Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit der Befreiung aufgrund einer privaten Krankenversicherung. keine Befreiung aufgrund einer freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Krankenversicherungsunternehmen
Leitsatz (amtlich)
Ein Rentner oder Rentenantragsteller, der freiwilliges Mitglied bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ist, ist deswegen weder von der Pflichtversicherung in der KVdR nach § 165 Abs 6 Nr 1 RVO ausgenommen noch nach § 173a Abs 1 RVO befreiungsberechtigt (Anschluß an BSG 10.7.1985 5a RKn 24/83 = BSGE 58, 224 = SozR 2600 § 239 Nr 1).
Orientierungssatz
1. Für die Ungleichbehandlung zwischen den befreiungsberechtigten privat Versicherten und den nicht befreiungsberechtigten, in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig Versicherten sprechen sachliche Gründe, die einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG ausschließen. Diese Auffassung wird durch den Beschluß des BVerfG vom 9.2.1977 1 BvL 11/74 = SozR 5420 § 94 Nr 2 bestätigt.
2. Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sind keine "Krankenversicherungsunternehmen" iS des § 173a RVO (vgl Urteile des BSG vom 18.12.1984 12 RK 35/83 = SozR 2200 § 385 Nr 11 und vom 10.7.1985 5a RKn 24/83 = SozR 2600 § 239 Nr 1).
Normenkette
RVO § 165 Abs 6 Nr 1 Fassung: 1977-06-27, § 173a Abs 1 Fassung: 1967-12-21; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
SG Detmold (Entscheidung vom 15.10.1986; Aktenzeichen S 10 Kr 75/84) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) zu befreien ist.
Die 1927 geborene Klägerin war bei der beklagten Ersatzkasse freiwillig versichert. Sie beantragte 1983 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Rente (über den Antrag ist bisher nicht entschieden worden) und bei der Beklagten die Befreiung von der Versicherungspflicht in der KVdR, weil sie freiwilliges Mitglied bleiben wolle. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. November 1983 ab; die Befreiung nach § 173a Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nur zulässig, wenn eine Versicherung bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen bestehe; dagegen sei die Befreiung aufgrund einer freiwilligen Versicherung bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gesetzlich nicht vorgesehen. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 1984).
Die Klägerin hat Klage beim Sozialgericht (SG) Detmold erhoben und zuletzt beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide zu verurteilen, sie von der Versicherungspflicht zu befreien. Zur Begründung hat sie im wesentlichen ausgeführt: Sie werde wegen schwerer Erkrankungen von Ärzten behandelt, die - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht Vertragsärzte der Beklagten seien; die Behandlungskosten würden ihr aber von der Beklagten im Rahmen ihrer Versicherungsbedingungen erstattet. Bei einer Pflichtmitgliedschaft erhalte sie keine Kostenerstattung mehr. Wenn sie nicht weiterhin freiwilliges Mitglied der Beklagten sein dürfe, bleibe ihr nur übrig, ihren Rentenantrag zurückzunehmen, auf die Rente zu verzichten und so der Pflichtmitgliedschaft in der KVdR auszuweichen. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 15. Oktober 1986 abgewiesen. Es hat sich der Auffassung der Beklagten angeschlossen.
Gegen das Urteil richtet sich die Sprungrevision der Klägerin, mit der sie eine Verletzung des § 173a Abs 1 RVO rügt. Diese Vorschrift sei dahin auszulegen, daß auch die freiwillige Mitgliedschaft bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung für eine Befreiung genüge. Es sei kaum verständlich, daß die Mitgliedschaft bei einer privaten Krankenversicherung mehr Rechte verschaffen solle als die (freiwillige) Mitgliedschaft bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch das Bundessozialgericht (BSG) habe mehrfach dargelegt, daß der Rentner wählen könne, ob er der Pflichtversicherung der Rentner angehören wolle oder nicht.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 15. Oktober 1986 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 2. November 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juli 1984 zu verurteilen, sie von der Versicherungspflicht in der KVdR zu befreien.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich für ihre Auffassung, daß eine freiwillige Mitgliedschaft bei ihr die Befreiung nicht erlaube, auf die in SozR 2200 § 385 Nr 11 und BSGE 58, 224 = SozR 2600 § 239 Nr 1 veröffentlichten Urteile des BSG und das Schrifttum. Das Urteil des BSG in BSGE 23, 211 = SozR Nr 7 zu § 381 RVO stamme aus dem Jahre 1965 und sei durch spätere Gesetzesänderung überholt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das SG hat zutreffend entschieden, daß der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist. Die Beklagte durfte die Klägerin nicht von der Pflichtmitgliedschaft befreien.
Nach § 165 Abs 1 Nr 3 RVO idF des Art 1 § 1 Nr 1 Buchst a des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes (KVKG) vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1069) werden unter den dort genannten Voraussetzungen für den Fall der Krankheit ua Personen versichert, welche die Voraussetzungen für den Bezug einer Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten erfüllen und diese Rente beantragt haben. Als Mitglieder gelten nach § 315a Abs 1 Satz 1 idF des Art 1 § 1 Nr 25 KVKG auch Personen, die eine Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten beantragt haben und die in § 165 Abs 1 Nr 3 Buchst a oder b RVO genannten Voraussetzungen, nicht jedoch die Voraussetzungen für den Bezug einer Rente erfüllen. Die Klägerin ist, sofern kein Versicherungsfreiheits- oder Befreiungstatbestand eingreift, entweder nach § 165 Abs 1 Nr 3 RVO Pflichtmitglied in der KVdR oder sie gilt gemäß § 315a Abs 1 Satz 1 RVO als solches. Hiervon gehen die Beteiligten übereinstimmend aus. Die Pflichtmitgliedschaft ist hier bei der beklagten Ersatzkasse durchzuführen (vgl § 257a Abs 1 Satz 1, § 315a Abs 3, § 514 Abs 2 RVO).
Die Klägerin ist von der Pflichtmitgliedschaft in der KVdR nicht gemäß § 165 Abs 6 RVO kraft Gesetzes ausgenommen, weil sie freiwilliges Mitglied der Beklagten ist und es bleiben will. Nach der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung des § 165 Abs 6 Satz 1 RVO war Voraussetzung der Versicherung für die in § 165 Abs 1 Nr 3 RVO damaliger Fassung bezeichneten Personen (Rentner), daß sie nicht nach anderen gesetzlichen Vorschriften "versichert" waren. Zu dieser Regelung war die Streitfrage aufgetreten, ob zu diesen die Pflichtversicherung in der KVdR verdrängenden Versicherungen auch eine freiwillige Versicherung bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (einschließlich der Ersatzkassen) gehöre. Das BSG hatte dieses in seiner Rechtsprechung, auf die sich die Klägerin berufen hat, bejaht (BSGE 14, 181 = SozR Nr 24 zu § 165 RVO; vgl auch BSGE 23, 211, 212 = SozR Nr 7 zu § 381 RVO). Durch Art 1 § 1 Nr 1 Buchst b KVKG hat Abs 6 des § 165 RVO jedoch mit Wirkung vom 1. Juli 1977 eine neue Fassung erhalten. Sie bestimmt in Abs 6 Satz 1 Nr 1, daß derjenige nicht nach § 165 Abs 1 Nr 3 RVO als Rentner versichert wird, der nach bestimmten, in Abs 6 Satz 1 Nr 1 genannten oder nach anderen gesetzlichen Vorschriften "versicherungspflichtig" ist; entsprechendes gilt nach § 315a Abs 3 iVm § 165 Abs 6 RVO für Rentenantragsteller ohne Rentenanspruch. Angesichts dieser eindeutigen und abschließend zu verstehenden Regelung, nach der nur noch eine anderweitige Pflichtversicherung (in der gesetzlichen Krankenversicherung) die KVdR verdrängt, läßt sich die frühere Auffassung vom Vorrang auch einer freiwilligen Versicherung bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung unter der Geltung des neuen Rechts nicht mehr vertreten.
Aufgrund einer derartigen freiwilligen Versicherung kommt auch eine Befreiung nach § 173a Abs 1 RVO, der für die Rentenantragsteller ohne Rentenanspruch nach § 315a Abs 1 S 2 entsprechend gilt, nicht in Betracht. Davon sind der erkennende 12. Senat und später der 5. Senat des BSG schon bisher ausgegangen (SozR 2200 § 385 Nr 11; BSGE 58, 224 = SozR 2600 § 239 Nr 1). Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sind keine "Krankenversicherungsunternehmen" im Sinne dieser Vorschrift. Das wird durch deren Entstehungsgeschichte bestätigt. Die Befreiungsmöglichkeit ist mit Wirkung vom 1. Januar 1968 durch Art 1 § 1 Nr 3 des Finanzänderungsgesetzes 1967 vom 21. Dezember 1967 (BGBl I S 1259) eingefügt worden. Im Zusammenhang damit, daß damals für die Pflichtversicherung in der KVdR das Erfordernis der Vorversicherungszeit abgeschafft und damit alle Rentner und Rentenantragsteller in die KVdR einbezogen wurden, erschien es als notwendig, den Rentnern, "die ihren Versicherungsschutz bei privaten Krankenversicherungsunternehmen sicherstellen wollen", ein Recht auf Befreiung einzuräumen, wenn sie nicht zu dem Kreis der schon nach geltendem Recht versicherungspflichtigen Rentner gehörten (vgl den Bericht des Haushaltsausschusses des Bundestages, z u BT-Drucks V/2341, S 3/4, zu Art 1 § 1 Nummer 03). Die Befreiungsregelung diente hiernach in erster Linie der Rücksichtnahme auf die bisher privat krankenversicherten Rentner und Rentenantragsteller, denen in ihrem meist vorgerückten Alter ein Wechsel von der privaten in die grundlegend anders strukturierte gesetzliche Krankenversicherung nicht mehr zugemutet werden sollte. Zwischen der Pflichtversicherung und der freiwilligen Versicherung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen zwar ebenfalls gewisse Unterschiede, die jedoch nicht so erheblich sind wie die zwischen der privaten und der gesetzlichen Krankenversicherung. Daß im Einzelfall ein freiwilliges Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung wegen der Kostenerstattung im Krankheitsfall ein ebenso starkes Interesse am Erhalt der freiwilligen Mitgliedschaft haben kann wie ein privat Krankenversicherter daran, daß seine private Krankenversicherung bestehen bleibt, durfte der Gesetzgeber im Rahmen einer typisierenden Regelung vernachlässigen, zumal eine ausreichende Krankenpflege auch für Versicherungspflichtige gewährleistet ist. Für die Entscheidung, eine Befreiung nur aufgrund einer privaten Versicherung vorzusehen, könnte auch eine gewisse Rücksichtnahme auf die private Versicherungswirtschaft eine Rolle gespielt haben, die vor einem Verlust zahlreicher Mitglieder bewahrt werden sollte. Eines solchen Schutzes bedurften die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung hinsichtlich ihrer freiwillig versicherten Mitglieder (Rentner oder Rentenantragsteller) nicht. Denn wenn diesen die Befreiung von der Pflichtmitgliedschaft in der KVdR versagt blieb, drohte den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung kein Mitgliederverlust, weil sie ihre bisherigen freiwilligen Mitglieder nunmehr als Pflichtmitglieder behielten.
Diese Ausführungen zeigen auch bereits, daß für die Ungleichbehandlung zwischen den befreiungsberechtigten privat Versicherten und den nicht befreiungsberechtigten, in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig Versicherten sachliche Gründe sprechen, die einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) ausschließen. Diese Auffassung wird durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 44, 70, 90 ff = SozR 5420 § 94 Nr 2) bestätigt. Danach wurde Art 3 Abs 1 GG nicht dadurch verletzt, daß der Gesetzgeber bei Einführung der Krankenversicherung der Landwirte im Jahre 1972 solche Landwirte, die freiwillig bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung versichert waren, ohne Befreiungsmöglichkeit in die Pflichtversicherung der Landwirte einbezog, während er privat bei einem Krankenversicherungsunternehmen Versicherten eine Befreiungsmöglichkeit eröffnet hatte. Dieselbe Differenzierung findet sich im übrigen heute in einer Reihe weiterer, später eingeführter Vorschriften (§§ 173b bis 173f RVO).
Im Rahmen der Rechtsanwendung kann der Senat nicht darüber befinden, ob es sozialpolitisch befriedigender wäre, wenn gesetzlich eine Befreiung von der Pflichtmitgliedschaft in der KVdR auch aufgrund einer freiwilligen Versicherung bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehen würde. Dies hat der Senat, allerdings aus anderen Gründen, schon am Ende seines zur Veröffentlichung bestimmten Urteils vom 17. Oktober 1986 - 12 RK 15/86 - für erwägenswert gehalten.
Die Revision der Klägerin erwies sich hiernach als unbegründet und war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen