Leitsatz (redaktionell)
Die Pflicht zur umfassenden Beratung (§ 14 SGB 1) umschließt auch die Pflicht zu dem Hinweis auf mögliche Auswirkungen einer Beitragsentrichtung auf Ansprüche aus Zusatzversorgungseinrichtungen, wenn dem Sozialleistungsträger bekannt ist, daß der Berechtigte in einer solchen Einrichtung versichert ist.
Orientierungssatz
1. Eine Fristverlängerung kommt nicht mehr in Betracht, wenn der Versicherungsträger die Nachentrichtung von Beiträgen bereits bis zur gesetzlichen Höchstdauer von fünf Jahren zugelassen hat.
2. Die Beitragsnachentrichtung ist trotz Fristversäumnis dann zuzulassen, wenn dem Nachentrichtungsberechtigten ein Herstellungsanspruch zur Seite steht. Ein solcher Anspruch kann auch aufgrund unzureichender Beratung durch einen Versichertenältesten entstehen.
Leitsatz (amtlich)
Die Pflicht zur umfassenden Beratung (§ 14 SGB 1) umschließt auch die Pflicht zu dem Hinweis auf mögliche Auswirkungen einer Beitragsentrichtung auf Ansprüche aus Zusatzversorgungseinrichtungen, wenn dem Sozialleistungsträger bekannt ist, daß der Berechtigte in einer solchen Einrichtung versichert ist.
Normenkette
SGB I § 14; SGB X § 26 Abs. 7; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 3 S. 3; AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 3 S. 3
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 04.06.1986; Aktenzeichen L 13 An 785/85) |
SG Darmstadt (Entscheidung vom 13.06.1985; Aktenzeichen S 6 An 122/83) |
Tatbestand
Der Kläger erstrebt von der Beklagten im Wege des Herstellungsanspruchs die Annahme von Beiträgen zur Nachentrichtung nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) mit der Begründung, daß er durch ungenügende Beratung von der rechtzeitigen Entrichtung abgehalten worden sei.
Der Kläger (geb. 1921) stellte 1975 einen Antrag auf Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Art 2 § 49a AnVNG in der jeweils höchsten Klasse. Dies wurde ihm antragsgemäß gestattet mit dem Hinweis, daß die Nachentrichtung spätestens innerhalb fünf Jahren nach Zustellung des Bescheides abgeschlossen sein müsse (Bescheid vom 23. März 1976). Der Kläger machte jedoch von der ihm eingeräumten Nachentrichtungsmöglichkeit zunächst keinen Gebrauch. Erst mit Schreiben vom 28. Februar 1983 fragte er bei der Beklagten an, ob er die Nachentrichtung (nunmehr in Höhe der Mindestbeiträge) vornehmen könne. In den Jahren zuvor sei er zur Beitragsentrichtung wegen Arbeitslosigkeit nicht in der Lage gewesen.
Die Beklagte lehnte dieses Begehren jedoch ab, da die Einzahlungsfrist verstrichen war (Bescheid vom 17. März 1983; Widerspruchsbescheid vom 22. August 1983).
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Darmstadt -SG- vom 13. Juni 1985; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts -LSG- vom 4. Juni 1986). Im Klage- und Berufungsverfahren hatte der Kläger vorgetragen, daß er von 1976 bis 1978 wegen Arbeitslosigkeit zur Nachentrichtung nicht in der Lage gewesen sei. Nachdem er 1978 als Religionslehrer bei der Diözese Mainz eingestellt worden sei und sich damit seine finanzielle Situation gebessert habe, habe er den Versichertenältesten der Beklagten, Herrn P. , aufgesucht. Herr P. habe in dem "Katholischen Volksbüro" der Diözese Mainz gearbeitet und habe dort auch mit den sozialen Belangen und Versorgungsfragen der Diözese und ihrer Angestellten zu tun gehabt. Dieser habe ihn dahingehend beraten, daß der Aufwand einer Beitragsnachentrichtung in keinem Verhältnis zum Ergebnis einer späteren Rentenerhöhung stehe. Herr P. habe es aber unterlassen, darauf hinzuweisen, daß sich die Nachentrichtung günstig auf die Zusatzversorgung des Bistums Mainz ausgewirkt und zu einer wesentlich höheren Zusatzversorgungsrente geführt hätte. Dafür hätte die Nachentrichtung von Mindestbeiträgen genügt. Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß dem Kläger kein Herstellungsanspruch wegen eines Beratungsfehlers zustehe. Zwar könne auch das Tätigwerden eines Versichertenältesten einen Herstellungsanspruch auslösen, weil auch dieser Beratungsaufgaben der Beklagten wahrnehme. Dem Versichertenältesten P. sei jedoch kein Beratungsmangel anzulasten. Über die Auswirkungen der Nachentrichtung von Beiträgen auf Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung habe der Versichertenälteste den Kläger zutreffend belehrt. Eine Pflicht, auch über die Auswirkungen der Nachentrichtung auf die Zusatzversorgungsrente des Bistums Mainz zu beraten, habe nicht bestanden. § 14 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsvorschriften - (SGB 10) begründe eine Beratungspflicht der Beklagten nur in bezug auf die Rechte und Pflichten nach dem SGB. Hierzu zählten nicht die Bedingungen von Zusatzversorgungsrenten. Das LSG beruft sich hierfür auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Januar 1986 - 11a RA 62/84 -.
Mit der Revision macht der Kläger weiterhin geltend, daß der Versichertenälteste ihn auch über die Folgen der Nachentrichtung für die Zusatzversorgung hätte beraten müssen, zumal er aufgrund seiner Tätigkeit im katholischen Volksbüro auch über die Bedingungen der Zusatzversorgungsrente gut informiert gewesen sei.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 17. März 1983 idF des Widerspruchsbescheides vom 22. August 1983 die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge durch den Kläger für die Zeit von Januar 1956 bis Februar 1957 sowie von März 1959 bis November 1964 in Höhe der Mindestbeiträge zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil und auf das dort zitierte Urteil des 11. Senats des BSG.
Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Einzahlungsfrist für die Beiträge, die der Kläger aufgrund des Bescheides vom 23. März 1976 gemäß Art 2 § 49a AnVNG nachentrichten durfte, verstrichen war, als er 1983 die Entrichtung der Beiträge anbot. Da die Beklagte in diesem Bescheid die Nachentrichtung bereits bis zur gesetzlichen Höchstdauer von 5 Jahren zugelassen hatte, kam eine Verlängerung dieser Frist gemäß § 26 Abs 7 SGB 10 nicht in Betracht. Bei der genannten Frist handelt es sich um eine gesetzliche Ausschlußfrist, die einer Verlängerung nicht zugänglich ist (BSG SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 55 S 113 oben mwN).
Das LSG hat ferner richtig erkannt, daß die Nachentrichtung aber unter Umständen trotz der Fristversäumnis noch zuzulassen ist, wenn dem Kläger ein Herstellungsanspruch zur Seite steht, und daß ein solcher Herstellungsanspruch auch aufgrund unzureichender Beratung durch einen Versichertenältesten entstehen kann. Der erkennende Senat hat mehrfach auf die zentrale Bedeutung einer ausreichenden Beratung für das Funktionieren der Systeme der sozialen Sicherung hingewiesen (ua SozR 1200 § 14 Nr 16; SozR 5070 § 10 Nr 30). Führen Fehler im Rahmen der Beratung dazu, daß soziale (Grund-)Rechte verkürzt werden, so hat der Versicherungsträger dem Berechtigten die Rechte wieder einzuräumen, die ihm aufgrund der unzureichenden Beratung verloren gegangen sind (Herstellungsanspruch). Der erkennende Senat hat ferner entschieden, daß dieses auch dann gilt, wenn die Behörde ihren Beratungsauftrag durch den Einsatz von Versichertenältesten erfüllt (BSG SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 3 S 8/9 oben unter Hinweis auf § 39 Abs 3 SGB 4 und § 25 Abs 3 der Satzung der Beklagten).
Nicht gefolgt werden kann dem LSG jedoch darin, daß sich die Beratungspflicht der Beklagten und damit auch des Versichertenältesten darauf beschränkt, wie sich eine Nachentrichtung von Beiträgen auf eine Rente aus der gesetzlichen Angestelltenversicherung auswirkt. Hierzu hat der erkennende Senat bereits entschieden (das Urteil konnte dem LSG noch nicht bekannt sein), daß der Versicherungsträger - sofern ihm das Bestehen einer Zusatzversorgung bekannt war oder bekannt sein mußte - zumindest auf den Umstand aufmerksam machen muß, daß Zusatzversorgungen einen Einfluß darauf haben können, ob und in welcher Höhe eine Beitragsnachentrichtung sinnvoll ist (SozR 1200 § 14 Nr 24).
Im vorliegenden Fall wird vorgetragen, daß dem Versichertenältesten P. , an den sich der Kläger gewandt haben will, das Bestehen der Zusatzversorgung bekannt war. Dies erweiterte dann zwar dessen Beratungspflicht nicht in der Weise, daß er nunmehr auch über die Modalitäten der Zusatzversorgung und die Folgen der Nachentrichtung in diesem Bereich beraten mußte. Er mußte aber dem Kläger einen Hinweis geben, daß Folgen im Rahmen der Zusatzversorgung möglich erscheinen, und ihm nahelegen, sich deswegen bei der zuständigen Stelle zu erkundigen (vgl das zuletzt genannte Urteil des Senats aaO S 57 f).
Die vom LSG und der Beklagten mehrfach zitierte Entscheidung des 11. Senats des BSG vom 23. Januar 1986 - 11a RA 62/84 - steht einer solchen Verpflichtung nicht entgegen. In dem vom 11. Senat entschiedenen Fall war der Bedienstete (Berater) des Rentenversicherungsträgers gefragt worden, ob sich durch eine bestimmte Gestaltung des Versicherungsverhältnisses (Antrag auf Umwandlung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in ein Altersruhegeld) die Leistungen der Zusatzversorgung (Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder -VBL-) ändern würden. Der Berater hatte dies nicht beantworten können und das auch gesagt. Damit habe - so der 11. Senat - der Versicherungsträger seiner Beratungspflicht genügt; einer ausdrücklichen Benennung der für eine weitergehende Beratung zuständigen Stelle (VBL) habe es nicht bedurft, "da der Klägerin die VBL als sachkundige Stelle bekannt war". Der Klägerin des vom 11. Senat entschiedenen Verfahrens war mithin bewußt, daß die dort streitige Rentenumwandlung einen Einfluß auf die Zusatzversorgung haben konnte, und ihr war auch bewußt, bei welcher Stelle sie nähere Auskunft darüber erhalten konnte. Bei der Entscheidung des 11. Senats ging es also lediglich darum, ob der Versicherungsträger nach dem Hinweis, daß er die gestellte Frage nicht beantworten könne, eine weitergehende Beratung ablehnen durfte. Der 11. Senat hat dies auch nach Ansicht des erkennenden Senats zu Recht angenommen. In der Tat beschränkt sich die Beratungspflicht gemäß § 14 SGB 1 auf die Sozialleistungen nach dem SGB. Sie erstreckt sich nicht auf Zusatzversorgungen außerhalb des SGB. Das schließt jedoch nicht aus, daß der Versicherungsträger durch seine Bediensteten und sonstige von ihm mit Beratungsaufgaben betraute Personen einen Versicherten, der, wie der Kläger, mit der möglichen Auswirkung einer Entrichtung von Beiträgen auf eine Zusatzversorgung ersichtlich nicht vertraut ist, auf eine solche, den Umständen des Falles nach naheliegende Möglichkeit hinweisen muß und damit dem Versicherten wenigstens den Weg zu einer sachkundigen Beratung öffnet. Der Hinweis auf eine solche Möglichkeit von Wechselwirkungen gehört vielmehr zu der erforderlichen umfassenden Beratung über die Rechte nach den Sozialleistungsgesetzen und deren Folgen.
Der Rechtsstreit kann allerdings noch nicht abschließend entschieden werden. Das LSG hat - aufgrund seiner Rechtsauffassung zu Recht - keine Feststellungen darüber getroffen, ob, wann und mit welchem Anliegen sich der Kläger an den Versichertenältesten P. gewandt hat, ob er von ihm unzureichend beraten worden ist und ob er bei richtiger Beratung durch P. und ggf eine für die Zusatzversorgung zuständige Stelle noch vor Fristablauf die fraglichen Mindestbeiträge nachentrichtet hätte.
Der Entrichtung solcher Beiträge stünde nicht entgegen, daß er zunächst die Nachentrichtung von Höchstbeiträgen beantragt und auch einen entsprechenden Zulassungsbescheid erhalten hatte. Zu einer Herabsetzung der gewählten Beitragsklasse war er nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats auch nach Eintritt der Bindungswirkung des Zulassungsbescheides noch berechtigt (BSGE 50, 16).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
RegNr, 18204 (BSG-Intern) |
BR/Meuer SGB I § 14, 22-09-88, 12 RK 55/86 (LT1) |
Breith 1989, 619-622 (LT1) |
EzS, 70/67 (T) |
SozR 1200 § 14, Nr 29 (LT1) |
VersR 1989, 606-607 (LT) |
ZfSH/SGB 1989, 374 (K) |