Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch. Erfüllung der Anwartschaftszeit. Versicherungspflichtverhältnis wegen Erziehung von Kindern. Berücksichtigung von österreichischen Zeiten der Versicherungspflicht vor Eintritt der Kindererziehung. Zusammenrechnung
Leitsatz (amtlich)
Die für die Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung als Anwartschaftszeit erforderliche Vorversicherungszeit kann auch durch österreichische Versicherungszeiten begründet werden.
Normenkette
SGB III § 26 Abs. 2a S. 1 Nr. 1 Fassung: 2001-12-10, § 24 Abs. 1, § 142 Abs. 1; EGV 883/2004 Art. 5 Buchst. b, Art. 6, 61 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 2018 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13. Januar 2015 zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten im Berufungs- und Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Alg ab dem 1.4.2013. Im Streit ist, ob sie unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten und österreichischen Versicherungszeiten die Anwartschaftszeit erfüllt hat.
Die 1976 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie lebte seit 2006 in Österreich und war dort vom 20.11.2006 bis 23.12.2009 unselbstständig beschäftigt. Vom 24.12.2009 bis 23.4.2010 erhielt sie österreichisches Wochengeld/Mutterschaftsgeld wegen der Geburt ihres Sohnes am 26.2.2010 und befand sich im Anschluss daran in Elternzeit bzw Erziehungszeit. Im Januar 2011 zog sie mit ihrer Familie zurück nach Deutschland, wo sie im Oktober 2013 ein zweites Kind zur Welt brachte.
Am 14.6.2012 meldete sich die Klägerin erstmals arbeitslos und beantragte Alg unter Vorlage einer "Bescheinigung von Zeiten, die für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind" des österreichischen Trägers der Arbeitsförderung (Bescheinigung E 301 vom 20.6.2012). Darin sind Versicherungszeiten vom 20.11.2006 bis 23.12.2009 und vom 27.2.2012 bis 7.3.2012 sowie gleichgestellte Zeiten vom 24.12.2009 bis 23.4.2010 (als Grund der Gleichstellung ist "Wochengeld" angegeben) vermerkt. Die Beklagte lehnte diesen Antrag unter Hinweis auf Art 61 VO (EG) 883/2004 mit der Begründung ab, die bescheinigten Zeiten könnten nicht zur Erfüllung der Anwartschaftszeit herangezogen werden, weil die Klägerin unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht versicherungspflichtig in Deutschland bzw als echter oder unechter Grenzgänger beschäftigt gewesen sei (bindender Bescheid vom 13.7.2012).
Vom 1.10.2012 bis 31.3.2013 war die Klägerin in Deutschland befristet versicherungspflichtig beschäftigt. Am 27.3.2013 meldete sie sich zum 1.4.2013 erneut arbeitslos und beantragte Alg. Auch diesen Antrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Anwartschaftszeit für das Entstehen eines Anspruchs auf Alg sei nicht erfüllt (Bescheid vom 17.4.2013; Widerspruchsbescheid vom 24.7.2013). In der Rahmenfrist vom 1.4.2011 bis 31.3.2013 seien nur die Tätigkeit vom 1.10.2012 bis 31.3.2013 sowie eine Beschäftigung in Österreich vom 27.2.2012 bis 7.3.2012 als versicherungspflichtige Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen. Die Elternzeit könne nicht als Versicherungszeit anerkannt werden, weil die Klägerin unmittelbar davor keine versicherungspflichtigen Zeiten nach deutschem Recht zurückgelegt habe.
Das SG hat die Beklagte verurteilt, Alg ab 1.4.2013 dem Grunde nach zu gewähren (Urteil vom 13.1.2015). Die Klägerin sei unmittelbar vor der Geltendmachung ihres Anspruchs auf Alg in Deutschland vom 1.10.2012 bis 31.3.2013 insgesamt 182 Tage versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Die davorliegende Zeit der Kindererziehung vom 8.3.2012 bis 30.9.2012 habe sich direkt an eine Versicherungspflicht in Österreich vom 27.2.2012 bis 7.3.2012 angeschlossen und gelte daher im Inland nach § 26 Abs 2a SGB III als versicherungspflichtig, sodass die Anwartschaftszeit von einem Jahr erfüllt sei.
Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 15.5.2018). Die Klägerin habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Deutsche Pflichtversicherungszeiten seien lediglich für sechs Monate für die Zeit der Beschäftigung vom 1.10.2012 bis 31.3.2013 zu berücksichtigen. Eine Versicherungspflicht durch Zeiten der Kindererziehung bestehe nicht, weil keine Versicherungspflicht in der deutschen Arbeitslosenversicherung unmittelbar vor der Kindererziehung bestanden habe. Eine Gleichstellung oder Berücksichtigung der österreichischen Versicherungspflicht vor Eintritt der Kindererziehung sei weder nach Art 5 oder 6 VO (EG) 883/2004 noch nach primärem Europarecht geboten. Insbesondere sei nach Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004 die Zusammenrechnung von Zeiten nur dann vorgeschrieben, wenn unmittelbar vor dem Arbeitsloswerden Versicherungszeiten im Inland zurückgelegt worden seien. Ausländische Versicherungszeiten hätten im Rahmen der Leistungen bei Arbeitslosigkeit einen geringeren Stellenwert als in anderen Bereichen der sozialen Sicherheit. Die unterschiedliche Behandlung der österreichischen versicherten Beschäftigung und einer entsprechenden deutschen sei gerechtfertigt, da es hier um ein "Benefizium der deutschen Arbeitslosenversicherung" gehe. Dafür eine gewisse Versicherungstreue in Form einer Vorversicherung zu fordern, verkörpere keine unverhältnismäßige Maßnahme.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin eine rechtsfehlerhafte Anwendung von § 26 Abs 2a SGB III in Verbindung mit europarechtlichen Vorschriften geltend. Ihre österreichische Versicherungszeit sei unter den gleichen Voraussetzungen anspruchsbegründend heranzuziehen, wie eine inländische Versicherungszeit gleicher Dauer und zeitlicher Lage. Aus § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 1 SGB III folge nicht, dass Kindererziehungszeiten nur dann als Beitragszeiten in der Arbeitslosenversicherung anzuerkennen seien, wenn unmittelbar zuvor Versicherungspflicht in der deutschen Arbeitslosenversicherung bestanden habe. Die Versicherungspflicht für Erziehende solle Nachteile im Arbeitslosenversicherungsschutz wegen einer Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung ausschließen. Es dürfe keine Rolle spielen, ob die versicherungspflichtige Tätigkeit zuvor im europäischen Ausland durchgeführt und ein Teil der Erziehungszeit im Ausland absolviert worden sei. Die Nichtberücksichtigung der österreichischen Versicherungs- und Leistungszeiten würde im Übrigen gegen das Diskriminierungsverbot der europäischen Verträge verstoßen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 2018 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13. Januar 2015 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das Urteil des LSG vom 15.5.2018 ist aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 13.1.2015 zurückzuweisen. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, Alg ab dem 1.4.2013 dem Grunde nach zu gewähren.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den Entscheidungen der Vorinstanzen der die Zahlung von Alg ablehnende Bescheid vom 17.4.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.7.2013, den die Klägerin zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, 4 SGG) angreift. Sie begehrt zulässigerweise dem Grunde nach (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG) die Zahlung der Geldleistung Alg für die Zeit ab dem 1.4.2013.
Nach § 137 SGB III (anwendbar ist hier das SGB III in der seit dem 1.4.2012 geltenden Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 - BGBl I 2854) setzt der Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit voraus, dass Arbeitnehmer (1.) arbeitslos sind, (2.) sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und (3.) die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Die Klägerin hat sich zum 1.4.2013 arbeitslos gemeldet und ist nach dem Gesamtzusammenhang der tatsächlichen Feststellungen des LSG arbeitslos gewesen.
Entgegen der Auffassung des LSG erfüllt sie auch die Anwartschaftszeit für einen Anspruch auf Alg. Die Anwartschaftszeit hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg (§ 143 Abs 1 SGB III). Hier verläuft die Rahmenfrist - ausgehend von der Arbeitslosmeldung zum 1.4.2013 - vom 1.4.2011 bis 31.3.2013. Innerhalb dieser Frist stand die Klägerin vom 1.10.2012 bis 31.3.2013, also 182 Kalendertage, in einem nach § 25 Abs 1 Satz 1 SGB III versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.
Als weitere Zeit eines Versicherungspflichtverhältnisses ist unter Berücksichtigung der Vorschriften der VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Zeit vom 27.2.2012 bis 7.3.2012 (zehn Tage) zu berücksichtigen, die der Träger der österreichischen Arbeitslosenversicherung als eine einer Beschäftigung entsprechenden Versicherungszeit bescheinigt hat (Bescheinigung E 301 vom 20.6.2012).
Die Einbeziehung von in anderen Staaten der EU zurückgelegten Zeiten richtet sich bei Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004. Danach berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung, das Wiederaufleben oder die Dauer des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit abhängig ist, soweit erforderlich, die Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als ob sie nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären. Nach Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004 gilt das - außer für "Grenzgänger" iS von Art 65 Abs 5 Buchst a Satz 1 VO (EG) 883/2004, zu denen die Klägerin nicht zählt - nur, wenn "unmittelbar zuvor" nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, ua eine Versicherungszeit zurückgelegt worden ist.
Die von der Klägerin in Anspruch genommene Beklagte ist sowohl nach dem Ort der letzten Beschäftigung der Klägerin als auch nach deren Wohnland - beides ist Deutschland - zuständiger Träger. Andere Anknüpfungspunkte für die Zuständigkeit bestehen nicht (vgl Art 11 Abs 3 VO ≪EG≫ 883/2004; allgemein zu den Zuständigkeiten bei Vollarbeitslosigkeit Vießmann, ZESAR 2015, 149 ff und 199 ff). Die allgemeinen Voraussetzungen nach Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 für die Berücksichtigung von Zeiten eines anderen Mitgliedstaats - hier Österreich - liegen ebenfalls vor. Denn im Streit ist ein Anspruch auf Alg ab dem 1.4.2013 nach den deutschen Rechtsvorschriften des SGB III, der von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängt. Die Klägerin war auch, wie es Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004 verlangt, unmittelbar vor der Zeit, für die sie den Anspruch geltend macht, nämlich vom 1.10.2012 bis zum 31.3.2013, nach deutschem Recht versicherungspflichtig beschäftigt.
Dass die Klägerin in Österreich nach Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 von der Beklagten zu berücksichtigende Zeiten zurückgelegt hat, ergibt sich aus der Bescheinigung E 301 des Trägers der österreichischen Arbeitslosenversicherung. Diese entfaltet Bindungswirkung und kann nur im Wege des in der VO (EG) 883/2004 und der VO (EG) 987/2009 vorgesehenen Verfahrens korrigiert werden. Insofern bestimmt Art 5 Abs 1 VO (EG) 987/2009, dass die vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellten Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden (vgl zu den Einzelheiten zuletzt BSG vom 23.10.2018 - B 11 AL 20/17 R -, SozR 4-6065 Art 61 Nr 1 RdNr 26 mwN). Vorliegend ist die Bescheinigung E 301 - auch bezogen auf die bescheinigte Zeit vom 27.2.2012 bis 7.3.2012 - nicht in Frage gestellt worden. Es bestehen zudem - ohne dass dies entscheidungserheblich wäre - keine Anhaltspunkte für eine unrichtige Bewertung. Zwar hat sich die Klägerin im Jahr 2012 bereits wieder in Deutschland aufgehalten. Doch dürfte sie nach dem arbeitsrechtlichen Ende ihrer Beschäftigung in Österreich eine Urlaubsabfindung bzw Urlaubentschädigung erhalten haben, die nach österreichischem Recht als Versicherungszeit in der Arbeitslosenversicherung gilt, deshalb als solche bescheinigt wurde und von der Beklagten als Zeiten einer Pflichtversicherung gemäß § 24 Abs 1 SGB III behandelt wird (vgl GA der Bundesagentur, IntRecht Alv: Arbeitslosengeld nach Auslandsbeschäftigung bzw nach ausländischem Wohnort, Stand 09/12, Ziff 5.3.2 Abs 1).
Die Einbeziehung der nach den österreichischen Rechtsvorschriften zurückgelegten Versicherungszeit vom 27.2.2012 bis 7.3.2012 ist auch erforderlich iS von Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004, denn ohne diese Zeiten sind ausreichende Versicherungszeiten allein nach den deutschen Rechtsvorschriften des SGB III nicht vorhanden. Zunächst verlängert sich die zu berücksichtigende Anwartschaftszeit dadurch um zehn weitere Tage, was weder die Beklagte noch das LSG in Abrede stellen.
Wegen dieser Versicherungszeit ist darüber hinaus aber auch der sich anschließende Zeitraum vom 8.3.2012 bis 30.9.2012 (weitere 206 Tage), wie vom SG zutreffend erkannt, als Versicherungszeit nach § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III (in der ab dem 1.1.2003 geltenden und danach im Wesentlichen unverändert gebliebenen Fassung des Gesetzes zur Reform arbeitsmarktpolitischer Instrumente ≪Job-AQTIV-Gesetz≫ vom 10.12.2001 - BGBl I 3443) zu berücksichtigen. Damit erfüllt die Klägerin die Anwartschaftszeit von zwölf Monaten.
Nach § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III sind Personen in der Zeit versicherungspflichtig, in der sie ein Kind, das das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erziehen, ua wenn sie 1. unmittelbar vor der Kindererziehung versicherungspflichtig waren und 2. sich mit dem Kind im Inland gewöhnlich aufhalten. Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Klägerin hat nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG im Zeitraum 8.3.2012 bis 30.9.2012 ihren am 26.2.2010 geborenen Sohn erzogen und sich auch in Deutschland gewöhnlich aufgehalten. Sie war außerdem durch die nach den österreichischen Rechtsvorschriften zurückgelegte und nach Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 einzubeziehende Versicherungszeit vom 27.2.2012 bis 7.3.2012 unmittelbar vor dieser am 8.3.2012 einsetzenden Zeit der Kindererziehung versicherungspflichtig.
Entgegen der Auffassung des LSG erfordert die Anwendung von § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III keine Vorversicherungszeiten, die unabhängig von europäischem Sozialrecht bestehen. § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 1 SGB III steht in systematischen Zusammenhang zu § 24 SGB III, der in Abs 1 im allgemeinen definiert, wer in einem Versicherungspflichtverhältnis steht, nämlich Beschäftigte und aus sonstigen Gründen versicherungspflichtige Personen. Weitere Einzelheiten regeln § 25 SGB III (Beschäftigte) und § 26 SGB III (Sonstige Versicherungspflichtige). Aus § 24 Abs 2 bis 4 SGB III, der insbesondere Anfang und Ende des Versicherungspflichtverhältnisses von Beschäftigten bestimmt, ergibt sich, dass sich das Versicherungspflichtverhältnis über bestimmte Zeiträume erstreckt, es sich also um "Zeiten" der Versicherungspflicht handelt. Deshalb sind auch im Rahmen der Anwendung von § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 1 SGB III, also schon nach nationalem Recht, die bescheinigten österreichischen Versicherungspflichtzeiträume als Zeiten der Versicherungspflicht nach deutschen Rechtsvorschriften zu behandeln und deshalb nach der besonderen Vorschrift zur Zusammenrechnung von Zeiten in Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 zu berücksichtigen.
Es muss entgegen der Auffassung des LSG hierzu nicht auf Art 5 Buchst b VO (EG) 883/2004 zurückgegriffen werden. Diese Regelung bestimmt: Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären. Mit Art 5 Buchst b VO (EG) 883/2004 sollen, wie es in Erwägungsgrund 9 zur VO (EG) 883/2004 heißt, von der EuGH-Rechtsprechung entwickelte Grundsätze in das Sekundärrecht überführt werden (ausführlich dazu Eichenhofer, ZESAR 2018, 3 ff; Hauschild in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, K Art 5 VO 883/04 RdNr 5 ff, Stand Mai 2010). Zur weiteren Erläuterung wird in Erwägungsgrund 10 zur VO (EG) 883/2004 ausgeführt, dass dieser Grundsatz der Tatbestandsgleichstellung nicht zu einem Widerspruch mit dem Grundsatz der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten führen soll. Ausdrücklich heißt es dort weiter, dass Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, nur durch die Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung der Zeiten berücksichtigt werden sollen. Insofern kann das Gebot der Zusammenrechnung von Zeiten nach Art 6 VO (EG) 883/2004 im Allgemeinen bzw nach Art 61 Abs 1 für Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Besonderen (zum Verhältnis Art 6 und Art 61 Abs 1 VO ≪EG≫ 883/2004 vgl Wehrhahn in Eicher/Schlegel, SGB III nF, EGVO 883/2004 Art 61 RdNr 4, Stand August 2017; Kador in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, Art 61 VO ≪EG≫ 883/2004, RdNr 14 f) als eine Spezialform der Tatbestandsgleichstellung angesehen werden (so Dern in Schreiber/Wunder/Dern, VO ≪EG≫ 883/2004, 1. Aufl 2012, Art 6 RdNr 8; vgl auch Schulte, ZESAR 2010, 202, 207). Auf zeitgebundene Tatbestandsmerkmale ist das Prinzip der Tatbestandgleichstellung aber nicht anwendbar (Eichenhofer, ZESAR 2018, 3, 6, mwN zur Rechtsprechung des EuGH).
Es wäre zudem widersprüchlich, dasselbe bescheinigte Versicherungspflichtverhältnis zunächst als "Zeit", also als zeitgebundenes Tatbestandsmerkmal, zu beurteilen und bei der Erfüllung der Anwartschaftszeit iS von § 142 SGB III zu berücksichtigen, es aber in anderem Zusammenhang als "Sachverhalt oder Ereignis" iS von Art 5 Buchst b VO (EG) 883/2004 zu werten, mit der Folge, dass es für die Anwendung von § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 1 SGB III nur unter weiteren Voraussetzungen (vgl Vießmann, ZESAR 2018, 449, 455 ff) von Bedeutung wäre. Soweit der EuGH in seiner früheren Rechtsprechung noch eine besondere Regelung für erforderlich gehalten hat, um über solche "auslösenden Versicherungszeiten" (so Dern in Schreiber/Wunder/Dern, VO ≪EG≫ 883/2004, 1. Aufl 2012, Art 6 RdNr 8) eine Zusammenrechnung bzw Berücksichtigung von nationalen Zeiten vornehmen zu können, dürfte dies überholt sein. In Anbetracht der durch die VO (EG) 883/2004 geschaffenen neuen Art 5 und 6 dürfte auch europarechtlich eine vorangehende bzw nachfolgende Versicherung in einem anderen Mitgliedstaat dieselben Wirkungen haben wie eine entsprechende Versicherung in dem zuständigen Mitgliedstaat, wenn der angegangene Mitgliedstaat - wie hier Deutschland - tatsächlich unzweifelhaft zuständig ist (vgl Spiegel in Spiegel, Kommentar zum Zwischenstaatlichen Sozialversicherungsrecht, Band 1 Art 1 VO 883/2004 RdNr 56, Stand 2017; Schulte, ZESAR 2010, 202, 207; im Ergebnis auch Dern in Schreiber/Wunder/Dern, VO ≪EG≫ 883/2004, 1. Aufl 2012, Art 6 RdNr 8).
Nichts anderes folgt entgegen der Auffassung des LSG aus Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004. Wie bereits dargelegt, verlangt Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004 für die Anwendung des in Abs 1 geregelten Grundsatzes der Berücksichtigung von ausländischen Zeiten durch den zuständigen Träger, dass "unmittelbar zuvor" nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, bestimmte Zeiten zurückgelegt wurden. Diese - systematisch eher unpassend verortete (so Labrenz in Eicher/Schlegel, SGB III nF, EGVO 883/2004, Vor Art 61 ff RdNr 92, Stand April 2017) - Vorschrift bezweckt allein in Ergänzung der allgemeinen Kollisionsnorm in Art 11 VO (EG) 883/2004 als besondere Anknüpfungsregel die Bestimmung des zuständigen Staates, wenn ausländische Zeiten durch Zusammenrechnung berücksichtigt werden sollen (vgl Wehrhahn in Eicher/Schlegel, SGB III nF, EGVO 883/2004 Art 61 RdNr 9 f, 43, Stand August 2017 und 2018; Kador in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, Art 61 VO ≪EG≫ 883/2004, RdNr 15, 26; Otting in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, K Art 61 VO 883/04 RdNr 10, Stand Juli 2015; S. Weber in Schlachter/Heinig, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, 1. Aufl 2016, § 29 RdNr 30 f; zweifelnd nur Vießmann, ZESAR 2015, 149, 153, der aber auch eine indizielle Wirkung der Norm erkennt). Durch die Anknüpfung an eine Vorbeschäftigung in dem Staat, in dem Leistungen beantragt werden, sollen Wanderungsbewegungen allein wegen höherer Leistungen vermieden werden (vgl Kador in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, Art 61 VO ≪EG≫ 883/2004, RdNr 15). Eine darüber hinausgehende Bedeutung kommt Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004, dessen Voraussetzungen durch die Beschäftigung der Klägerin in Deutschland unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit, wie oben dargelegt, unzweifelhaft erfüllt sind, nicht zu.
Die Berücksichtigung von Versicherungszeiten im EU-Ausland als Vorversicherungszeit im Rahmen der Anwendung von § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III entspricht schließlich auch dem Sinn und Zweck des § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III. Mit der Einbeziehung von Zeiten der Erziehung eines Kindes unter drei Jahren in die Versicherungspflicht durch das Job-AQTIV-Gesetz beabsichtigte der Gesetzgeber, den Arbeitslosenversicherungsschutz für Personengruppen zu verbessern, wenn die Betroffenen unmittelbar vor Beginn des Versicherungstatbestandes zum Kreis der Arbeitnehmer gehörten (vgl die Begründung zum Job-AQTIV-Gesetz, BT-Drucks 14/6944 S 30). Ausdrücklich sollte zudem die Unterstützung der Berufsrückkehr von Frauen aus Zeiten der Kindererziehung durch die Einbeziehung von Erziehungszeiten verbessert und schrittweise so gestaltet werden, dass diese der Lebenswirklichkeit von Frauen und Familien stärker gerecht wird (BT-Drucks 14/6944 S 26). Dieser Unterstützung bedürfen Arbeitnehmerinnen und Berufsrückkehrerinnen unabhängig davon, ob sie ihre letzte Beschäftigung in Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat der EU ausgeübt haben. Hier zu differenzieren wäre im Übrigen kaum mit dem Diskriminierungsschutz und der Arbeitnehmerfreizügigkeit - beides wesentliche Grundsätze des EU-Rechts - zu vereinbaren.
Die Klägerin hat danach innerhalb der Rahmenfrist jedenfalls mehr als ein Jahr in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden und damit die Anwartschaftszeit erfüllt. Offen bleiben kann daher, ob und auf welcher Grundlage auch Zeiten der Kindererziehung vor dem 27.2.2012 als Pflichtversicherungszeiten anzuerkennen wären. Deren Anerkennung könnte entgegenstehen, dass während der Zeiten der Kindererziehung bis zum Umzug der Klägerin mit ihrer Familie nach Deutschland im Januar 2011 kein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland bestanden hat und deshalb diese Zeiten wegen § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 2 SGB III, der einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland fordert, nicht ohne Weiteres zu berücksichtigen wären; den Erziehungszeiten in Deutschland ab Januar 2011 könnten in diesem Fall die unmittelbar vorhergehenden Versicherungszeiten fehlen (so in einem vergleichbaren Fall Sächsisches LSG vom 5.12.2013 - L 3 AL 36/11 - RdNr 30 ff). Die vom LSG ausführlich erörterte Frage der Tatbestandsgleichstellung nach Art 5 VO (EG) 883/2004 (ausführlich hierzu auch Vießmann, ZESAR 2018, 449, 452 ff, unter Rückgriff auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles mit Ausnahme der Besonderheit der für 2012 bescheinigten Zeit), sowie die sich daran anschließende Problematik der primärrechtlich garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit, wären erst für diese Zeiten der Kindererziehung von Bedeutung (instruktiv - zur gebotenen Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung in der Rentenversicherung - EuGH vom 19.7.2012 - C-522/10 ≪Reichel-Albert≫).
Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg dem Grunde nach ab dem 1.4.2013 liegen indes unabhängig von diesen Fragen vor, weil die Klägerin die Anwartschaftszeit auf jeden Fall erfüllt. Von Belang könnten zusätzliche Zeiten deshalb nur für die Anspruchsdauer (vgl § 147 SGB III) sein, zu der sich die Beteiligten aber weder bis zum Abschluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG noch im Revisionsverfahren geäußert haben. Unter diesen Voraussetzungen darf ein Grundurteil, das hier allein Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, auch unabhängig von einer Prüfung der Anspruchsdauer ergehen (so BSG vom 23.2.2017 - B 11 AL 4/16 R - juris RdNr 15).
Die Beklagte hat auch die Kosten des Revisions- und des Berufungsverfahrens zu tragen (§ 193 SGG).
Fundstellen
NJW 2019, 10 |
NZS 2019, 797 |
SGb 2020, 322 |
Breith. 2019, 959 |
info-also 2019, 213 |
info-also 2020, 188 |
info-also 2020, 43 |