Beteiligte
Präsident des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. März 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Beklagte hatte bei der Klägerin 1989 eine Behinderung mit einem Grad (GdB) von 80 festgestellt. Dem lagen Einzelgrade von 80 für ein psychisches Leiden und von 10 wegen einer Gefügestörung der Halswirbelsäule zugrunde. 1994 setzte der Beklagte den GdB auf 50 herab (Bescheid vom 3. Februar 1994; Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 1994). Dabei ging die Verwaltung für das psychische Leiden von einem Einzel-GdB von 40 aus.
Im sozialgerichtlichen Verfahren hat der Beklagte – im Anschluß an ein Sachverständigengutachten, wonach der Einzelgrad für das psychische Leiden noch 60 beträgt – die Herabsetzung des GdB mit einem von der Klägerin angenommenen (Teil-)Anerkenntnis auf 70 begrenzt. Die weitergehende Anfechtungsklage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben (Urteil vom 24. Februar 1997 und Beschluß des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 4. März 1998).
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision macht die Klägerin ua geltend, schon bevor sie ihre Berufung begründet und Beweisanträge gestellt habe, sei ihr mitgeteilt worden, daß das LSG erwäge, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß zu entscheiden. Damit habe das LSG sie entgegen § 153 Abs 4 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu der beabsichtigten Verfahrensweise nicht ordnungsgemäß angehört.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. März 1998 und das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 24. Februar 1997 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 3. Februar 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 1994 insoweit zu ändern, als der Beklagte den GdB von 80 auf 70 herabgesetzt hat.
Der Beklagte beantragt,
den Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. März 1998 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin hat in dem Sinne Erfolg, daß der angefochtene Beschluß aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Der geltend gemachte Verfahrensfehler liegt vor, und die Entscheidung des LSG kann darauf beruhen. Das LSG hat die Beteiligten mit Schreiben vom 23. September 1997 zwar zu dem vorgesehenen Verfahren, die Berufung durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, angehört. Die Anhörung hätte jedoch wiederholt werden müssen, nachdem die Klägerin ihre Berufung erst nach Eingang der Anhörungsschreiben, nämlich mit Schriftsatz vom 29. September 1997, begründet, sich gegen das vom LSG angekündigte Verfahren gewendet und beantragt hatte, Beweis zu erheben.
Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Es bedarf jedoch, anders als im Falle einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG), nicht des Einverständnisses der Beteiligten.
§ 153 Abs 4 SGG entspricht der Regelung des § 130a iVm § 125 Abs 2 Satz 3 bis 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Sie soll sicherstellen, daß bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug rechtliches Gehör gewährt wird (vgl BVerwG, Buchholz 312 Entlastungsgesetz Nr 32), und zwischen dem Gericht und den Beteiligten eine Kommunikation über die beabsichtigte Verfahrensweise zu einem Zeitpunkt in Gang setzen, in dem die Beteiligten einerseits noch rechtzeitig Bedenken gegen das vereinfachte Verfahren vorbringen können, andererseits aber schon ernsthaft mit der Durchführung dieses Verfahrens rechnen müssen. Die Anhörungsmitteilung hat deshalb sinnvollerweise erst zu ergehen, wenn sich der Vorsitzende oder der Berichterstatter des Senats mit der Frage befaßt hat, ob die Anwendung des vereinfachten Verfahrens sachgerecht sein kann. Das setzt in der Regel voraus, daß die Berufungsbegründung vorliegt oder der Rechtsmittelführer eine zur Vorlage der Berufungsbegründung gesetzte Frist ungenutzt hat verstreichen lassen (BVerwG aaO; Meyer/Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 153 RdNr 20).
Der Senat läßt offen (ebenso BVerwG aaO; BSG SozR 3-1500 § 1253 Nr 4), ob der angefochtene Beschluß bereits deshalb aufzuheben ist, weil das Berufungsgericht die Beteiligten noch vor dem Eingang der Berufungsschrift nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG angehört hat. Für eine Aufhebung bereits aus diesem Grunde könnte sprechen, daß sich vor Eingang der Berufungsbegründung noch nicht darüber befinden läßt, ob der Berufungsführer gegen die erstinstanzliche Entscheidung stichhaltige Gründe vorbringen kann, die – jedenfalls, wenn ein Beteiligter dies verlangt – einer Erörterung in der mündlichen Verhandlung bedürfen (vgl zum Vorstehenden insgesamt und zum Nachfolgenden BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4).
Der angefochtene Beschluß kann schon aus einem anderen Grund keinen Bestand haben: Das Berufungsgericht hat das Anhörungsgebot des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG auf jeden Fall dadurch verletzt, daß die Richter die Klägerin nach Eingang der Berufungsbegründung nicht erneut zur beabsichtigten Form der Entscheidung angehört haben. Eine erneute Anhörung ist nämlich erforderlich, wenn die Richter auch unter Würdigung der Berufungsbegründung an ihrer Absicht festhalten wollen, die Berufung durch Beschluß zurückzuweisen und den Beweisanträgen nicht nachzugehen (vgl BVerwG, Buchholz 310, § 130 VwGO Nr 16). Nur so erlangen die Beteiligten Kenntnis davon, daß das Berufungsgericht trotz des neuen Sachvortrags weiterhin erwägt, im vereinfachten Verfahren ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, und können noch auf das Berufungsgericht einwirken, ihrem Berufungsvortrag nachzugehen und zumindest eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
Im übrigen kann das Berufungsgericht von einer erneuten Anhörungsmitteilung allenfalls dann verfahrensfehlerfrei absehen, wenn der Berufungskläger auf die erste Anhörungsmitteilung nicht reagiert hat und erkennbar keinen Wert auf eine mündliche Verhandlung legt (vgl BVerwG NVwZ-RR 1996, 477) oder sein Vorbringen nicht den Anforderungen entspricht, die erfüllt sein müssen, damit das Tatsachengericht gehalten ist, durch weitere Ermittlungen darauf einzugehen. Diese Voraussetzungen für das Absehen von einer erneuten Anhörung sind hier nicht erfüllt. Die Klägerin hat in ihrer Berufungsbegründung vom 29. September 1997 beantragt, den Sachverständigen Dr. K zur Höhe des Einzel-GdB für das psychische Leiden der Klägerin zu hören. Der Antrag konnte nicht als unsubstantiiert und daher unbeachtlich angesehen werden (vgl BVerwG, Buchholz 312 Entlastungsgesetz Nr 32). Dr. K war zwar bereits in erster Instanz – nach § 109 SGG – als Sachverständiger tätig geworden und hatte den GdB allein für die psychische Störung mit 80 eingeschätzt. Das LSG ist aber dieser – in einem Attest vom 6. Oktober 1997 wiederholten – Bewertung ua deshalb nicht gefolgt, weil Dr. K keinen Vergleich zwischen dem psychischen Zustand der Klägerin bei Erstfeststellung der Behinderung und bei Herabsetzung des GdB angestellt hatte. Gerade diese Lücke im – nach Auffassung des LSG nicht überzeugenden – Gutachten des Sachverständigen Dr. K hätte aber durch die beantragte weitere Beweisaufnahme geschlossen werden können.
Auf den Verstoß gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG kann der angefochtene Beschluß des LSG beruhen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das LSG bei ordnungsgemäßer Anhörung eine mündliche Verhandlung durchgeführt hätte und nach Vernehmung des Sachverständigen Dr. K zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen