versagen, vorausgesetzt, daß der Mißbrauch für die Krankenkasse - gemeint die für die Formalversicherung zuständige Krankenkasse - erkennbar offen zutage liege; offensichtliche Bedenken gegen die Rentenberechtigung reichten dafür jedenfalls nicht aus, weil schon eine dahingehende Prüfung die (genannte) Krankenkasse überfordere und es dem Wegen des Krankenversicherungsverhältnisses widerspreche, die Mitgliedschaft bis zur Klärung in der Schwebe zu lassen oder gar rückwirkend zu beseitigen. Erst in SozR 2200 § 315a Nr 7 hat der 8. Senat ausgesprochen, daß eine Formalmitgliedschaft nicht entstehen oder fortdauern könne, wenn der Erwerb oder die Berufung auf den Fortbestand rechtsmißbräuchlich erfolge, wofür er im entschiedenen Fall keine Anhaltspunkte fand.
In diesen Entscheidungen wurde einem Rechtsmißbrauch Bedeutung dann oder allenfalls dann zugemessen, wenn sich das Verhalten des Rentenantragstellers als Rechtsmißbrauch darstellen konnte. Möglicherweise sollte noch die Erkennbarkeit des Mißbrauchs durch die für die Formalversicherung zuständige Krankenkasse eine Rolle spielen. Da beide die Partner der Formalversicherung sind (oder wären), erscheint es von daher einleuchtend, bei der Frage nach dem Zustandekommen und dem Fortbestand der Formalversicherung ggf ihr gesamtes Verhalten zu berücksichtigen, insbesondere das des Antragstellers, weil nach dem Gesetz schon dessen Antrag das Versicherungsverhältnis begründet. Der Senat kann jedoch keine Rechtfertigung dafür erkennen, das Zustandekommen einer Formalversicherung zwischen beiden Partnern darüber hinaus rechtlich von einem Verhalten Dritter abhängig zu machen. Das gilt auch für die Krankenkasse, die nach § 183 Abs 7 RVO aF einen Versicherten zur Stellung des Rentenantrages aufgefordert hat. Der Versicherte war nicht verpflichtet, der Aufforderung zu folgen. Tat er es nicht, so kam wegen des nicht gestellten Rentenantrages keine Formalversicherung zustande. Tat er es, so war es nur sein Antrag, der die Formalversicherung auslöste, die er auch ohne vorhergehende Aufforderung ausgelöst hätte. Da im Rahmen des § 315a RVO die Aufforderung sonach in keinem Fall eine rechtliche Wirkung hat, muß auch ein der Aufforderung anhaftender Rechtsmißbrauch insoweit ohne Rechtswirkung bleiben. Es wäre zudem unverständlich, inwiefern einem Antragsteller, der - wie hier - selbst nicht rechtsmißbräuchlich handelt, aus dem ihm nicht zuzurechnenden Verhalten der zur Antragstellung auffordernden Krankenkasse ggf ein Nachteil erwachsen sollte, wenn ohne den Schutz des § 315a RVO kein anderweitiger Krankenversicherungsschutz gegeben wäre.
Ist sonach die Rechtsfolge des § 315a RVO aF im Verhältnis zwischen dem Sohn R und der beigeladenen AOK eingetreten, so könnte es doch der Beklagten möglicherweise verwehrt sein, sich in ihrem Verhältnis zu anderen darauf zu berufen, falls sie diesen durch rechtsmißbräuchliche Aufforderung zur Rentenantragstellung Schaden zugefügt hätte. Es ließe sich daran denken, in diesem Falle mangels einer sonst in Betracht kommenden Rechtsgrundlage die Vorschrift des § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens entsprechend anzuwenden. Der Senat kann jedoch offenlassen, ob die entsprechende Anwendung des § 826 BGB überhaupt im öffentlichen Recht und im besonderen im Verhältnis zwischen Körperschaften des öffentlichen Rechts zulässig ist, ferner, ob dann von der Beklagten die volle Kenntnis eines nicht vorhandenen Rentenanspruchs und das Bewußtsein der Schadenszufügung zu fordern wäre. Eine Schadensersatzpflicht gegenüber dem Kläger kann nämlich allein schon deshalb nicht bestehen, weil diesem kein Schaden entstanden ist. Er kann aufgrund der nach § 315a RVO zustande gekommenen Formalmitgliedschaft Ersatz seiner Aufwendungen von der beigeladenen AOK beanspruchen. Eine andere Frage wäre es, ob die beigeladene AOK deswegen ihrerseits sich an der Beklagten entsprechend § 826 BGB schadlos halten könnte; über einen solchen Anspruch ist im vorliegenden Rechtsstreit jedoch nicht zu befinden.
Hiernach mußten die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Klage gegen die Beklagte abgewiesen werden. Zugleich war entsprechend den Hilfsanträgen des Klägers in den Vorinstanzen gem § 75 Abs 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), der auch auf Ersatzansprüche nach § 1531 RVO anwendbar ist, die beigeladene AOK zu der von dem Kläger begehrten Kostenerstattung zu verurteilen, da sie dem Kläger nach § 1531 RVO iVm der VH und den Bestimmungen des Zweiten Buches der RVO über die Gewährung von Krankenhauspflege ersatzpflichtig ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1656403 |
BSGE, 139 |