Beteiligte
…Kläger und Revisionsbeklagter |
… Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
G r ü n d e :
I.
Streitig ist, ob die Beklagte einen Kürzungsbescheid im Ermessenswege zurücknehmen kann und wie sie gegebenenfalls das Ermessen auszuüben hat.
Der Kläger nahm vom 21. Oktober 1981 bis 28. April 1983 an einer Umschulung zum Industriekaufmann teil. Hierfür bewilligte ihm die Beklagte Übergangsgeld (Übg) in Höhe des entgangenen regelmäßigen Nettoarbeitsentgelts gemäß § 59 Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in der bis zum 31. Dezember 1981 geltenden Fassung. Der Bescheid war mit dem Zusatz versehen, die Bewilligung erfolge unter dem Vorbehalt der Anpassung der Leistungen an das ab 1. Januar 1982 geltende Recht. Mit Bescheid vom 11. Januar 1982 setzte die Beklagte das Übg ab 1. Januar 1982 auf 75% der bisher gezahlten Leistung gemäß § 59 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG in der ab 1. Januar 1982 geltenden Fassung des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (AFKG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I S 1497) herab.
Im Februar 1984 beantragte der Kläger unter Hinweis auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Oktober 1983 (SozR 4150 Art 1 §1 2 Nr 1) und 7. Dezember 1983 (7 RAr 22/83) die Rücknahme des Kürzungsbescheides. Die Beklagte lehnte dies im Bescheid vom 8. März 1984 mit der Begründung ab, nach § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) iVm § 152 Abs 1 AFG sei die Rücknahme nur für die Zukunft und nicht auch für die Vergangenheit möglich. Den Widerspruch des Klägers, wies die Beklagte mit Bescheid vom 16. Mai 1984 zurück. Nach §§ 44 Abs 1 SGB 10, 152 Abs 1 AFG könne ein Verwaltungsakt nicht für die Vergangenheit zurückgenommen werden; da keine Besonderheiten vorlägen, bestehe auch kein Anlaß, den Verwaltungsakt gemäß § 44 Abs 2 SGB 10 für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Urteil vom 26. Februar 1985 den Bescheid vom 8. März 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über den Rücknahmeantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die zugelassene Berufung der Beklagten mit Urteil vom 21. Februar 1986 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, § 152 Abs 1 AFG schließe zwar die Anwendung des § 44 Abs 1 SGB 10 aus, nicht jedo ch die in § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 geregelte Möglichkeit, über die Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Die Rechtswidrigkeit des Kürzungsbescheides folge aus der Rechtsprechung des BSG, dessen zuständiger 7. Senat in zwei Urteilen vom 20. Oktober und 7. Dezember 1983 die Vorbehalte der Beklagten in den Bewilligungsbescheiden für spätere Kürzungen nicht als ausreichend angesehen habe. Von dem ihr zustehenden Ermessen habe die Beklagte zumindestens keinen nachvollziehbaren Gebrauch gemacht und damit gegen die §§ 20 Abs 2, 35 Abs 1 Satz 3, 39 Abs 1 Satz 2 SGB 10 verstoßen.
Mit der von dem LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 152 Abs 1 AFG und des § 44 SGB 10.
Sie beantragt,die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Recht zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt, in dem sie über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides gemäß § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat.
Die Systematik des § 44 SGB 10 schließt es nicht aus, dessen Abs 2 auf Verwaltungsakte anzuwenden, die wie der Kürzungsbescheid im vorliegenden Fall Sozialleistungen (oder Beitragserhebungen) betreffen. Das zeigt schon der Blick auf die Fälle, die Abs 1 Satz 2 erfaßt, nämlich Verwaltungsakte über Sozialleistungen (Beitragserhebungen), die auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Betroffenen beruhen. Für sie gilt Satz 1 mit seiner Rücknahmeverpflichtung für Vergangenheit und Zukunft nicht. Verstände man Abs 2 so wie die Beklagte, gäbe es für diese Verwaltungsakte keinerlei Rücknahmemöglichkeit, weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft. Daß dies nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand, zumal das SGB 10 frühere Rücknahmegrundsätze nicht einschränken, sondern verallgemeinern wollte (BT-Drucks 8/2034 S 34). Davon abgesehen beseitigt die Gesetzesbegründung jeden Zweifel; nach ihr (aa0) erfaßt Abs 2 vor allem die Fälle, in denen von einem unrichtigen, vom Betroffenen zu vertretenden Sachverhalt ausgegangen worden ist, und daneben auch feststellende Verwaltungsakte. Der mit den Worten "im übrigen" eingeleitete Abs 2 des § 44 SGB 10 muß danach auch auf Verwaltungsakte anwendbar sein können, die Sozialleistungen (und Beitragserhebungen) betreffen. Er gilt für sie dann, wenn besondere Vorschriften - wie zB § 44 Abs 1 Satz 2 SGB 10 - für Gruppen solcher Verwaltungsakte die Anwendung des Abs 1 Satz 1, nicht aber auch die des Abs 2 ausschließen.
Damit weicht der Senat nicht von der Entscheidung des 10. Senats des BSG vom 10. Dezember 1985 (SozR 5870 3 2 Nr 44) ab. Zwar ist dort ausgeführt, § 44 Abs 2 SGB 10 enthalte nur einen Auffangtatbestand für Bescheide, die weder über eine Leistungsberechtigung noch über eine Beitragsverpflichtung befinden. Es handelte sich um einen Fall, in dem der 10. Senat des BSG § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 an sich für anwendbar und nur in seinen Tatbestandsvoraussetzungen nicht für erfüllt hielt. Der 10. Senat wollte daher nicht den Regelungsbereich des § 44 Abs 2 SGB 10 abschließend bestimmen. Dafür spricht auch, daß er sich auf Hauck/Haines, Komm zum SGB 10, § 44, RdNr 23 bezogen hat, die in RdNr 22 in den Fällen des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB 10 wie der erkennende Senat den § 44 Abs 2 SGB 10 für anwendbar halten.
Als eine Sondervorschrift, die zwar die Anwendung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10, nicht aber die des § 44 Abs 2 SGB 10 ausschließt, ist § 152 Abs 1 AFG anzusehen. Nach ihm ist im Arbeitsförderungsrecht der rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakt "abweichend von § 44 Abs 1" SGB 10 mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Schon dem Wortlaut nach ordnet die Vorschrift nur ihr Verhältnis zum Abs 1 des § 44 SGB 10 und nicht zu § 44 SGB 10 insgesamt. Während § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 die Rücknahme für Vergangenheit und Zukunft vorschreibt, beschränkt § 152 Abs 1 AFG die Rücknahmepflicht auf die Zukunft. Damit bleibt vom Text her offen, wie es sich mit der Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 SGB 10 verhält, von dem allerdings nur der Satz 2 von Bedeutung wird, der die Rücknahme für die Vergangenheit dem Ermessen des Leistungsträgers überläßt.
Aus dem Wortlaut des § 152 Abs 1 AFG läßt sich, bei welchen Erwägungen auch immer, darauf keine überzeugende Antwort gewinnen, wohl aber aus der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 8/2034 S 37). Dort heißt es, die von § 42 Abs 1 SGB 10 (jetzt § 44 Abs 1 SGB 10) abweichende Regelung ergebe sich aus den Besonderheiten des Leistungssystems des AFG. Eine Verpflichtung der Arbeitsämter, rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte, die unanfechtbar geworden sind, stets auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, würde die Arbeitsämter mit einem Verwaltungsaufwand belasten, der im Hinblick auf die Kurzfristigkeit der Leistungen nicht zu rechtfertigen sei. So sei zB allein 1976 bei durchschnittlich 780.000 Empfängern von Alg und Alhi über mehr als 3 Millionen Leistungsanträge zu entscheiden gewesen. Dem ist wörtlich angeschlossen: "Die Arbeitsämter haben aber über die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden" § 42 (§ 44) Abs 2 bis 4 SGB 10 bleibe unberührt. Dies zeigt eindeutig, daß die Anwendung des § 44 Abs 2 SGB 10 im Arbeitsförderungsrecht nicht ausgeschlossen werden sollte. Dort sollte von den beiden Rücknahmemodellen des § 44 SGB 10 (Abs 1: Rücknahmepflicht für Zukunft und Vergangenheit; Abs 2: Rücknahmepflicht für Zukunft, Ermessen für Vergangenheit) nur das des Abs 2 gelten, nicht.aber ein - schon in sich fragwürdiges - drittes Modell einer Rücknahmepflicht für die Zukunft und jeglichen Rücknahmeausschlusses für die Vergangenheit.
Zu Unrecht hält die Beklagte den Rückgriff auf die Regierungsbegründung zum Gesetzentwurf für unzulässig, weil im weiteren Gesetzgebungsverfahren nichts davon wiederholt worden sei. Der gegenteilige Schluß ist richtig. Wenn der Entwurf einer Gesetzesvorschrift wie bei § 152 AFG (vgl BT-Drucks 8/4022 S 50 und 70) unverändert Gesetz geworden ist und die übrigen Gesetzgebungsorgane sich nicht abweichend geäußert haben, dann läßt sich daraus schließen, daß der Gesetzgeber sich die Regierungsbegründung zu eigen gemacht hat.
Aus der Regierungsbegründung muß ferner entnommen werden, daß in dem Einräumen eines Rücknahmeermessens für die Vergangenheit kein Widerspruch zum Zweck des § 152 Abs 1 AFG gesehen wurde, die Arbeitsämter nicht mit dem mit einer Rücknahmepflicht verbundenen Verwaltungsaufwand zu belasten. Ein solcher Widerspruch muß in der Tat nicht gegeben sein. Auch wenn sich kein klares Bild über den Verwaltungsaufwand gewinnen läßt, der im einen und im anderen Falle insgesamt auf die Beklagte zukäme, ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Beklagte bei Ermessensentscheidungen eher als bei gebundenen Entscheidungen den Verwaltungsaufwand - zB durch Richtlinien für die Ermessensausübung - zu begrenzen vermag.
Gegen die Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 im Arbeitsförderungsrecht spricht schließlich nicht, daß der Gesetzgeber in dem ebenfalls durch das SGB 10 eingefügten § 20 Abs 5 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) der auch dort "abweichend von § 44 Abs 1" SGB 10 auf die Zukunft beschränkten Rücknahmepflicht in einem weiteren Halbsatz hinzugefügt hat, der Verwaltungsakt könne ganz oder teilweise auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Das könnte zwar den Schluß nahelegen, daß ein Rücknahmeermessen für die Vergangenheit nur im Kindergeldrecht, nicht aber auch im Arbeitsförderungsrecht gewollt sei. Der Gesetzgeber verhält sich in dieser Hinsicht jedoch nicht immer konsequent. Scheinbaren Widersprüchen in der Gesetzesgestaltung kann auch ein einheitlicher Wille des Gesetzgebers zugrunde liegen. Gerade so ist es aber im Verhältnis von § 152 Abs 1 AFG zu § 20 Abs 5 BKGG. Die Begründung zu § 20 Abs 5 BKGG (BT-Drucks 8/2034 S 41) führt nahezu identisch mit der zu § 152 Abs 1 AFG aus, daß nicht begünstigende Verwaltungsakte im Kindergeldrecht überwiegend nur verhältnismäßig kurze Leistungszeiträume beträfen; es sei nicht aus Billigkeitsgründen geboten und würde zu einem unvertretbaren Verwaltungsaufwand führen, alle diese Fälle wieder aufzugreifen; daher sei es sachgerecht, die Rücknahme für die Vergangenheit dem Ermessen der Kindergeldstellen zu überlassen. Dem folgt der Satz, der den einheitlichen Regelungswillen bei beiden Vorschriften außer Zweifel stellt: "Die Regelung ist auch erforderlich, um eine einheitliche Durchführung des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit sicherzustellen" Zur "gesetzlichen Klarstellung" ist im übrigen beabsichtigt, den Wortlaut im AFG an den im BKGG anzugleichen (BT-Drucks 10/6283, S 7).
Der nach alledem anwendbare § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 setzt in Verbindung mit dem vorangehenden Satz 1 voraus, daß der nicht begünstigende Verwaltungsakt, um dessen Rücknahme es geht, rechtswidrig ist. Hierzu kann auf die Umschreibung der Rechtswidrigkeit in § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zurückgegriffen werden. Danach kann die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes darauf beruhen, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist. Im vorliegenden Fall ist der Kürzungsbescheid rechtswidrig, weil die Beklagte bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt hat. Zur Begründung wird auf die Ausführungen im Urteil des erkennenden Senats vom gleichen Tag - 11b RAr 25/86 - hingewiesen; der Senat ist dort den erwähnten Urteilen des 7. Senats des BSG vom 20. Oktober und 7. Dezember 1983 gefolgt.
Die Beklagte mußte daher, weil die Voraussetzungen des hier anwendbaren § 44 Abs 2 Sitz 2 SGB 10 erfüllt waren, über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Sie hat zwar im Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 1984 offenbar eine Ermessensentscheidung treffen wollen, diese jedoch jedenfalls nicht in der vom Gesetz geforderten Weise begründet.
Nach § 35 Abs 1 Satz 3 SGB 10 muß - wenn wie hier kein Fall des § 35 Abs 2 vorliegt - die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Dazu reicht die formelhafte Wendung, daß keine Besonderheiten vorlägen, nicht aus, weil nicht erkennbar wird, nach welchen Maßstäben die Beklagte das Vorliegen von Besonderheiten für eine den Betroffenen günstige Ermessensentscheidung beurteilt (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 19 für die Formel, hinsichtlich besonderer Umstände sei nichts ersichtlich). Bei einer solchen "Leerformel" kann nicht nachgeprüft werden, ob die Beklagte mit der Verneinung von "Besonderheiten" von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der ihr erteilten Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Nach dem Abschluß des Vorverfahrens konnte eine ordnungsgemäße Begründung nicht mehr nachgeholt werden (§ 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB 10); ebensowenig konnten andere wesentliche Ermessensgründe noch nach diesem Zeitpunkt nachgeschoben werden (SozR aa0).
Die nicht ordnungsgemäße Begründung der Ermessensentscheidung macht die angefochtenen Bescheide rechtswidrig. Die Vorinstanzen haben diese daher zu Recht aufgehoben. Sie haben ferner mit Recht die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt.
Die Revision der Beklagten war hiernach zurückzuweisen. Die
Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen