Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Rauchen bei der Arbeit. Explosion einer Zigarette. Betriebsgefahr. Unfallversicherungsschutz beim Rauchen während der Arbeit
Leitsatz (amtlich)
Ein ungezielt gegen irgendeinen Betriebsangehörigen gerichteter gefährlicher Scherz kann eine gesetzlich versicherte Betriebsgefahr sein.
Orientierungssatz
Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes beim Rauchen einer von einem Unbekannten mit einer Zündpatrone präparierten Zigarette, die mit dem Ziel offen abgelegt war, sie auf diese Weise irgendeinem, nicht einem bestimmten, Mitglied der Belegschaft, dem üblichen Benutzerkreis zuzuspielen.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 06.06.1984; Aktenzeichen L 2 U 29/83) |
SG Bremen (Entscheidung vom 05.09.1983; Aktenzeichen S 5 U 23/80) |
Tatbestand
Der Kläger, ein Kraftfahrzeugschlosser in einer Reparaturwerkstatt, erlitt während eines Gesprächs, das er etwa eine halbe Stunde nach Schichtbeginn mit einem Vorarbeiter über eine Reparatur führte, beim Rauchen eine Hornhautverletzung am rechten Auge dadurch, daß die - handgestopfte - Zigarette explodierte. Diese Zigarette, in der sich ein Zündkörper (Zündhütchen) befand, hatte er von einem Arbeitskollegen erhalten. Dieser hatte sie mit einer anderen, ebenso zubereiteten in der Werkskantine gefunden. Die Unfallfolge wird mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH bewertet. Die Beklagte lehnte eine Entschädigung aus der Unfallversicherung ab (Bescheid vom 28. Januar 1980). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 5. September 1983 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 6. Juni 1984). Das LSG hat einen Arbeitsunfall als Unfall "bei" der versicherten Tätigkeit ausgeschlossen. Zwischen dieser und der Unfallverletzung habe kein Ursachenzusammenhang bestanden. Die Gefahr, der der Kläger erlegen sei, sei in persönlichen, privaten Verhältnissen, und zwar in dem dem Genuß dienenden Rauchen während der Arbeit begründet gewesen. Ein besonderer Umstand, der ausnahmsweise den notwendigen "inneren Zusammenhang" mit der versicherten Tätigkeit annehmen lasse, sei nicht gegeben. Das Präparieren einer Zigarette mit einem Sprengsatz sei auch nicht dem Gefahrenbereich des Unternehmens zuzurechnen. Schließlich könne kein Arbeitsunfall wie bei einer Verletzung durch einen Arbeitskollegen oder bei einem arbeitsbezogenen Streit oder bei einem Überfall angenommen werden; denn es sei nicht zu klären, ob die zubereitete Zigarette von einem Arbeitskollegen in den Betrieb eingeführt worden sei, wer der Täter gewesen sei und welches Motiv er gehabt habe.
Der Kläger begründet seine - vom LSG zugelassene - Revision mit einer Verletzung des § 548 Reichsversicherungsordnung (RVO). Es sei schon zweifelhaft, ob man in der modernen Arbeitswelt die betriebliche Tätigkeit, das Gespräch mit dem Vorgesetzten und das Rauchen in zwei selbständige Handlungen zerlegen und dann die letztgenannte Verrichtung dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuordnen könne. Ursache der Augenverletzung sei gerade nicht das Rauchen gewesen, sondern die Explosion einer Zündpatrone, die erfahrungsgemäß nicht zum Rauchen gehöre. Diese Gefahr sei auf einen Schabernack zurückzuführen, und dieser gehöre zu den besonderen Bedingungen des Zusammenlebens vieler Menschen, die in einem Betrieb abhängige Arbeit leisten, und zwar als Folge von Erfolgsdruck, Lohnneid und verschiedenen sozialen Stellungen im Betrieb.
Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG und des SG sowie die Entscheidung der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab Juni 1979 eine Verletztenrente in Höhe von 20 vH der Vollrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
Die Beklagte hat den Kläger wegen der Folgen der durch die Zigarettenexplosion erlittenen Augenverletzung zu entschädigen; denn er hat den Schaden durch einen Arbeitsunfall "bei" einer auf Grund seines Arbeitsverhältnisses zu verrichtenden Tätigkeit erlitten (§§ 547, 548 Abs 1 Satz 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO). Die Explosion hing örtlich und zeitlich mit dem dienstlichen Gespräch mit einem Vorarbeiter zusammen, und außerdem ereignete sie sich deshalb "bei" dieser Arbeit, weil die Unfallursache funktionell mit der Beschäftigung zusammenhing, dh in einer "sachlichen Verbindung" mit ihr stand (BSGE 41, 137, 138f = SozR 2200 § 555 Nr 1; BSG 30. April 1985 - 2 RU 24/85 -).
Wesentliche Bedingungen und damit sozialrechtliche Ursachen der Explosion waren die besondere Beschaffenheit, Herkunft und Zweckbestimmung der selbstgestopften Zigarette sowie ihr Abbrennen beim Rauchen während des Arbeitens. Im gegenwärtigen Fall bestanden zwar keine Verhältnisse, die das Rauchen als solches mit eventuellen schädigenden Folgen nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung zu den unfallversicherungsrechtlich geschützten Verrichtungen der Arbeit rechnen ließen (BSGE 12, 254, 255 f = SozR Nr 27 zu § 543 RVO aF; BSG USK 81313; LSG Nordrhein-Westfalen, SGb 1954, 18; LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1962, 302). Ungeachtet dessen ist aber die andere, mindestens gleichwertige Mitursache als eine Betriebsgefahr zu bewerten, die den Kläger durch die präparierte Zigarette "bei" seiner Arbeit in unfallversicherungsrechtlich geschützter Weise traf. Die Zigarette wurde von einem Unbekannten in der Werkskantine, einer Betriebseinrichtung (BAG AP Nr 6 zu § 56 BetrVG Wirtschaftseinrichtungen), mit dem Ziel offen abgelegt, sie auf diese Weise irgendeinem, nicht einem bestimmten, Mitglied der Belegschaft, dem üblichen Benutzerkreis, zuzuspielen. Dies ist nach mutmaßlichen, vom LSG festgestellten, Verhältnissen anzunehmen, von denen mangels weiterer Aufklärungsmöglichkeit auszugehen ist (BSGE 26, 45, 47 = SozR Nr 76 zu § 542 RVO aF). Dann war nach allgemeiner Erfahrung damit zu rechnen, daß irgendein Werksangehöriger die Zigarette mitnehmen und alsbald während der Arbeit rauchen werde. Bei regulärem Geschehensablauf müßte die beim Abbrennen zu erwartende Explosion ein Belegschaftsmitglied in dieser Eigenschaft treffen und wegen der Folgen den Betrieb stören. Genauso trat alles ein. Das Weiterreichen an einen anderen Arbeitnehmer als den Finder, was den Gepflogenheiten im Rahmen betrieblicher Kollegialität entsprach, änderte an dieser Einwirkung in das Betriebsgeschehen nichts; Opfer blieb ein Mitglied der Belegschaft. Der Versicherte wurde in gleicher Weise im Zusammenhang mit seiner Arbeit getroffen, wie wenn ein Arbeitnehmer während seiner aufgetragenen Tätigkeit durch eine Gefahr verletzt wird, die aus den Betriebsanlagen oder von Kollegen oder von Dritten stammt, wenn in den beiden letztgenannten Fällen ein Angriff nicht irgendeinen persönlichen Grund hat (stRspr, auch für Wege von der und zur Arbeitsstätte: BSGE 6, 164, 168; 10, 56, 60; 13, 290, 291 = SozR Nr 34 zu § 542 RVO aF; BSGE 17, 75, 77 f = SozR Nr 37 zu § 543 RVO aF; BSGE 18, 106, 108 ff = SozR Nr 39 zu § 543 RVO aF; BSG USK 78153; BSG SozR 2200 § 550 Nr 48; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, Band I, 3. Aufl 1984, § 548, Rz 59). Den Kläger traf die Explosion der Zigarette ahnungslos gerade als Mitglied der Belegschaft des Betriebes, in den dieser Vorgang eingreifen sollte. Für solche betriebsbezogenen Gefahren tritt die Unfallversicherung als weitreichende Ablösung einer Unternehmerhaftung ein, die Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmer und Unternehmer vermeiden soll (BVerfGE 45, 376, 385 = SozR 2200 § 539 Nr 35; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band II, S 469, 469b).
Der notwendige Funktionszusammenhang zwischen der Beschäftigung und der Gefahr, die von der gestopften Zigarette ausging, wurde nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Abbrennen der Zigarette zum Rauchen gehörte, das grundsätzlich nicht zu den unfallversicherungsrechtlich geschützten Verrichtungen rechnet. Denn das Rauchen war hier eine noch weitgehend übliche Begleiterscheinung einer versicherten Tätigkeit, nämlich einer Arbeitsbesprechung.
Mithin mußte der Revision des Klägers stattgegeben werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen