Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 04.04.1990) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 4. April 1990 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist ein Anspruch auf Altersruhegeld.
Die Klägerin ist die Alleinerbin des am 19. Juni 1896 geborenen und am 12. November 1986 verstorbenen Versicherten Erich K. (im folgenden: Versicherter). Dieser war – mit Unterbrechungen – von Mai 1912 bis September 1915 versicherungspflichtig beschäftigt. Nach dem Kriegsdienst von September 1915 bis Dezember 1918 nahm er seine Tätigkeit bei der Deutschen Reichsbahn wieder auf und entrichtete jedenfalls bis Mai 1925 wiederum Beiträge zur Rentenversicherung. Nach seiner Entlassung aus dem Dienst der Reichsbahn wegen republikfeindlicher Betätigung im Jahre 1926 war er zunächst nicht versicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem Jahre 1928 war der Versicherte Gauleiter der NSDAP von Ostpreußen und von Mai 1930 an Mitglied des Reichstages. Im September 1933 wurde er (beamteter) Oberpräsident der Provinz Ostpreußen. Dieses Amt hatte er bis zum 8. Mai 1945 inne. Nach seiner Flucht aus Ostpreußen hielt er sich vom 27. Juli 1945 an unter falschen Namen in Schmalfeld/Hasenmoor (Schleswig-Holstein) auf, wo er ohne seine Ehefrau polizeilich gemeldet war. Am 24. Mai 1949 wurde er dort von Angehörigen der britischen Besatzungsmacht verhaftet und auf ein Auslieferungsersuchen der Volkrepublik Polen Anfang 1950 dorthin ausgeliefert. Seit dem 14. Januar 1950 befand sich der Versicherte in einem Warschauer Gefängnis. Im März 1959 verurteilte ihn das Warschauer Bezirksgericht wegen der Planung, Vorbereitung und Organisation von Massenmorden an Polen und Juden in Ostpreußen als Kriegsverbrecher zum Tode. Die Todesstrafe wurde später in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt, die der Versicherte bis zu seinem Tode im Gefängnis von Barczewo (Wartenburg/Kreis Allenstein, Ostpreußen) verbüßte.
Das Bundesverwaltungsamt lehnte einen vom Abwesenheitspfleger des Versicherten im April 1978 gestellten Antrag auf Gewährung von Versorgungsbezügen nach dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art 131 des Grundgesetzes (GG) fallenden Personen (G 131) mit bestandskräftigem Bescheid vom 10. Mai 1980 unter Hinweis auf § 3 Satz 1 Nr 3 Buchst a G 131 ab, da der Versicherte durch sein Verhalten während der Herrschaft des Nationalsozialismus gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe.
Auf den Antrag vom 6. Mai 1980 hin erteilte das Landesbesoldungsamt Schleswig-Holstein die Nachversicherungsbescheinigung vom 14. Dezember 1983, in der bestätigt wurde, daß die dienstrechtlichen Voraussetzungen der Nachversicherung für die Tätigkeit des Versicherten als Oberpräsident der Provinz Ostpreußen in der Zeit vom 13. September 1933 bis 8. Mai 1945 vorgelegen haben.
Nachdem der Abwesenheitspfleger des Versicherten im August 1984 einen förmlichen Rentenantrag gestellt hatte, erließ die Beklagte den Bescheid vom 20. September 1984, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 1984, mit dem sie den Rentenantrag des Versicherten ablehnte. Zwar sei die Wartezeit für das Altersruhegeld erfüllt und der Versicherungsfall eingetreten. Für die Zeit bis zum Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volkrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (DPSVA) zum 1. Mai 1976 habe auch, ausgehend von dem als Rentenantrag geltenden Antrag auf Gewährung von Versorgungsleistungen, ein Rentenanspruch dem Grunde nach bestanden, der zum Teil verjährt sei. Der Rentenauszahlungsanspruch habe aber geruht, da der Versicherte sich nicht nur vorübergehend in einem Gebiet aufgehalten habe, das sozialversicherungsrechtlich nicht zum Ausland gehört habe und in das deshalb keine Renten zu zahlen gewesen seien (§§ 94 ff des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG- aF). Nach dem Inkrafttreten des DPSVA bestehe von vornherein kein Rentenanspruch mehr gegen sie, die Beklagte. Vielmehr habe danach nur der Staat, in dessen Gebiet sich der Berechtigte gewöhnlich aufhalte, Rentenleistungen zu erbringen. Das sei bei dem Versicherten aber Polen gewesen. Ein Rentenanspruch ergebe sich auch nicht aus der Besitzstandsregelung des Art 16 DPSVA, da dem Versicherten im Monat vor dem Inkrafttreten des DPSVA keine Rente zu zahlen gewesen sei. Schließlich lasse sich ein Anspruch auch nicht aus Art 2 § 40b des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) herleiten. Die §§ 94 ff AVG nF, nach denen grundsätzlich eine Zahlung von Renten auch in die ehemaligen deutschen Ostgebiete möglich sei, griffen nicht ein, da insoweit das DPSVA vorgehe.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin, während dessen Verfahren der Versicherte den Versicherungsfall gemäß § 25 Abs 6 AVG auf den 1. Januar 1967 gelegt hatte, mit Urteil vom 7. August 1986 abgewiesen. Auf die Berufung des Versicherten hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin das Urteil des SG Berlin aufgehoben und den nach dem Tode des Versicherten am 12. November 1986 von seinem Nachlaßpfleger fortgeführten Rechtsstreit wegen örtlicher Unzuständigkeit an das SG Lübeck verwiesen, da der Versicherte weiterhin einen Wohnsitz am letzten Wohnort seiner – 1962 verstorbenen – Ehefrau in Lübeck behalten habe. Das SG Lübeck hat die Klage mit Urteil vom 21. März 1989 abgewiesen. Die vom SG zugelassene und von der Klägerin weitergeführte Berufung gegen das Urteil des SG hat das Schleswig-Holsteinische LSG mit Urteil vom 4. April 1990 zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Für die Zeit vor Inkrafttreten des DPSVA habe der Rentenanspruch des Versicherten gemäß § 96 AVG aF geruht, da er sich nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs des AVG und auch nicht im Ausland aufgehalten habe. Zu den Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs des AVG gehörten die polnisch verwalteten Gebiete des ehemaligen Deutschen Reiches. Der Gesetzgeber habe mit dieser Unterscheidung die Probleme gelöst, die ihren Ursprung in historischen Vorgängen aus der Zeit vor Entstehung der Bundesrepublik hatten. Der ihm insoweit zustehende weite Gestaltungsspielraum habe es erlaubt, die Rentenansprüche von Personen, die sich im Ausland aufhielten und von solchen, die sich außerhalb des Geltungsbereichs des AVG befänden, unterschiedlich zu gestalten. Darin könne weder ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) noch gegen Art 14 GG gesehen werden. Für die Prüfung, ob sich der Versicherte nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs des AVG aufgehalten habe, komme es entscheidend auf sein tatsächliches Verweilen an. Es seien keine weiteren Anhaltspunkte ersichtlich, aufgrund derer der Versicherte ernsthaft mit einer baldigen Rückkehr in die Bundesrepublik habe rechnen können. Mit dem Inkrafttreten des DPSVA gingen dessen Bestimmungen als Spezialvorschriften denen der §§ 94 ff AVG aF vor. Nach Art 4 Abs 1 DPSVA seien Renten von dem Rentenversicherungsträger des Staates zu zahlen, in dem der Berechtigte wohne. Gemäß Art 1 Nr 2 DPSVA bedeute der Begriff Wohnort und Wohnen für die Bundesrepublik den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts und sich gewöhnlich aufhalten. Der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherten sei aber nach den Gesamtumständen die Volkrepublik Polen gewesen. Die Ausnahmevorschriften der Art 15 Abs 3 und Art 16 DPSVA griffen ebenfalls nicht ein.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 96 AVG aF, eine Anwendung der Bestimmungen des DPSVA sowie die Nichtanwendung des § 72 Abs 1 Satz 1 G 131 iVm dem rechtskräftigen Bescheid des Landesbesoldungsamtes Schleswig-Holstein vom 14. Dezember 1983. Der Versicherte habe sich auch nach der – gegen seinen Willen erfolgten – Auslieferung an die Volkrepublik Polen dort nicht gewöhnlich aufgehalten. Da der Wille des Gefangenen entscheidend sei, erweise sich der Ort der Gefangenhaltung für den Wohnsitz und den gewöhnlichen Aufenthalt als unbeachtlich. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes stelle auf den Aufenthalt des auf freiem Fuß befindlichen Einzelmenschen ab und werde durch den persönlichen und wirtschaftlichen Lebensmittelpunkt des Einzelmenschen geprägt. Verhaftung, Zwangstransport und Gefängnisaufenthalt könnten daher nicht dem gewöhnlichen Aufenthalt zugerechnet werden. Es handele sich insoweit lediglich um ein zufälliges Verweilen. Als unzutreffend werde die Feststellung des Berufungsgerichts gerügt, dem Versicherten habe nach dem Tode seiner Ehefrau im Jahre 1962 keine Wohnung mehr im Bundesgebiet zur Verfügung gestanden. Ihm sei weiterhin in seinem Elternhaus in Wuppertal ein Zimmer frei gehalten worden.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 4. April 1990 und des Sozialgerichts Lübeck vom 21. März 1989 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20. September 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1984 zu verurteilen, ihr, der Klägerin, das dem Versicherten Erich K. zustehende Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Januar 1973 bis 12. November 1986 nebst 4 % Zinsen zu zahlen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beklagte trägt im wesentlichen vor, das LSG sei zu Recht von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherten in Barczewo ausgegangen. Der Gesetzgeber habe im Rahmen des bis zum 30. April 1976 maßgeblichen § 96 AVG aF auf den tatsächlichen Aufenthalt abgestellt. Die Begriffe des Wohnsitzes iS des § 7 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) oder des Wohnens seien gerade nicht verwendet worden. Anders als bei § 7 BGB oder nach § 57 Sozialgerichtsgesetz (SGG) seien die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend. Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes komme es jedenfalls allein auf das tatsächliche Verweilen und nicht darauf an, ob der Versicherte die Absicht gehabt habe, bei sich bietender Gelegenheit wieder seinen Aufenthalt im Bundesgebiet zu nehmen. Ebensowenig spiele die Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit seines Aufenthaltes eine Rolle. Nach Inkrafttreten des DPSVA am 1. Mai 1976 gehe Art 4 Abs 1 iVm Art 1 Nr 2 DPSVA den Bestimmungen des AVG als lex specialis vor. Die Rechtslage habe sich dadurch allerdings im Ergebnis nicht wesentlich geändert. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt sei auch im Rahmen des DPSVA der gewöhnliche Aufenthalt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Die Klägerin könnte aufgrund ihrer Stellung als Alleinerbin des Versicherten Erich K. die Auszahlung von – fälligem -Altersruhegeld des Versicherten an sich verlangen (§§ 58 Satz 1, 59 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch -SGB I-, § 1922 Abs 1 BGB). Ein solcher Anspruch steht ihr jedoch nicht zu, denn der Versicherte hatte im Zeitpunkt seines Todes keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Auszahlung von Rente.
Geltend gemacht wird ein Anspruch auf Altersruhegeld des Versicherten gemäß § 25 Abs 5 AVG. Der Senat konnte zunächst dahin stehen lassen, ob – wozu ausreichende Feststellungen des LSG fehlen – der Versicherte erst mit der Erteilung der Nachversicherungsbescheinigung vom 14. Dezember 1983 durch das Landesbesoldungsamt Schleswig-Holstein die bis zum 30. Dezember 1983 für den Altersruhegeldanspruch gemäß § 25 Abs 5 AVG erforderliche Wartezeit von 180 Kalendermonaten Versicherungszeit (§ 25 Abs 7 Satz 3 AVG in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung) erfüllt hatte. Da der Bescheinigung über die dienstrechtlichen Voraussetzungen der – fiktiven – Nachversicherung konstitutive Wirkung zukommt, gilt eine Dienstzeit so lange nicht als fiktive Nachversicherungszeit, als die zuständige Versorgungsbehörde nicht die dienstrechtlichen Voraussetzungen durch Verwaltungsakt festgestellt hat (BSGE 54, 193, 197 = SozR 7290 § 72 Nr 7; E 41, 198, 200 = SozR 2600 § 45 Nr 11). Da ein Anspruch der Klägerin, wie noch auszuführen sein wird, aus anderen Gründen nicht gegeben ist, brauchte der Senat auf die Wartezeitvoraussetzung des § 25 Abs 5 AVG nicht einzugehen.
Der Senat ist in diesem Zusammenhang auch nicht befugt, die Nachversicherungsbescheinigung vom 14. Dezember 1983 daraufhin zu überprüfen, ob das Landesbesoldungsamt Schleswig-Holstein – entgegen der vom Bundesverwaltungsamt in seinem bestandskräftigen Bescheid vom 10. Mai 1980 vertretenen Auffassung – zu Recht von einem Wohnsitz des Versicherten im Bundesgebiet im Jahre 1983 ausgegangen ist. Aufgrund der konstitutiven Wirkung der Nachversicherungsbescheinigung kann diese Frage nicht als Vorfrage im sozialgerichtlichen Verfahren entschieden werden (BSGE 54, 197 – aaO). Die Beklagte und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind bei der Beurteilung der dienstrechtlichen Voraussetzungen der Nachversicherung – aber auch nur in diesem Umfang – an die Entscheidung der Versorgungsbehörde gebunden.
Der Zeitpunkt, von dem an der Versicherte frühestens einen Anspruch auf Altersruhegeld hätte haben können, wird durch den über seinen Abwesenheitspfleger gestellten Antrag vom 17. März 1978, bei der Versorgungsbehörde eingegangen am 3. April 1978, auf Gewährung einer Versorgung nach dem G 131 bestimmt. Frühere, von anderen – nicht bevollmächtigten -Personen gestellte Anträge auf Versorgung sind rechtlich ohne Bedeutung. Der durch den bestandskräftigen Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 10. März 1980 abgelehnte Antrag gilt gemäß § 72 Abs 13 G 131 als Rentenantrag. Im Hinblick auf die von der Beklagten geltend gemachte Verjährung des Rentenanspruchs gemäß § 45 Abs 1 iVm Art 2 § 17 SGB I und die Unterberechung der Verjährung (§ 45 Abs 3 SGB I) durch den – als Rentenantrag geltenden – Antrag auf Versorgung könnte ihm möglicherweise frühestens ab 1. Januar 1974 ein Anspruch auf Rentenzahlung zugestanden haben.
Sofern der Versicherte mithin in der Zeit bis zum Inkrafttreten des DPSVA zum 1. Mai 1976 einen Anspruch auf Altersruhegeld gehabt hätte, hätte ihm dieses in Anwendung der §§ 94 ff AVG idF des Gesetzes zur Neuregelung des Fremdrenten- und Auslandsrentenrechts und zur Anpassung der Berliner Rentenversicherung an die Vorschriften des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes und des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz – FANG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I S 93; im folgenden: AVG aF) nicht ausgezahlt werden können; denn § 96 AVG aF ordnete das Ruhen der Rente bei ständigem Aufenthalt des Leistungsberechtigten außerhalb des Geltungsbereichs des AVG an. Nach dieser Vorschrift ruhte nämlich, soweit sich aus den nachfolgenden Vorschriften nichts anderes ergab, auch die Rente eines Deutschen iS des Art 116 Abs 1 des GG oder eines früheren deutschen Staatsangehörigen iS des Art 116 Abs 2 Satz 1 des GG, solange er sich außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes aufhielt. Aufgrund der Ausnahmebestimmungen der §§ 97, 98 und 100 AVG aF konnten Renten bei einem gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland oder für Zeiten eines nur vorübergehenden Aufenthalts außerhalb des Geltungsbereichs des AVG gezahlt werden. Die Rente ruhte indes immer, wenn sich der Berechtigte nicht nur vorübergehend in Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes aufhielt, die nicht Ausland waren. Gemäß § 99 Satz 1 AVG galt als vorübergehender Aufenthalt iS des § 98 Abs 1 AVG ein Aufenthalt bis zur Dauer eines Jahres.
Der Rentenanspruch des Versicherten ruhte somit gemäß § 96 AVG aF, da er sich in einem Gebiet außerhalb des Geltungsbereichs des AVG, nämlich in dem Gefängnisort Barczewo (Wartenburg/Ostpreußen) und somit damals nicht im Ausland aufhielt. Zutreffend haben die Vorinstanzen insoweit ausgeführt, daß die §§ 94 ff AVG idF des FANG für die Zahlbarkeit einer Rente außerhalb des Bundesgebietes zwischen Aufenthalten im Ausland (§§ 94 Abs 2, 98 Abs 2 AVG aF) und solchen in Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs des AVG (vgl §§ 96, 98 Abs 1 AVG aF) unterscheiden. Dies beruht auf der historischen Entwicklung mit der Aufteilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei den Gebieten „außerhalb des Geltungsbereichs” des AVG handelt es sich um solche, die – ohne Ausland (= Gebiet auswärtiger Staaten) zu sein – zum Staatsgebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 gehörten, aber nicht dem Gebietsstand der Bundesrepublik Deutschland zuzurechnen sind. Der besondere Status dieser Gebiete ergab sich aus dem Vorbehalt einer friedensvertraglichen Regelung. Die von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete waren auch durch den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vom 7. Dezember 1970 – Warschauer Vertrag – (BGBl II 1972 S 362 f) nicht „Ausland” iS der §§ 1315 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw der §§ 94 ff AVG, jeweils idF des FANG, geworden. Renten waren daher in diese Gebiete nicht auszuzahlen (BSGE 42, 249 = SozR 2200 § 1318 Nr 1 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- zum Warschauer Vertrag in BVerfGE 40, 141, 174 ff).
§ 96 AVG aF stellt nun auf das „Aufhalten” außerhalb des Geltungsbereichs des AVG ab, verwendet also im Gegensatz zu den §§ 94 Abs 1 Nr 1, 98 Abs 2, 100 Abs 1 AVG aF den Begriff des „gewöhnlichen” Aufenthaltes nicht. Die Zusammenschau der Regelungen des § 96 iVm § 98 Abs 1 AVG aF, der eine Ausnahme von dem Ruhen der Rente bei einem vorübergehenden Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs des AVG statuiert, ergibt jedoch, daß auch in § 96 AVG aF nur der gewöhnliche Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereiches des AVG die Rechtsfolge des Ruhens einer Rente nach sich zieht.
Entgegen der Auffassung der Revision kommt es für die Frage, wo jemand seinen „gewöhnlichen Aufenthalt” hat, nicht auf den Domizilwillen des Betroffenen an. Zwar wird ein solcher Wille in anderen Rechtsbereichen, so zB für Begründung und Aufgabe eines Wohnsitzes iS der §§ 7, 8 BGB als geschäftsähnlicher Handlung, gefordert (s zB Fahse in: Soergel/ Siebert, BGB, 12. Auflage 1987, § 8 RdNr 2, § 7 RdNrn 2, 3; Coing/Habermann in: Staudinger, BGB, 12. Auflage 1980, Vorbemerkung §§ 7 – 11, RdNr 3, § 7 RdNr 4; Gitter in: Münchner Kommentar, BGB, 2. Auflage 1984, § 7 RdNr 12; BGHZ 7, 104, 109). Im Sozialrechtsbereich ist dieser Wille dagegen weder für Begründung noch Aufgabe eines gewöhnlichen Aufenthaltes erforderlich (vgl Fahse, aaO, vor § 7 RdNr 19; Coing/ Habermann, aaO, Vorbemerkung §§ 7 – 11, RdNr 3; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 294d V; Gitter, aaO, § 7 RdNr 7; BGH NJW 1975, 1068 – zum Haager Unterhaltsübereinkommen –; Schödel, Mitteilungen LVA Oberfranken 1986, 249, 259 – Justizvollzugsanstalt –; v. Maydell in: Burdenski/ v.Maydell/Schellhorn, SGB-AT, 2. Auflage 1981, § 30 RdNr 40; Bley in: SozVersGesKomm, Band 1, § 30 SGB 1, Anm 5c, aa; BSGE 49, 254, 256 = SozR 5870 § 1 Nr 6). Der sozialrechtliche Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes (vgl § 30 Abs 3 SGB I) knüpft vielmehr – ebenso wie der sozialrechtliche Begriff des Wohnsitzes – an die tatsächlichen Verhältnisse an. Er setzt neben anderem voraus, daß sich der Betreffende überhaupt an dem Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes aufhält und weiter, daß er hier den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse hat (vgl hierzu – in anderem Zusammenhang – die Entscheidung des Senats vom 27. September 1990 in BSGE 67, 243 = SozR 3 – 7833 § 1 Nr 2). Hieraus folgt zum einen, daß der Versicherte Erich K. im maßgeblichen Zeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Geltungsbereich des AVG hatte, weil es an dem hierzu erforderlichen räumlichen Bezug fehlt. Ausgehend von dem tatsächlichen Schwerpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten ergibt sich zum anderen, daß sein gewöhnlicher Aufenthalt an seinem Gefängnisort Barczewo war. Befindet sich jemand nämlich aufgrund rechtmäßiger Verurteilung in Strafhaft, hat er mangels eines anderen tatsächlichen Aufenthalts auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt am Gefängnisort. Daß das erst recht gelten muß, wenn der Betroffene, wie hier der Versicherte, zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt worden ist, steht außer Frage.
Bis zum Inkrafttreten des DPSVA am 1. Mai 1976 (Art 19 Abs 2 DPSVA iVm der Bekanntmachung vom 31. März 1976 über das Inkrafttreten des DPSVA, BGBl II S 463) stand dem Versicherten mithin gemäß § 96 AVG aF kein Anspruch auf Auszahlung einer Rente zu.
Mit dem Inkrafttreten des DPSVA hatte er dem Grunde nach keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Altersruhegeld. Das DPSVA verdrängt nämlich als speziellere Regelung die Vorschriften des Auslandsrentenrechts (§§ 94 ff AVG aF); es stellt sich zu ihnen als Sonderregelung dar, da es für einen bestimmten Personenkreis die Behandlung von Rentenansprüchen und deren Zahlung regelt (Art 4 Abs 2 des DPSVA iVm Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes vom 12. März 1976 – BGBl II S 393). Der Versicherte fällt in den vom Anwendungsbereich des DPSVA erfaßten Personenkreis. Nach Art 4 Abs 1 DPSVA werden Renten der Rentenversicherung (ausschließlich) vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt. Art 1 Nr 2 DPSVA definiert für die Anwendung des Abkommens die Begriffe des „Wohnortes” oder „wohnen”. Danach bedeuten sie für die Bundesrepublik Deutschland „den Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes” oder „sich gewöhnlich aufhalten”. Da sich der Versicherte, wie bereits im einzelnen dargelegt, während der Zeit nach Inkrafttreten des DPSVA, für die ein Rentenanspruch geltend gemacht wurde, in einem der Volksrepublik Polen zuzurechnenden Gebiet gewöhnlich aufgehalten und damit dort iS des Art 4 Abs 1 DPSVA „gewohnt” hatte, bestand kein Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung von Rente mehr.
Der Versicherte konnte einen Rentenanspruch auch nicht auf die Vorschriften der Art 15 Abs 3, 16 Abs 1 DPSVA stützen, da ihm in der Zeit vor Inkrafttreten des Abkommens (Art 15 Abs 3 aaO) bzw gemäß Art 16 Abs 1 aaO im Kalendermonat vor Inkrafttreten des Abkommens (d.i. April 1976) weder eine Rente gezahlt wurde noch zu zahlen war.
Schließlich ergab sich ein Rentenanspruch des Klägers auch nicht aus den §§ 94 ff AVG idF durch Art 3 Nr 8 des Rentenanpassungsgesetzes (RAG) 1982 vom 1. Dezember 1981 (BGBl I S 1205). Nach den Vorschriften der §§ 95 Abs 1 Satz 1, 97 Abs 1 AVG idF des RAG 1982 kommt danach zwar grundsätzlich eine Rentenzahlung in die von Polen übernommenen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie in Betracht. Ein Rentenanspruch des Versicherten war aber auch für die Zeit nach Inkrafttreten der §§ 94 ff AVG idF des RAG 1982 durch das DPSVA ausgeschlossen. Die spezielleren Regelungen des DPSVA werden durch die zeitlich späteren, aber allgemeineren Regelungen der Rentenzahlungen in den §§ 94 ff AVG idF des RAG 1982 nicht verdrängt. Es ist nicht ersichtlich, daß durch die Novellierung der §§ 94 ff AVG im RAG 1982 in die mit dem DPSVA bezweckte Gesamtregelung der rentenrechtlichen Verhältnisse zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen eingegriffen werden sollte (im Ergebnis ebenso zum Vorrang des DPSVA im Verhältnis zu den §§ 94 ff AVG: Niesel in KassKomm, vor § 1315 RVO, RdNr 8; VerbKomm, Vorbemerkung vor § 1315 RVO, S 2; Harthun-Kindl/Fichte in: Koch/Hartmann, AVG, vor §§ 94 bis 102, S 622).
Der Senat hat sich nicht veranlaßt gesehen, das Verfahren nach Art 100 Abs 1 GG auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen, da Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angewandten Normen nicht bestehen. Die Nichtauszahlung von Rentenansprüchen in ein Gebiet außerhalb des Geltungsbereichs des AVG greift weder in ein Grundrecht des Versicherten nach Art 3 Abs 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) noch nach Art 14 Abs 1 GG (Eigentumsschutz) ein. Dies hat das BVerfG in anderem Zusammenhang schon entschieden (BVerfGE 53, 164, 179 ff = SozR 2200 § 1318 Nr 5; BVerfG SozR 2200 § 1319 Nr 5). Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht dadurch, daß sich der Versicherte aufgrund von – im übrigen nicht der Bundesrepublik Deutschland zuzurechnenden – Maßnahmen der britischen Besatzungsmacht und der Volksrepublik Polen in den Gebieten östlich Oder-Neiße-Linie aufgehalten hat, weil er dort eine lebenslängliche Haftstrafe verbüßte. Die Tatsache des unfreiwilligen Aufenthaltes steht einem Ruhen einer Rente nicht entgegen (BVerfGE 28, 104 ff = SozR Nr 9 zu Art 6 GG).
Schließlich geht die von der Klägerin erhobene Rüge, das LSG habe die §§ 103, 128 SGG verletzt, weil es einerseits die Beibehaltung des Wohnsitzes des Versicherten in Lübeck nicht beachtet und andererseits keine Beweiserhebung über die Begründung eines Wohnsitzes im Elternhaus des Versicherten in Wuppertal getroffen habe, fehl. Sowohl für die Anwendung des § 4 Abs 1 DPSVA als auch für die der Ruhensvorschriften der §§ 94 ff AVG idF des FANG kommt es, wie im einzelnen dargelegt, nicht auf den Wohnsitz des Versicherten und erst recht nicht auf einen Wohnsitz iS des Bürgerlichen Rechts (§§ 7, 8 BGB) an. Schon aus diesem Grunde war auch unerheblich, daß das Landesbesoldungsamt Schleswig-Holstein in seiner Bescheinigung vom 14. Dezember 1983 – anders als das Bundesverwaltungsamt im Bescheid vom 10. März 1980 – von einem Wohnsitz des Versicherten in Lübeck ausgegangen ist.
Nach allem war die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1173823 |
NJW 1991, 3053 |