Verfahrensgang
LSG Hamburg (Urteil vom 19.03.1964) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 19. März 1964 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin war als Direktionssekretärin bei einem Industrieunternehmen in Essen beschäftigt. Sie schloß im Oktober 1961 mit einem in Hamburg ansässigen kaufmännischen Angestellten die Ehe, lebte aber zunächst weiterhin von ihm getrennt, weil die vorgesehene gemeinsame Wohnung in Hamburg noch nicht fertiggestellt war. Diese sollte am 31. Dezember 1961 zum Einzug bereitstehen. Für diesen Zeitpunkt vereinbarte daher die Klägerin mit ihrem Arbeitgeber die Lösung ihres Beschäftigungsverhältnisses. Der Abschluß der Bauarbeiten verzögerte sich jedoch, so daß die Klägerin ihre Arbeitsstelle nach mehrfachen Verlängerungen auf Wunsch des Arbeitgebers erst am 15. Mai 1962 aufgab. Nachdem sie zu ihrem Mann gezogen war, meldete sie sich im Juni 1962 beim Arbeitsamt Hamburg arbeitslos. Mit Bescheid vom 27. Juni 1962 wurde ihr zwar das beantragte Arbeitslosengeld bewilligt, gleichzeitig aber eine Sperrfrist von 12 Tagen wegen ungerechtfertigter Aufgabe der Arbeitsstelle verhängt. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Das Sozialgericht (SG) hat die Sperrfristverfügung der Beklagten aufgehoben: Die Klägerin habe zwar keinen berechtigten Grund im Sinne des § 78 Abs. 2 Nr. 5 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG), wohl aber einen wichtigen Grund im Sinne des § 80 Abs. 1 AVAVG zur Aufgabe ihrer Arbeitsstelle gehabt. Als solcher müsse im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) jedenfalls bei fristgemäßer Kündigung die Tatsache der Eheschließung in Verbindung mit dem Wunsch, die eheliche Lebensgemeinschaft herzustellen, gelten.
Die zugelassene Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Es hat in den Gründen seines Urteils im wesentlichen ausgeführt: Die Arbeitsaufgabe der Klägerin sei durch einen wichtigen Grund im Sinne des § 80 Abs. 1 AVAVG gerechtfertigt. Dieser Begriff sei nicht nur auf rein arbeitsrechtliche Tatbestände beschränkt, sondern beziehe sich auf die Sphäre privater Lebensgestaltung, die einen wesentlichen Einfluß auf die Willensbildung des Arbeitnehmers hinsichtlich der Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses ausüben könne. In diesen Bereich falle die Entscheidung des Arbeitnehmers, ob er ein Arbeitsverhältnis, das mit der Führung der ehelichen Gemeinschaft unvereinbar sei, beenden solle. Aufgrund der langen Trennung von ihrem Ehemann sei die Klägerin zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft und zur eigenverantwortlichen Führung des Haushalts verpflichtet gewesen. Es habe ihr daher nicht zugemutet werden können, mit ihrer Übersiedlung nach Hamburg bis zur Vermittlung einer Arbeitsstelle an diesem Ort zu warten. Zudem habe sie sich rechtzeitig, aber erfolglos beim Arbeitsamt Essen um eine derartige Arbeitsstelle bemüht. Dieses habe ihr indessen erklärt, daß ihre Vermittlung von Essen aus nicht möglich sei und sie sich daher nach der Übersiedlung beim Arbeitsamt Hamburg melden solle.
Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des SG Hamburg vom 27. Mai 1963 die Klage abzuweisen.
Sie rügt Verletzung des § 80 AVAVG. Der Begriff „wichtiger Grund” sei im AVAVG zwar nicht länger definiert. Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA), die der Entstehungsgeschichte des § 80 AVAVG entsprochen habe und nach den einschlägigen Materialien durch die „Große Novelle” zum AVAVG von 1957 weder berührt noch als ergänzungs- oder erweiterungsbedürftig angesehen worden sei, müsse darunter allgemein der im Arbeitsrecht geläufige Begriff des wichtigen Grundes für eine fristlose Kündigung verstanden worden. Der Zuzug der Klägerin zu ihrem Ehemann stelle jedoch einen solchen wichtigen Grund im Sinne des Arbeitsrechts und damit des § 80 AVAVG für die Aufgabe der Arbeitsstelle nicht dar. Diese Auslegung des Begriffs „wichtiger Grund” sei auch verfassungskonform und verstoße insbesondere nicht gegen Art. 6 des GG. Schließlich sei die Auffassung des LSG, daß der wichtige Grund in § 80 AVAVG zumindest in Fällen vorliegender Art. weiter als im Sinne der früheren Rechtsprechung des RVA auszulegen sei, um deswillen bedenklich, weil mit gleichem Recht auch ein Ehemann seine auswärtige Beschäftigung aufgeben oder eine solche von vornherein ablehnen dürfe, ohne daß gegen ihn eine Sperrfrist verhängt werden könne. Diese Folge würde den zwischenbezirklichen Arbeitskräfteausgleich und die entsprechende Vermittlung weitgehend unmöglich machen. Alsdann könne dem Gebot des § 36 AVAVG ausreichend Rechnung getragen werden. Selbst bei weitester Auslegung des § 80 AVAVG müßten die Interessen des Einzelnen und die der Versichertengemeinschaft gegeneinander abgewogen werden. Diese erfordere, daß der Einzelne im Interesse der Versichertengemeinschaft rechtzeitig alles unternommen habe, um den Versicherungsfall nicht eintreten zu lassen. Diesem Gebot sei die Klägerin offenbar nicht nachgekommen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision ist nicht begründet.
Streitig ist allein die Befugnis der Beklagten, der Klägerin des Arbeitslosengeld für 12 Tage wegen Aufgabe ihrer Arbeitsstelle zu verweigern (Sperrfrist). Nach § 80 Abs. 1 AVAVG ist das Arbeitslosengeld für 24 Tage – mit zulässiger Abkürzung bis auf 12 oder mit Verlängerung bis zu 48 Arbeitstagen gemäß § 81 AVAVG – unter anderem zu versagen, wenn der Arbeitslose seine Arbeitsstelle ohne wichtigen oder ohne berechtigten Grund aufgegeben hat. Was der Gesetzgeber unter einem „berechtigten” Grund verstanden wissen will, ergibt sich aus der Verweisung auf § 78 Abs. 2 AVAVG. Dort sind – wie der erkennende Senat bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung zum einschlägigen Fragenkreis ausgeführt hat (BSG 21, 205 ff) – die „berechtigten Gründe” zur Arbeitsablehnung – hier zur Arbeitsaufgabe – unter den Nummern 1 bis 6 abschließend und erschöpfend geregelt (vgl. Draeger/Buchwitz/Schönefelder, AVAVG Anm. 8 zu § 80 und Anm. 17 zu § 78). Das Berufungsgericht hat in dem angefochtenen Urteil zu Recht ausgeführt, daß der Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen ein „berechtigter” Grund im Sinne des § 80 Abs. 1 i.V.m. § 78 Abs. 2 AVAVG bei ihrer Arbeitsaufgabe in Essen nicht zur Seite gestanden hat. Seine damit zusammenhängenden tatsächlichen Feststellungen sind für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Von den in § 78 Abs. 2 AVAVG aufgeführten „berechtigten Gründen” käme im Falle der Klägerin allenfalls Nr. 5 in Betracht, dessen Voraussetzungen jedoch nicht vorliegen.
Ein „wichtiger Grund” zur Aufgabe der Arbeitsstelle im Sinne des § 80 AVAVG ist nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. BSG 21, 205, 207 = SozR Nr. 3 zu AVAVG § 80; BSG vom 26.8.65 in SozR § 80 Nr. 5 zu AVAVG), die eine ständige Rechtsprechung des RVA fortsetzt, und mit der des Bundesarbeitsgerichts im Arbeitsvertragsrecht übereinstimmt (vgl. BAG in AP Nr. 4, 5, 6, 10 zu § 626 BGB), dann gegeben, wenn Umstände eingetreten sind, die nach verständigem Ermessen dem einen oder anderen Beteiligten des Arbeitsverhältnisses dessen Fortsetzung nicht mehr zumutbar erscheinen lassen, weil sonst das Interesse des Kündigenden in unbilliger Weise geschädigt würde. Ob demnach im Einzelfall ein wichtiger Grund vorliegt, ist Tatfrage, die unter Abwägung nicht allein der angeführten Kündigungsgründe, sondern des gesamten Sachverhalts beurteilt werden muß. Wird dabei eine unbillige Interessenschädigung festgestellt, so ist der Tatbestand des wichtigen Grundes erfüllt. § 80 AVAVG erfaßt, wie bereits in der Entscheidung vom 26. August 1965 (aaO) ausgesprochen wurde, grundsätzlich alle Fälle der Arbeitsaufgabe, also sowohl die fristlose wie auch die fristgemäße. Dies ergibt sich aus seinem Sinn und Zweck, die Versichertengemeinschaft vor unberechtigter Manipulierung des Versicherungsfalles durch Einzelne zu schützen. Dabei sind durchaus Gründe denkbar, die so wichtig sind, daß sie zwar nicht eine fristlose Kündigung, wohl aber die Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter Einhaltung der jeweiligen Kündigungsfrist rechtfertigen, weil seine Fortsetzung auf die Dauer für einen der Beteiligten unzumutbar ist.
Die Tatsache der Eheschließung und der Zuzug zum Ehemann stellen jedoch für sich allein nach den oben zitierten Entscheidungen des erkennenden Senats noch keinen wichtigen Grund zur Aufgabe des Arbeitsverhältnisses dar. Wohl aber können sie im Einzelfall bei Hinzutreten besonderer Umstände einen solchen schaffen.
Derartige besondere Umstände lagen bei der Klägerin vor: Dieser war die Beibehaltung ihrer bisherigen Arbeitsstelle weiterhin nicht mehr zuzumuten, weil sie nach ihrer Eheschließung bereits 7 Monate lang von ihrem Mann getrennt lebte und diesen wegen der erheblichen Entfernung nur jeweils im Abstand von mehreren Wochen gelegentlich über das Wochenende besuchen konnte. Eine derartige, zeitlich und räumlich beträchtliche Trennung widerspricht dem Sinn der ehelichen Lebensgemeinschaft, stellt also eine Interessenschädigung der Klägerin dar. Dies rechtfertigt, bei vernünftiger, wirklichkeitsgerechter Betrachtung, daß die Klägerin nach Bezugsreife der gemeinsamen Wohnung in Hamburg ihr bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder verlängertes Arbeitsverhältnis in Essen beendete, um endlich die eheliche Lebensgemeinschaft mit ihrem Mann herzustellen und die Führung des gemeinsamen Haushalts zu übernehmen.
Zudem hat sich die Klägerin nach den von der Revision nicht gerügten und daher bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) schon rechtzeitig vor Aufgabe ihres Arbeitsplatzes in Essen beim dortigen Arbeitsamt um Vermittlung eines Anschlußarbeitsplatzes in Hamburg bemüht. Mit diesen zeitgerechten und ernsthaften Bemühungen hat sich ihre durch § 66 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG als Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Arbeitslosengeld geforderte „ernstliche Arbeitsbereitschaft” bewiesen. Gleichzeitig hat sie hiermit das für sie Zumutbare getan, um eine durch den Wohnortwechsel bedingte Arbeitslosigkeit zu vermeiden und die Versichertengemeinschaft vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme ihrer Mittel zu bewahren.
Da somit die Klägerin einen wichtigen Grund im Sinne des § 80 Abs. 1 Satz 1 AVAVG zur Aufgabe ihrer Arbeitsstelle in Essen hatte, war die zeitweise Versagung des Arbeitslosengeldes ihr gegenüber unzulässig. Deshalb muß die Revision der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
Unterschriften
Richter, Dr. Krebs, Dr. Kläß
Fundstellen