Entscheidungsstichwort (Thema)
Verrechnung eines Beitragsrückstands mit laufender Rentenzahlung. Verwaltungsakt oder Willenserklärung. Erledigung der Verrechnung. Zulässigkeit der Anfechtungsklage. Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage
Leitsatz (redaktionell)
1. Durch den Abschluss der im laufenden Verfahren streitigen Verrechnung erledigt sich der angefochtene Verwaltungsakt (hier: die Verrechnung von Beitragsforderungen einer Berufsgenossenschaft mit monatlichen Rentenzahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung) auf andere Weise i.S.v. § 39 Abs. 2 SGB X. In einem solchen Fall wird die Anfechtungsklage unzulässig, auch wenn die Erledigung erst während des Revisionsverfahrens eintritt (stRspr; vgl. zuletzt BSG v. 25.03.1997, 4 RA 40/95).
2. Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers besteht nicht, wenn eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen ist und ihm die Aufhebung der – von ihm als Verwaltungsakt aufgefassten – Verrechnungsentscheidung keinen rechtlichen Vorteil bringen kann. Dies ist der Fall, wenn seine Leistungsklage rechtskräftig abgewiesen wurde.
Normenkette
SGG § 54 Abs. 1; SGB I § 51 Abs. 2, § 52; SGB X § 39 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. September 2005 aufgehoben, soweit es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21. April 2005 zurückgewiesen hat.
Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Januar 2004 wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Verrechnung von Beitragsforderungen der beigeladenen Berufsgenossenschaft mit monatlichen Rentenzahlungen der Beklagten.
Der Kläger bezieht von der Beklagten seit 1. September 2002 Regelaltersrente (RAR). Nach Anhörung des Klägers erklärte die Beklagte ihm gegenüber mit Bescheid vom 20. Oktober 2003: “Aufgrund des Verrechnungsersuchens der (Beigeladenen) werden wir ab 1. Dezember 2003 monatlich € 83,87 Ihrer Versichertenrente gemäß § 52 SGB I iVm § 51 Abs 2 SGB I mit der Forderung der (Beigeladenen) in Höhe von € 2.590,65 … verrechnen. Ab 1. Dezember 2003 ist an Sie noch ein Rentenbetrag in Höhe von monatlich € 622,22 zu zahlen.” Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 2004 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen.
Der Klageantrag, die Bescheide der Beklagten aufzuheben und Rente in voller Höhe ohne Verrechnung zugunsten der Beigeladenen zu zahlen, ist nur teilweise erfolgreich gewesen. Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat im Urteil vom 21. April 2005 der Anfechtungsklage mit der Begründung stattgegeben, dass die Verrechnung zu Unrecht in der Form eines Verwaltungsaktes erklärt worden sei. Für einen Verwaltungsakt fehle die Rechtsgrundlage. Die Verrechnung sei vielmehr eine verwaltungsrechtliche Willenserklärung in Ausübung eines öffentlich-rechtlichen Gestaltungsrechts. Die Leistungsklage hat das SG hingegen abgewiesen, weil die Verrechnung auf Ermächtigung der Beigeladenen gemäß § 52 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) – abgesehen von der Form – wirksam erklärt worden sei.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung des Klägers mit Urteil vom 14. September 2005 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Anfechtungsklage habe zu Recht Erfolg gehabt, weil die Verrechnungserklärung keinen Verwaltungsakt darstelle und eine entsprechende Verwaltungsaktbefugnis nicht bestehe. Das LSG folge mit dieser Auffassung dem 4. Senat des Bundessozialgerichts (≪BSG≫ Hinweis auf Urteil vom 24. Juli 2003 – B 4 RA 60/02 R). Die Anschlussberufung ist ebenfalls erfolglos geblieben, weil die Unzulässigkeit des Verwaltungsakts die Wirksamkeit der Verrechnungserklärung im Übrigen nicht beseitige.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte inhaltlich eine Verletzung des § 52 SGB I. Dem vom LSG herangezogenen Urteil des 4. Senats des BSG sei nicht zu folgen. Die ständige Übung der Versicherungsträger seit Einführung des SGB I im Jahr 1976, Verrechnungen durch Verwaltungsakt auszuführen, stimme mit der früheren Rechtsprechung anderer Senate des BSG überein.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. September 2005 und das Urteil des SG Düsseldorf vom 21. April 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen eigenen Antrag und schließt sich dem Vortrag der Beklagten an.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Auf Anfrage des Senats hat die Beklagte mitgeteilt, dass die in den angefochtenen Bescheiden behandelte Verrechnung zugunsten der Beigeladenen durch die letzte Teilzahlung im Dezember 2006 abgeschlossen sei; weitere Verrechnungen oder Aufrechnungen ständen nicht an.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten hat insoweit Erfolg, als das Berufungsurteil aufzuheben ist, soweit es ihre Berufung gegen das Urteil des SG betrifft; die Anfechtungsklage ist als unzulässig abzuweisen.
Es fehlt an einer in jedem Verfahrensstadium zu prüfenden Verfahrensvoraussetzung. Die Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) ist unzulässig (geworden). Der Kläger kann nicht mehr geltend machen, er sei durch den angefochtenen Bescheid vom 20. Oktober 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2004 beschwert.
Ihm fehlt es nunmehr an einem Rechtsschutzbedürfnis. Denn durch den Abschluss der im vorliegenden Verfahren streitigen Verrechnung im Dezember 2006 hat sich der angefochtene Verwaltungsakt – jedenfalls – (“auf andere Weise”: § 39 Abs 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch) erledigt. In einem solchen Fall aber wird die Anfechtungsklage unzulässig, auch wenn die Erledigung erst während des Revisionsverfahrens eintritt (BSG vom 21. Oktober 1958, BSGE 8, 178, 180; BSG vom 7. September 1988 – 10 RAr 8/87; BSG vom 22. Juni 1994, SozR 3-2500 § 116 Nr 7 S 45; BSG vom 8. Dezember 1993, BSGE 73, 244, 245 f = SozR 3-1500 § 88 Nr 1; BSG vom 25. März 1997 – 4 RA 40/95).
Ein Anlass, darauf hinzuwirken, dass der Kläger seinen Klageantrag im Sinne einer Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 131 Abs 1 Satz 3 SGG umstelle – was auch dann möglich wäre, wenn der Kläger Revisionsbeklagter ist (BSG vom 22. Juni 1994, SozR 3-2500 § 116 Nr 7 S 45) –, bestand nicht. Beim Kläger liegt kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Sinne dieser Vorschrift vor. Eine Wiederholungsgefahr ist ausgeschlossen. Denn hinsichtlich seiner Rente stehen keine weiteren Auf- bzw Verrechnungsersuchen zur Ausführung an. Dies hat die Beklagte im Schriftsatz vom 6. Februar 2007 mitgeteilt; für Zweifel besteht insoweit kein Anhalt.
Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass die Abweisung seiner Anfechtungsklage als unzulässig den angefochtenen Verwaltungsakt (Verrechnungsbescheid) bestehen lässt und damit (womöglich) auch einem Anspruch auf Auszahlung der zugunsten der Beigeladenen verrechneten Beträge – weiterhin – entgegensteht. Dass der Kläger gegen die Beklagte keinen derartigen Anspruch hat, ergibt sich jedoch bereits daraus, dass das SG seine entsprechende Leistungsklage abgewiesen und das LSG seine hierauf bezogene Berufung rechtskräftig zurückgewiesen hat.
Ein evtl Feststellungsinteresse der Beklagten, die anhand des vorliegenden Rechtsstreites geklärt wissen wollte, ob sie – entsprechend einem Teil der Rechtsprechung des BSG – weiterhin Verrechnungen durch Verwaltungsakt zu erklären hat oder aber der Rechtsansicht des 4. Senats des BSG folgend – insoweit lediglich eine öffentlich-rechtliche Willenserklärung abzugeben habe, kann nicht zur Fortsetzung des Verfahrens führen. Denn nur ein Kläger kann den Fortsetzungsfeststellungsantrag stellen, nicht jedoch die Beklagte oder andere Beteiligte; ebenso wenig wäre ein Feststellungsantrag der Beklagten zulässig, dass der Verwaltungsakt rechtmäßig war (Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 131 RdNr 8c mwN).
Zur Klarstellung weist der Senat die Beteiligten auf Folgendes hin:
Auch dann, wenn der Senat über die Revision der Beklagten bereits zu einem Zeitpunkt zu entscheiden gehabt hätte, in dem die Verrechnung noch nicht abgeschlossen war, hätte der vorliegende Rechtsstreit zu keiner Klärung der Rechtsfrage führen können, ob eine Verrechnung durch öffentlich-rechtliche Willenserklärung (so BSG 4. Senat vom 24. Juli 2003, SozR 4-1200 § 52 Nr 1, RdNr 7 f) oder aber durch Verwaltungsakt (so – zumindest zum Teil in den tragenden Gründen: BSG 8a. Senat vom 16. September 1981, BSGE 52, 98 = SozR 1200 § 51 Nr 11 – dass hier ein Verwaltungsakt vorlag, ergibt sich aus dem nicht abgedruckten Volltext; BSG 10. Senat vom 25. März 1982, BSGE 53, 208, 209 = SozR 1200 § 52 Nr 6; BSG 7. Senat vom 21. Juli 1988, BSGE 64, 17, 22 = SozR 1200 § 54 Nr 13; BSG 11. Senat vom 9. November 1989, BSGE 66, 63 = SozR 1200 § 51 Nr 17; BSG 13. Senat vom 18. Februar 1992, SozR 3-1200 § 52 Nr 3 S 32, 34, 36) zu erklären ist. Welcher dieser Ansichten der Senat auch gefolgt wäre: Er hätte (nach erfolglosem Verfahren nach § 41 Abs 3 SGG) in jedem Fall gemäß § 41 Abs 2 SGG den Großen Senat (GS) des BSG anrufen müssen. Denn es bestehen voneinander abweichende Entscheidungen verschiedener Senate des Gerichts, ohne dass dieser Widerspruch bereits – sei es durch Aufgabe der einen oder der anderen Rechtsprechung, sei es durch Entscheidung des GS – aufgelöst wäre.
Auch vor dem GS des BSG aber hätte die Erledigung des ursprünglichen Verwaltungsakts durch Abschluss der hierin angeordneten Verrechnung zu einer Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung in der Sache geführt. Denn der GS hat eigenständig zu prüfen, ob die ihm vorgelegte Rechtsfrage im Ausgangsverfahren entscheidungserheblich ist; das ist sie nicht mehr, wenn es hierauf wegen anderweitiger Erledigung des angefochtenen Verwaltungsaktes nicht mehr ankommt.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen