Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Beitragsrecht. Beitragsnachforderung. Aufhebung einer rechtswidrig begünstigenden Höchstbetragsfestsetzung. unrichtiger Lohnnachweis. kein Ermessen. Entstehungsgeschichte, Verwaltungspraxis und Rechtsprechung
Orientierungssatz
§ 168 Abs 2 SGB 7 idF vom 8.7.1996 räumt den Unfallversicherungsträgern kein Aufhebungsermessen ein. Vielmehr müssen die Unfallversicherungsträger den früheren rechtswidrigen begünstigenden Beitragsbescheid (hier: rechtswidrig begünstigende Höchstbetragsregelung) aufheben, falls ein Tatbestand des § 168 Abs 2 SGB 7 idF vom 8.7.1996 (hier: unrichtiger Lohnnachweis) erfüllt ist.
Normenkette
SGB 7 § 168 Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 1996-08-07, Abs. 1; RVO § 749 Fassung: 1963-04-30, § 749 Fassung: 1980-08-18, § 755 Fassung: 1911-07-19; SGB 10 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
Tatbestand
Umstritten ist die Nacherhebung von Beiträgen.
Die Klägerin ist eine Beschäftigungs-, Auffang- und Qualifizierungsgesellschaft und als solche Mitglied bei der beklagten Verwaltungs-Berufsgenossenschaft. Sie verwaltet sog "betriebsorganisatorisch eigenständige Einheiten" (beE), in denen Arbeitnehmer eines Unternehmens, die sonst entlassen werden müssen, zusammengefasst werden mit den Zielen, ihre Eingliederungschancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern usw. Im umstrittenen Beitragsjahr 2003 unterstützte die Bundesagentur für Arbeit (BA) solche Maßnahmen durch sog Struktur-Kurzarbeitergeld. Entsprechend dem von der Klägerin für das Jahr 2003 vorgelegten Entgeltnachweis, der Arbeitsentgelte in Höhe von 832.952 Euro für 27 Versicherte auswies, setzte die Beklagte der Klägerin gegenüber den Beitrag für das Jahr 2003 mit 12.887,03 Euro fest (Beitragsbescheid 2003 vom 21.4.2004). Nachdem ein Betriebsprüfer der Beklagten bei der Klägerin festgestellt hatte, dass bestimmte Bezügebestandteile der Arbeitnehmer in den beE in Höhe von 6.833.753,00 Euro für das Jahr 2003 nachträglich veranlagt werden müssten, erließ die Beklagte gegenüber der Klägerin für das Beitragsjahr 2003 einen neuen Beitragsbescheid, indem sie den alten Beitragsbescheid änderte, den Gesamtbeitrag auf 107.013,19 Euro festsetzte und abzüglich von schon gezahlten 12.887,03 Euro einen Restbetrag von 94.126,16 Euro geltend machte (Bescheid vom 4.4.2005, Widerspruchsbescheid vom 10.3.2006).
Das Sozialgericht Dortmund (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13.11.2007). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin den Bescheid vom 4.4.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.3.2006 für das Beitragsjahr 2003 aufgehoben (Urteil vom 1.10.2008) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzung des § 168 Abs 2 Nr 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallversicherungs-Modernisierungsgesetz - UVMG) vom 30.10.2008 (BGBl I 2130) am 5.11.2008 geltenden Fassung (im Folgenden: SGB VII aF) sei erfüllt, weil der Lohnnachweis der Klägerin für das Beitragsjahr 2003 unrichtige Angaben enthalten habe. Die Klägerin habe Bezügebestandteile ihrer Arbeitnehmer in den beE zu Unrecht nicht gemeldet. Diese Arbeitnehmer stünden in einem regulären Beschäftigungsverhältnis nach § 7 Abs 1 Satz 2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) zu der Beschäftigungsgesellschaft, sodass sie auch für diese Arbeitnehmer der Beitragspflicht nach § 150 Abs 1 Satz 1 SGB VII unterliege. Der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides sei jedoch aufzuheben, weil die Beklagte den ursprünglichen Beitragsbescheid nur habe aufheben "dürfen", womit ihr ein Ermessen eingeräumt worden sei, das sie aber nicht ausgeübt habe. Die Einräumung von Ermessen folge aus dem Wortlaut der Vorschrift und ihrer Auslegung in Rechtsprechung und Literatur. Aus dem zwischenzeitlich vom Bundestag beschlossenen UVMG, das die Formulierung "darf … aufheben" durch die Formulierung "ist … aufzuheben" ersetze, folge nichts anderes. Ein in § 39 Abs 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeine Vorschriften (SGB I) genügende Ermessensausübung der Beklagten sei weder ihrem Bescheid vom 4.4.2005 noch dem Widerspruchsbescheid vom 10.3.2006 zu entnehmen. Es liege kein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vor und ebenso wenig habe die Beklagte ihren Ermessensnichtgebrauch geheilt.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und macht geltend: § 168 Abs 2 SGB VII aF habe keine Ermessensentscheidung von ihr verlangt. Die Formulierung "darf … nur dann aufgehoben werden" sei richtigerweise zu verstehen als "ist nur zulässig, wenn …". Nach § 76 Abs 1 SGB IV sei der Unfallversicherungsträger zur rechtzeitigen und vollständigen Beitragserhebung verpflichtet und habe keine Möglichkeit, im Rahmen einer Ermessensentscheidung von der tatbestandlich gebotenen Nachberechnung abzusehen. Hierfür spreche auch die "Klarstellung" durch das UVMG. Zur Vorläufervorschrift in § 749 Reichsversicherungsordnung (RVO) sei das Bundessozialgericht (BSG) von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen. Für eine gebundene Entscheidung spreche auch der Normzweck des § 168 Abs 2 SGB VII, weil sonst derjenige, der zunächst nicht korrekte Angaben gemacht habe, bevorzugt werde.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Oktober 2008 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 13. November 2007 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Das Urteil des LSG verletzt § 168 Abs 2 SGB VII aF, soweit es das Urteil des SG abgeändert und den Bescheid der Beklagten vom 4.4.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.3.2006 aufgehoben hat. Der in diesem Bescheid enthaltene Verwaltungsakt, mit dem die Beklagte die frühere Höchstbetragsfestsetzung hinsichtlich des umstrittenen Beitrags für das Jahr 2003 aufgehoben hat, ist entgegen der Ansicht des LSG rechtmäßig, weil die Voraussetzungen des § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII aF erfüllt sind (dazu 1.) und der Beklagten hinsichtlich der Aufhebung der Höchstbetragsfestsetzung kein Ermessen eingeräumt wird (dazu 2.). Soweit die Beklagte in einem weiteren Verwaltungsakt in dem angefochtenen Bescheid vom 4.4.2005 eine Nachzahlungspflicht der Klägerin für das Jahr 2003 festgestellt hat, kann das BSG noch nicht abschließend entscheiden (dazu 3.).
1. Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Aufhebung der früheren Höchstbetragsfestsetzung nach § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII aF liegen vor.
Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung der früheren Höchstbetragsfestsetzung betreffend das Beitragsjahr 2003 ist § 168 Abs 2 SGB VII aF in der ab 1.1.1997 geltenden Fassung des Art 1 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) , die bis zum 4.11.2008 in Kraft gewesen ist. § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII wurde mit Wirkung erst zum 5.11.2008 neu gefasst ("ist" aufzuheben; vgl Art 1 Nr 22a Buchst a UVMG vom 30.10.2008; BGBl I 2130) . Der zeitliche Geltungsbereich der Neufassung der Vorschrift erfasst die vorher ergangenen angefochtenen Verwaltungsakte nicht. Deren Rechtmäßigkeit beurteilt sich nach der zum Zeitpunkt ihres Erlasses geltenden Gesetzesfassung, weil sie keine Regelungen mit Dauerwirkung enthalten, sondern nur über die Beitragserhebung für einen abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit (vgl BSG vom 11.3.1987 - 10 RAr 5/85 - BSGE 61, 203, 205 = SozR 4100 § 186a Nr 21) .
§ 168 Abs 2 SGB VII aF lautet hinsichtlich der hier relevanten Nr 2: "Der Beitragsbescheid darf mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben werden, wenn … 2. der Lohnnachweis unrichtige Angaben erhält oder sich die Schätzung als unrichtig erweist …"
§ 168 Abs 2 SGB VII setzt tatbestandlich voraus, dass eine Beitragsfestsetzung nach § 168 Abs 1 SGB VII für das jeweilige Umlagejahr bereits ergangen und dass der Höchstbetrag der Zahlungspflicht des Beitragsschuldners darin zu dessen Gunsten der Höhe nach rechtswidrig zu niedrig festgesetzt worden ist, weil ua der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthielt (ähnlich BSG vom 4.3.2004 - B 3 KR 15/03 R - juris RdNr 10) . Die Vorschrift ermächtigt und verpflichtet den Beitragsgläubiger sodann, diese rechtswidrig begünstigende Höchstbetragsfestsetzung zuungunsten des Beitragsschuldners aufzuheben. Ohne eine solche Aufhebung darf der Träger die Beitragsschuld nicht neu feststellen.
Fehlt eine der genannten Voraussetzungen, darf der Träger die frühere Höchstbetragsregelung nicht aufheben und bleibt an sie gebunden. Der Beitragsbescheid muss, damit die Aufhebung eines Verwaltungsakts zuungunsten des Beitragspflichtigen überhaupt möglich ist, einen den Beitragspflichtigen begünstigenden Verwaltungsakt verlautbart haben. Diese begünstigende Regelung besteht in der mit dem ersten Beitragsbescheid vom 21.4.2004 ergangenen Feststellung, dass der Beitragsschuldner nicht mehr als 12.887,03 Euro zahlen muss.
Diese begünstigende Höchstbetragsregelung steht ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses nicht mehr zur Disposition der Verwaltung. Der zuständige Träger ist zudem gemäß § 77 SGG an sie gebunden (vgl auch BSG vom 2.12.1992 - 6 RKa 33/90 - BSGE 71, 274, 277 = SozR 3-1500 § 85 Nr 1) . Das bedeutet, dass zwischen dem Träger und dem Beitragspflichtigen kraft des Verwaltungsakts feststeht, dass der Träger keinen höheren Beitrag fordern darf, solange die Höchstbetragsregelung wirksam ist (§ 39 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫) . Die Bindungswirkung der Höchstbetragsregelungen besteht nach § 77 SGG nicht, soweit durch Gesetz anderes bestimmt ist, insbesondere soweit ein Gesetz zur Aufhebung der Verwaltungsakte ermächtigt. § 168 Abs 2 SGB VII aF ermächtigt zur Aufhebung wirksamer und bindender Höchstbetragsregelungen.
Die Voraussetzungen des § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII aF lagen vor. Es war für das Jahr 2003 ein Beitragsbescheid ergangen, in dem der Höchstbetrag der Beitragsschuld gemessen an der gesetzlichen Beitragsschuld zugunsten der Klägerin zu niedrig festgesetzt worden war, weil deren Lohnnachweis unrichtig war.
Die Angaben der Klägerin in ihrem Lohnnachweis für das Jahr 2003 waren, wie zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig ist, zu Lasten der Beitragsforderungen der Beklagten unrichtig. Denn die Klägerin hatte bestimmte Bezügebestandteile ihrer Arbeitnehmer in den beE, die Teil ihrer Transfer- und Qualifizierungsgesellschaft waren, nicht mitgeteilt. Dass diese Arbeitnehmer Versicherte des Unternehmens der Klägerin waren, für die die Klägerin nach § 150 Abs 1 SGB VII beitragspflichtig war, folgt aus § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII, nach der Beschäftigte kraft Gesetzes versichert sind, und der Legaldefinition von Beschäftigung in § 7 Abs 1 SGB IV ( siehe auch BSG vom 14.12.2006 - B 1 KR 9/06 R - BSGE 98, 33, 36 = SozR 4-2500 § 47 Nr 6, jeweils RdNr 15 f ). Danach ist Beschäftigung "die nicht selbstständige Arbeit insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisung und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers."
Ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen des LSG, gegen die kein Beteiligter Rügen erhoben hat und die damit für den Senat nach § 163 SGG bindend sind, ergibt sich eine Beschäftigung der Personen in den beE durch die Klägerin. Der zwischen diesen Personen und der Klägerin sowie dem früheren Arbeitgeber der Personen abgeschlossene Vertrag war mit dem "Arbeitsvertrag" überschrieben und enthielt die typischen Inhalte eines solchen, ein Arbeitsverhältnis begründenden Vertrages: Die Personen in den beE erhielten eine feste Vergütung und hatten Anspruch auf Urlaub. Die Klägerin ihrerseits hatte eine Weisungsbefugnis gegenüber diesen Personen, zumal sie diese weiter qualifizieren, fortbilden, in Arbeit vermitteln usw sollte (vgl nur zuletzt Urteil des Senats vom 30.6.2009 - B 2 U 22/08 R - sowie BSGE 36, 161 = SozR Nr 73 zu § 165 RVO; BSGE 68, 236 = SozR 3-4100 § 104 Nr 6) . Im Übrigen bewirkte die der gesamten Konstruktion zugrunde liegende Zahlung von sog Struktur-Kurzarbeitergeld durch die BA nach dem damals geltenden § 175 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (SGB III), dass ein Versicherungspflichtverhältnis bestand (§ 24 Abs 3 SGB III) . Dementsprechend entrichtete die Klägerin auch Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung für die Personen in den beE.
2. Die Beklagte hat die Höchstbetragsregelung in ihrem Bescheid vom 21.4.2004 zu Recht aufgehoben, ohne Ermessen zu betätigen. § 168 Abs 2 SGB VII aF räumt den Unfallversicherungsträgern kein Aufhebungsermessen ein. Vielmehr müssen sie die frühere rechtswidrig begünstigende Höchstbetragsregelung aufheben, falls - wie hier - ein Tatbestand des § 168 Abs 2 SGB VII aF erfüllt ist.
a) Die Frage, ob das Gesetz den Unfallversicherungsträgern für die Aufhebung früherer Beitragshöchstfestsetzungen Ermessen einräumt, ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten. Die herrschende Meinung nimmt an, § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII aF gewähre Ermessen (vgl LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.7.2007 - L 7 U 2777/07 ER-B; LSG Berlin-Brandenburg vom 20.3.2007 - L 2 U 46/03 - und vom 12.2.2003 - L 2 U 221/06; LSG Rheinland-Pfalz vom 20.2.2004 - L 2 ER 59/03 U - NZS 2004, 602; LSG Nordrhein-Westfalen vom 1.10.2008 - L 17 U 274/07 - jetzt B 2 U 34/08 R; Schleswig-Holsteinisches LSG vom 22.11.2007 - L 1 U 98/06; sowie die herrschende Meinung in der Literatur: Platz in Lauterbach, Unfallversicherung, 4. Aufl, Stand April 2007, § 168 SGB VII RdNr 4; Höller in Hauck/Noftz, SGB VII - Gesetzliche Unfallversicherung, Stand IV. Lieferung 2009, K § 168 RdNr 11; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2008, § 168 SGB VII RdNr 4) . Dies wird von der Mindermeinung verneint (LSG Niedersachsen vom 29.7.1997 - L 3 U 223/97 - Breithaupt 1997, 939, 942 mwN; LSG Berlin vom 30.4.2002 - L 2 U 55/00; SG Dortmund vom 25.7.2002 - S 17 U 45/00; aus der Literatur: Bigge in BG 2008, S 133, 135; Ricke in KasselerKomm, Sozialversicherungsrecht, Stand September 2007, § 168 SGB VII RdNr 4; Bigge in jurisPR-SozR 22/07 Anm 3).
b) Für die Rechtsauffassung des LSG, die Norm stelle es in das Ermessen der Verwaltung, den früheren begünstigenden Verwaltungsakt aufzuheben, spricht allerdings der ab 1997 gültige Gesetzeswortlaut ("darf nur aufgehoben werden"). Er deutet in der juristischen Fachsprache (seit 1981 auch im SGB) im Regelfall, allerdings nicht notwendig immer, auf die Einräumung eines Ermessens hin. Jedoch kann die Höchstbetragsregelung zuungunsten des Beitragsschuldners nur ganz oder gar nicht und nur dann aufgehoben werden, wenn feststeht, dass der Unfallversicherungsträger eine höhere Beitragsforderung hat. Zu welchem Zweck er dennoch befugt sein sollte, die frühere Feststellung eines rechtswidrig niedrigen Höchstbetrags nicht aufzuheben, ergibt sich aus dem Wortlaut nicht.
c) Das LSG hat aber wohl sinngemäß vorausgesetzt, es bestehe ein Ermessen nicht nur hinsichtlich der Aufhebung oder Nichtaufhebung der Höchstbetragsregelung, sondern vor allem für die Neufeststellung der Beitragsforderung. Dann gäbe es also eine Art "Gesamtentscheidung" aus zwei Verwaltungsakten, in der die Aufhebung der früheren Höchstbetragsregelung und die neue Beitragsfeststellung miteinander verbunden wären, um eine sachgerechte Einzelfallentscheidung über den nachzufordernden Beitrag zu erlauben. Dabei wären zwei Ermessenszwecke denkbar:
Erstens könnte eigenes Fehlverhalten des Unfallversicherungsträgers zu berücksichtigen sein, wenn es zur Unrichtigkeit der Lohnnachweise (oder einer Schätzung) führte. Das könnte sich daraus ergeben, dass § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII auch Fälle erfasst, in denen die Unrichtigkeit der ersten Höchstbetragsfeststellung allein oder wesentlich auf einem Fehlverhalten des Trägers beruht. Aufgrund eines solchen wesentlichen Fehlers des Trägers können dem Unternehmer bezifferbare wirtschaftliche Nachteile entstehen, weil die Nachforderung erst später erhoben wird und sie den durch den Verwaltungsakt begründeten Vertrauens- und Dispositionsschutz des Unternehmers verdrängt. Auch können sich die wirtschaftlichen Umstände inzwischen zum Nachteil des Unternehmers geändert haben. Diese wirtschaftlichen Nachteile könnten ggf bei der Neufeststellung der Beitragsschuld im Wege der Ermessensausübung in dem Sinne zu berücksichtigen sein, dass die Beklagte nicht den gesamten sich aus Gesetz und Satzung errechnenden Beitrag fordern darf.
Zweitens könnte ein praktisches Bedürfnis der Träger bestehen, von einer strikten Feststellung des höheren Nachforderungsbetrages absehen zu dürfen, wenn Einzelfallumstände die Festsetzung nur eines Teils hiervon oder sogar ein Absehen von ihr nahelegen. Die Unfallversicherungsträger gehen bei der Feststellung ihrer Nachforderungen nicht selten "vergleichsweise", aber ohne einen in ihrem Ermessen stehenden Vergleichsvertrag (§ 54 Abs 1 SGB X) zu schließen, auf tatsächliche oder rechtliche Unklarheiten ein und setzen eine geringere als die von ihnen "eigentlich" errechnete Nachforderung fest. Nach dem Bekunden der Beklagten berücksichtigen sie dabei auch, ob eigenes Fehlverhalten zur Unrichtigkeit der ersten Entscheidung beigetragen hat und welche konkreten wirtschaftlichen Nachteile dem Beitragsschuldner durch die Nachforderung entstehen.
d) Dieser Ansicht ist aber nicht zu folgen. Der scheinbar Ermessen einräumende Gesetzeswortlaut ("darf nur") schließt nicht aus, dass die Befugnis zur Aufhebung der Höchstbetragsregelung bei Vorliegen des Tatbestandes gebunden auszuüben ist, wie es bei Eingriffsermächtigungen, um die es hier geht, nicht selten anzutreffen ist.
aa) Allerdings überzeugen die Argumente der Beklagten gegen eine Ermessenseinräumung nicht. Ermessen ist entgegen ihrer Ansicht nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Wortlaut dasselbe bedeutet wie: "Ist nur zulässig, wenn". Denn auch diese Formulierung kann eine Ermessenseinräumung bedeuten. Ein Ausschluss von Ermessen ergibt sich auch nicht aus § 76 SGB IV, nach dem Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben sind. Denn diese Vorschrift ist nicht anwendbar. Solange nämlich die Höchstbetragsregelung nicht aufgehoben ist, steht fest, dass dem Unfallversicherungsträger keine höheren Einnahmen zustehen. Rechtliche Rückschlüsse daraus, dass das Gesetz seit dem 5.11.2008 statt von "darf, nur" von "ist" spricht und dass die Änderung mit der Begründung vorgeschlagen worden ist, es handle sich dabei nur um eine "Klarstellung", verbieten sich schon deshalb, weil der Deutsche Bundestag nicht angeordnet hat, dass der neue Gesetzestext rückwirkend in Kraft treten soll. Er hat nur eine Neuregelung für die Zukunft getroffen.
bb) Die Entstehungsgeschichte des § 168 Abs 2 SGB VII zeigt, dass er die Wörter: "darf nur" im Blick auf die Aufhebung in demselben Sinn verwendet, in dem die RVO ihn von 1911 bis Ende 1996 (zuletzt in § 749 RVO) im Blick auf die Beitragsneufeststellung gebraucht hat. So lautete bereits § 749 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30.4.1963 (BGBl I 241) : "Nach Zustellung des Bescheides darf die Berufsgenossenschaft den Beitrag zuungunsten des Beitragsschuldners nur dann noch anders feststellen, wenn … 3. der Lohnnachweis sich als unrichtig ergibt". Die Formulierung stammte ihrerseits aus einer seit dem Jahr 1913 geltenden Vorläufervorschrift in § 755 RVO idF vom 19.7.1911 (RGBl I 509) , also aus einer Zeit, als das allgemeine Verwaltungsrecht und das Sozialverwaltungsrecht einschließlich der Ermessenslehre nicht im Ansatz den heutigen Stand der Unterscheidung zwischen gebundener und Ermessensverwaltung erreicht hatten.
In ständiger Verwaltungspraxis wurden Beitragsänderungen nach § 749 RVO nicht als Ermessensentscheidungen getroffen, obwohl auch die Regelungen der RVO schon immer den Wortlaut hatten, dass ein Beitragsbescheid unter den genannten Voraussetzungen geändert werden "darf". Auch in der Literatur zu § 749 RVO ist nicht erörtert und gefordert worden, dass eine Beitragsnachforderung nur ergehen kann, wenn nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind, sondern auch Ermessen ausgeübt worden ist (vgl zu § 740 RVO: Ricke in KasselerKomm, Stand September 1994, § 749 RVO RdNr 3; Baumer/Fischer/Salzmann, Die gesetzliche Unfallversicherung, Stand 49. Lieferung 1996, § 749 Anm 6; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Stand Mai 1994, § 749 RVO RdNr 2; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1.1.1996, § 749 RdNr 3, 6b; Burchardt in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Dezember 2001, § 749 RdNr 11).
Bei Inkrafttreten des SGB X zum 1.1.1981 hat der Gesetzgeber § 749 RVO beibehalten, obwohl zunächst dessen Streichung vorgeschlagen worden war (vgl Wiesner, SGb 1984, 95 mwN). Nach dem damaligen Verständnis sollte eine einfachere Regelung geschaffen werden, die auf die Vertrauensschutzregelung ähnlich dem § 45 Abs 2 SGB X verzichtet und die nur in den ausdrücklich genannten Fällen die Nachforderung erlaubt und gebietet und sie anderenfalls verbietet (vgl Wiesner aaO; S 95 f).
Die Rechtsprechung hat die Nichtausübung von Ermessen nie beanstandet (vgl BSG vom 12.12.1985 - 2 RU 30/85 - SozR 2200 § 734 Nr 6 S 24 f; ähnlich BSG vom 12.12.1985 - 2 RU 49/84 - SozR 2200 § 734 Nr 5 S 14; LSG Niedersachsen vom 29.7.1997 - L 3 U 223/97 - juris RdNr 22). In den vom BSG entschiedenen Fällen war es zur Neuveranlagung für laufende Tarifzeiten gekommen, in der Folge sind Beiträge nach § 749 Nr 3 RVO höher festgesetzt worden. Das BSG hat bezüglich der Beitragsnachforderungen nur die Voraussetzungen nach § 749 Nr 3 RVO geprüft. In dem einen Fall hat es die Neufeststellungen nicht auf Ermessensfehler hin überprüft oder gar mangels Ermessensausübung als rechtswidrig angesehen. In dem anderen Fall wurde die Sache an das LSG zurückverwiesen, damit dort geprüft werde, ob die Beiträge aufgrund der Neuveranlagung - hinsichtlich ihrer Höhe - rechtmäßig sind. Dennoch wurde nicht einmal erwähnt, dass das LSG auch prüfen müsse, ob der Träger Ermessen rechtmäßig ausgeübt hatte, ohne das im BSG-Urteil Anhaltspunkte für eine solche Ermessensbetätigung erkennbar sind.
In der Begründung des Entwurfs der Bundesregierung für ein Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch - Unfallversicherungs-Eingliederungsgesetz - vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) ist ausgeführt worden (vgl BT-Drucks 13/2204 S 113) , die Vorschrift zähle die Fälle auf, in denen ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werden kann. Es bleibe mit der Regelung die bisherige Rechtslage (unter Hinweis auf: § 749 RVO) im Wesentlichen unverändert. Auch auf den Ausschluss der Ermessensnormen in §§ 44 f SGB X weist die Gesetzesbegründung hin . Diesen Ausführungen lässt sich die Regelungsintention der gesetzesinitiativ gewordenen Bundesregierung entnehmen, die bisher geltende Rechtslage trotz begrifflicher Klarstellungen nicht ändern zu wollen.
e) Der Ausschluss des § 45 SGB X, der Aufhebungsermessen bei der Rücknahme rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakte einräumt, bedeutet, dass die Sondervorschrift des § 168 Abs 2 SGB VII aF alle Umstände abschließend festgelegt und bewertet, von denen die Aufhebung der Höchstbetragsregelung abhängen soll. Die gegenteilige Auffassung hat zum Inhalt, das Gesetz ermächtige die Unfallversicherungsträger nicht lediglich zur Aufhebung der früheren Höchstbetragsregelung, sondern unausgesprochen auch noch dazu, nach materiellem Recht bestehende Beitragsforderungen aus anderen Gründen als dem Abschluss eines Vergleichsvertrags im Ermessenswege niedriger festzusetzen, also die gesetzliche Beitragsschuld nach Ermessen zu verringern. Ihr zu folgen, wäre eine unzulässige, mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbare und in den Vorbehaltsbereich des Gesetzes (§ 31 SGB I) eingreifende richterliche Rechtsfortbildung.
3. Der Senat hat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen, soweit die Klägerin auch gegen die Neufeststellung der Höhe ihrer Beitragszahlungspflicht für das Jahr 2003 Klage erhoben hat. Insoweit hat das LSG - ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu Recht - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, so dass das BSG nicht abschließend entscheiden kann, ob die neue Beitragsfestsetzung der Höhe nach rechtmäßig ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a Abs 1 SGG iVm § 52 Abs 1 Gerichtskostengesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 2290897 |
SGb 2009, 660 |