Tenor
Auf die Revision der Klägerinnen zu 1) und 2) werden aufgehoben: Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Januar 1971 insoweit, als die Berufung der Klägerinnen zu 1) und 2) zurückgewiesen worden ist, und das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 1. April 1969 sowie der Bescheid der Beklagten vom 2. April 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juni 1968 insoweit, als darin die Versicherungs- und Beitragspflicht der Vorstandsmitglieder M., Dr. W. und R. bei den Klägerinnen zu 1) und 2) festgestellt worden ist.
Die Beklagte hat den Klägerinnen zu 1) und 2) und den Beigeladenen zu 3) und 4) deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beigeladenen Heinrich M. und Dr. Herbert W. sowie der verstorbene Christian R. in ihrer Eigenschaft als Vorstandsmitglieder der beiden klagenden Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit in der Angestellten (AnV)- und Arbeitslosenversicherung (ArblV) vom 1. Januar 1968 an versicherungs- und beitragspflichtig waren und sind.
Die Klägerinnen zu 1) und 2) sind Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit. Die Beigeladenen Heinrich M. (M.) und Dr. Herbert W. (W.) sind gleichzeitig Vorstandsmitglieder der Universa Versicherungs AG in Nürnberg und der beiden Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit. Bis zu seinem Tode am 16. November 1968 war auch Christian R. (R.) Vorstandsmitglied der drei genannten Privatversicherer. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem insoweit rechtskräftigen Urteil festgestellt daß M., W. und R. als Vorstandsmitglieder der Universa Versicherungs AG in Nürnberg seit dem 1. Januar 1968 nicht der Versicherungspflicht in der AnV und ArblV unterlagen.
Die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) stellte u.a. gegenüber den Klägerinnen die Versicherungs- und Beitragspflicht der drei Vorstandsmitglieder M., W. und R. in der AnV und ArblV ab 1. Januar 1968 fest, bei R. in der ArblV jedoch nur bis Ende Februar 1968 (Bescheid vom 2. April 1968; Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1968) Klage und Berufung waren – soweit sie den gegenwärtigen Streit betreffen – erfolglos (Urteile vom 1. April 1969 und 14. Januar 1971). Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerinnen haben gegen das Urteil des LSG Revision eingelegt. Sie rügen eine Verletzung der §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 1 a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), 56 Abs. 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG), 168 Abs. 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) und des Art. 3 des Grundgesetzes (GG).
Die Klägerinnen zu 1) und 2) beantragen,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Januar 1971 insoweit aufzuheben, als die Berufung der Klägerinnen zu 1) und 2) zurückgewiesen worden ist und das Urteil des SG Nürnberg vom 1. April 1969 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. April 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juni 1968 insoweit aufzuheben, als diese die Versicherungs- und Beitragspflicht der Vorstandsmitglieder M. Dr. W. und R. aufgrund ihrer Beschäftigung bei den Klägerinnen zu 1) und 2) betreffen.
Die Beklagte AOK beantragt,
die Revision der Klägerinnen zu 1) und 2) zurückzuweisen.
Die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit (BA) – Beigeladene zu 1) und 2) – stellen keinen Antrag.
Die Beigeladenen M. und Dr. W. (Beigeladene zu 3) und 4) sind nicht vertreten.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerinnen ist begründet.
Die Vorstandsmitglieder M., W. und R. unterlagen und unterliegen vom 1. Januar 1968 an nicht der Versicherungs- und Beitragspflicht in der Angestellten und Arbeitslosenversicherung.
Das LSG hat die Versicherungs- und Beitragspflicht der drei Vorstandsmitglieder bei der Universa Versicherungs-AG in Nürnberg in der AnV und ArblV für die Zeit ab 1. Januar 1968 unter Hinweis auf § 3 Abs. 1 a AVG verneint, sie jedoch für dieselbe Zeit der Tätigkeit von M., W. und R. als Vorstandsmitglieder der klagenden Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit bejaht. Es hat dabei die Auffassung der Klägerinnen, die sie auch in ihrer Revision wiederholen, verworfen, aus § 34 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungs- und Bausparwesen – Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)–: „Für den Vorstand gelten § 76 Abs. 1 und 3, §§ 77 bis 91, 93 und 94 des Aktiengesetzes entsprechend” folge die rechtliche Gleichstellung der Mitglieder des Vorstands eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit mit denjenigen des Vorstands einer Aktiengesellschaft und daher sei die Ausnahmeregelung des § 3 Abs. 1 a AVG auch auf die drei Vorstandsmitglieder der Klägerinnen mit der Folge anzuwenden, daß sie auch insoweit nicht versicherungs- und beitragspflichtig seien. Das Berufungsgericht hat es abgelehnt, § 3 Abs. 1 a AVG entsprechend anzuwenden, da diese Vorschrift als Ausnahmeregelung nicht ausdehnend ausgelegt werden dürfe.
Der Senat ist der Auffassung, daß die Entscheidung des LSG dem besonderen Inhalt des § 3 Abs. 1 a AVG nicht gerecht wird. Nach dieser Vorschrift gehören „zu den Angestellten im Sinne des Absatzes 1 nicht die Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft”. Die Sozialversicherungsgesetze rechnen wegen ihres sozialen Schutzcharakters gegen Entgelt Beschäftigte grundsätzlich den versicherungspflichtigen Personen zu (vgl. für die Krankenversicherung § 165 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2, § 165 a, § 165 b der Reichsversicherungsordnung – RVO–, für die Unfallversicherung vornehmlich § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO, für die Rentenversicherung vornehmlich § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO, § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 AVG). Dieser Grundsatz über die Versicherungspflicht von Personen, die gegen Entgelt abhängig beschäftigt sind, liegt auch den Regelungen über die Versicherungsfreiheit (§§ 168, 169, 172, 541, 542, 1228, 1229 RVO, §§ 4, 6 AVG) und über die Befreiung von der Versicherungspflicht (§§ 173, 173 a, 173 b, 174, 1230, 1231 RVO, §§ 7, 8 AVG) zugrunde: Aufgrund gesetzlich genau umrissener Tatbestände erscheint der jeweilig durch die Pflichtversicherung verbürgte soziale Schutz unmittelbar entbehrlich, so daß Versicherungsfreiheit kraft Gesetzes eintritt oder im Falle der Versicherungsbefreiung auf Antrag. Versicherungsfreiheit und Versicherungsbefreiung sind jedoch nicht denkbar ohne die zugrunde liegende Versicherungspflicht als der Regel, von der Versicherungspflicht und Versicherungsbefreiung lediglich gesetzlich verfügte Ausnahmen darstellen.
Die Vorschrift des § 3 Abs. 1 a AVG: „Zu den Angestellten im Sinne des Absatzes 1 gehören nicht die Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft” durchbricht die geschilderte sozialversicherungsrechtliche Ordnung und steht damit außerhalb des üblichen Regel-Ausnahmeverhältnisses (Versicherungspflicht, -freiheit, -befreiung). Das Gesetz hat hier Neuland betreten. Denn die Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft „gehören” nicht zu dem schutzwürdigen Kreis der im Absatz 1 des § 3 AVG „insbesondere” aufgezählten Angestellten, wenngleich auch sie abhängig gegen Entgelt beschäftigt werden. Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft stehen daher kraft Gesetzes nicht in, sondern außerhalb der Angestelltenversicherung. Die Zuordnungen in Versicherungspflicht, – freiheit und – befreiung gelten für sie nicht. Der Wortlaut sowie Sinn und Zweck des § 3 Abs. 1 a AVG belegen das:
Bereits der Wortlaut des § 3 Abs. 1 a AVG vermeidet mit den Worten: „Zu den Angestellten im Sinne des Absatzes 1 gehören nicht” jede Sprach- und Verständnisnähe zu den Worten Versicherungspflicht, – freiheit und – befreiung. Das Gesetz spricht nicht etwa davon, daß die Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft „versicherungsfrei” seien, wie dies denkbar gewesen wäre. Der herkömmliche Begriff wurde ersichtlich bewußt vermieden. Die Stellung im Gesetz als Absatz 1 a des § 3 AVG unterstreicht zudem das, was schon aus dem Wortlaut hervorgeht, nämlich daß es sich um eine Ausnahme von Absatz 1 des § 3 AVG handelt, worin eine Aufzählung solcher Personen enthalten ist, die „insbesondere” den Angestellten zuzurechnen sind.
Über den Wortlaut des § 3 Abs. 1 a AVG hinaus sprechen vor allem Sinn und Zweck dieser Norm, wie er sich aus der Entstehungsgeschichte erschließen läßt, dafür, daß die Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft schlechthin außerhalb der Angestelltenversicherung stehen:
Nachdem die CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages einen Gesetzesentwurf eingebracht hatte, nach dem Mitglieder eines zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organs einer juristischen Person, das unter eigener Verantwortung ein Unternehmen zu leiten hat, keine Angestellten sein sollten (BT-Drucks. V/2880), wurden in der 89. Sitzung des 18. Ausschusses für Sozialpolitik (23.1.1969) gegen diesen Gesetzesvorschlag Bedenken laut. Es wurde die Auffassung vertreten, von der vorgeschlagenen Gesetzesänderung würden auch Geschäftsführer einer GmbH erfaßt, diese befänden sich aber in einem wirtschaftlichen und sozialen Status, für den man die „Schutz- und Sicherungsbedürftigkeit des AVG” noch bejahen könne. Der 18. Ausschuß für Sozialpolitik einigte sich schließlich dahin, „daß Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften nicht zu den Angestellten im Sinne des AVG zählen sollen” (Schriftlicher Bericht des 18. Ausschusses für Sozialpolitik – zu BT-Drucks. V 4474 –, Allg. Teil, Abschnitt III 1 b, S. 7). Aus den Verhandlungen im Ausschuß muß entnommen werden, daß dieser typisierend zwischen „großen” Gesellschaften (= Aktiengesellschaften) und „kleineren” juristischen Personen unterschied, deren leitende Angestellte im Gegensatz zu den Mitgliedern des Vorstands einer Aktiengesellschaft bereits als sozial schutzbedürftig angesehen wurden. Aus der Entstehungsgeschichte zu § 3 Abs. 1 a AVG ist daher festzuhalten, daß die Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft deshalb nicht mehr zu den Angestellten im Sinne des Absatzes 1 des § 3 AVG „gehören” sollten, weil wegen ihrer herausragenden und starken wirtschaftlichen Stellung Schutz und Sicherheit durch die Rentenversicherung entbehrlich erschienen (vgl. dazu auch das Urteil des erkennenden Senats vom 18. September 1973 – 12 RK 5/73 –).
Solange jemand Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft ist, steht er nicht nur in dieser Tätigkeit, wie dies das LSG angenommen hat, sondern für seine Person auch in zusätzlichen abhängigen Tätigkeiten außerhalb der Angestelltenversicherung, mögen diese Tätigkeiten auch sonst ganz oder teilweise versicherungspflichtig sein. Wenn schon das Gesetz, wie oben dargelegt, aus wirtschaftlichen Erwägungen die Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft nicht in die Angestelltenversicherung einbezogen hat, muß dies erst recht gelten, wenn – wie hier – zusätzlich zu dem Entgelt als Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft weitere Arbeitsentgelte aufgrund von weiteren Beschäftigungsverhältnissen treten, also die wirtschaftliche Lage des Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft noch verbessert wird.
Dieses Ergebnis wird noch klarer, wenn man sich den tragen den Unterschied zwischen der Stellung eines Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft außerhalb der Angestelltenversicherung und derjenigen einer Person innerhalb der Angestelltenversicherung vor Augen hält. Dies läßt sich am Beispiel eines Beamten verdeutlichen. Der Beamte ist aufgrund seines Beamtenverhältnisses gegen Entgelt beschäftigt und daher an sich wie jeder andere entgeltlich Beschäftigte versicherungspflichtig (BSG 20, 123, 124 = SozR Nr. 4 zu § 169 RVO; Nr. 1 zu § 6 AVG). Da dem Beamten aber als ausreichender sozialer Schutz Anwartschaft auf lebenslängliche Versorgung und Hinterbliebenenversorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen gewährleistet ist, ist die Hereinnahme in die Versicherungspflicht nicht erforderlich. Daher ist ein Beamter aufgrund der beamtenrechtlichen Gewährleistung kraft Gesetzes versicherungsfrei (z.B. §§ 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO, 6 Abs. 1 Nr. 3 AVG). Sobald er außer der Beamtentätigkeit eine weitere Tätigkeit ausübt, ist die weitere Tätigkeit sozialversicherungsrechtlich selbständig und unabhängig von der Versicherungsfreiheit des Beamten zu beurteilen (BSG 20, 123; 31, 66). Dies ist die zwingende Folge, daß der Beamte grundsätzlich zur Sozialversicherung „gehört”, während dies bei einem Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft gerade nicht der Fall ist.
Auf den Fall der Vorstandsmitglieder der Klägerinnen M., W. und R. übertragen bedeutet dies, daß sie als Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft in ihren weiteren Vorstandstätigkeiten bei den Klägerinnen seit dem 1. Januar 1968 nicht versicherungspflichtig waren und sind. Für sie waren und sind aufgrund der Beschäftigungsverhältnisse bei den Klägerinnen keine Beiträge zur Angestelltenversicherung zu entrichten. In der Arbeitslosenversicherung bestand und besteht für sie keine Versicherungs- und Beitragspflicht, da sie jedenfalls die Jahresarbeitsverdienstgrenze in der Krankenversicherung überschritten hatten und haben (§§ 56 Abs. 1 AVAVG, 169 Nr. 1 AFG).
Bei der Sach- und Rechtslage des Falles erübrigt es sich, auf den Kern des bisherigen Streites zwischen den Beteiligten einzugehen, ob wegen der aus § 34 Abs. 1 Satz 2 VAG abgeleiteten rechtlichen Gleichstellung der Mitglieder des Vorstandes eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit mit den Mitgliedern des Vorstands einer Aktiengesellschaft die Vorschrift des § 3 Abs. 1 a AVG auch auf die Mitglieder des Vorstands eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit unmittelbar oder entsprechend anzuwenden sei.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Unterschriften
Dr. Haug, Geyser, Dr. Friederichs
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 20.12.1973 durch Schütz Reg.Hauptsekretär als Urk. Beamter der Gesch.Stelle
Fundstellen