Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 24.02.1989) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. Februar 1989 wird zurückgewiesen.
Kosten im Revisionsverfahren sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt die Feststellung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit -MdE- (jetzt: Grad der Behinderung -GdB-) um 80 vH nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) für die Zeit vom 1. Dezember 1975 bis zum 31. Dezember 1980. Er strebt sie an für eine einkommensteuerrechtliche Vergünstigung, die nach Auskunft seines Finanzamtes rückwirkend zuerkannt werden kann.
Auf seinen im September 1981 gestellten Antrag stellte das Versorgungsamt verschiedene Behinderungen seit dem Antrag mit einer MdE um 50 vH, durch einen weiteren Bescheid mit einer solchen um 60 vH fest (Bescheide vom 7. Januar 1982 und 13. Januar 1983, Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 1983). Ebenso wie mit dem Widerspruch machte der Kläger mit seiner Klage einen Anspruch auf einen höheren Grad der MdE geltend und beantragte eine Feststellung seit seinem im Dezember 1975 gestellten Antrag auf Versorgung wegen Folgen eines Impfschadens, der rechtsverbindlich abgelehnt worden ist (Bescheid vom 6. September 1978, Widerspruchsbescheid vom 23. August 1979). In jenem Rechtsstreit gab der Beklagte ein Teilanerkenntnis über eine weitergehende Bezeichnung der Behinderungen (Bechterewsche Erkrankung, herabgesetztes Sehvermögen), über eine MdE um 80 vH ab 23. September 1981 und über die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G” ab. Der Kläger nahm dies an und erklärte den Rechtsstreit für erledigt.
Im Juni 1985 beantragte er beim Versorgungsamt eine Feststellung der MdE um 80 vH ab Dezember 1975. Der Antrag blieb erfolglos (Bescheid vom 20. September 1985, Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 1986, Urteile des Sozialgerichts -SG-vom 29. März 1988 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 24. Februar 1989). Das LSG hat die Berufung des Klägers – entsprechend einem von ihm nicht angenommenen Teilanerkenntnis des Beklagten – mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der GdB schon ab 1. Januar 1981 auf 80 festgestellt wird. Das Berufungsgericht hat dahingestellt sein lassen, ob die rechtsverbindlich gewordene Regelung der MdE um 80 vH ab 23. September 1981 nach § 44 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) zu überprüfen und unrichtig war. Jedenfalls könne der Kläger nach § 44 Abs 4 SGB X eine neue Feststellung rückwirkend frühestens vier Jahre vor dem Jahr des Antrages vom Juni 1985, also ab 1. Januar 1981 verlangen. Dem sei schon entsprechend dem Teilanerkenntnis des Beklagten durch Anerkenntnisurteil genügt.
Der Kläger rügt mit seiner – vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen – Revision eine Verletzung des § 44 SGB X und des § 11 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I). Nach seiner Rechtsauffassung ist die Festsetzung der MdE nach dem SchwbG keine Sozialleistung im Sinn der genannten Vorschriften und deshalb nicht rückwirkend auf vier Jahre begrenzt. Insbesondere sei es keine Dienstleistung, und zwar schon deshalb nicht, weil die Feststellung nur deklaratorisch wirke und erst die Grundlage für spätere Anträge auf Sozialleistungen bilde. Der Kläger sei auch an der rückwirkenden Feststellung für das Steuerverfahren interessiert. Hilfsweise begehrt er die Verpflichtung des Beklagten, gemäß § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X nach seinem Ermessen über die rückwirkende Feststellung neu zu entscheiden.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen zu ändern, die angefochtenen Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die MdE um 80 vH bereits ab 1. Dezember 1975 anzuerkennen,
hilfsweise,
den Beklagten zu verpflichten, über den Antrag auf Feststellung für die Zeit vom 1. Dezember 1975 bis zum 31. Dezember 1980 nach seinem Ermessen neu zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält § 44 SGB X im Schwerbehindertenverfahren für anwendbar. Die begehrte Feststellung sei mindestens mittelbar eine Leistungsgewährung; denn sie bilde die Grundlage für zahlreiche Leistungen und Berechtigungen auf verschiedenen Gebieten, die einem weiten Begriff der Sozialleistung zuzuordnen seien.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.
Die Verpflichtung zur rückwirkenden Feststellung eines GdB um 80 für vier Jahre vor dem Antrag (ab 1981) gemäß dem Anerkenntnis des Beklagten ist nicht Gegenstand der Revision. Diese betrifft allein die weitergehende Rückwirkung.
Die Versorgungsbehörden haben zu Recht eine Feststellung des Schwerbehindertenstatus, dh der Rechtsstellung eines Schwerbehinderten, mit einer MdE um 80 vH nach § 1 iVm § 3 Abs 1 Satz 1 und 2 SchwbG (hier idF der Bekanntmachung vom 29. April 1974 – BGBl I 1005 – SchwbG 1974) nachträglich rückwirkend für die Zeit von Dezember 1975 bis Ende Dezember 1980 abgelehnt. (Die Bezeichnung „GdB” gilt erst seit Januar 1986 – § 3 Abs 2 SchwbG idF des Ersten Gesetzes zur Änderung des SchwbG vom 24. Juli 1986 – BGBl I 1110 –, Bekanntmachung der Neufassung vom 26. August 1986 – BGBl I 1421 – SchwbG 1986.)
Ob der Kläger eine nachträgliche Berichtigung schon aus gerichtsverfahrensrechtlichen Gründen nicht mehr begehren kann, weil er den vorausgegangenen Rechtsstreit, nachdem er das Teilanerkenntnis über die Bezeichnung der Behinderungen und über die Höhe der MdE angenommen hatte (§ 101 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), bzgl einer rückwirkenden Feststellung ab Dezember 1975 – wie in einem Vergleich – für erledigt erklärt und damit insoweit die Klage zurückgenommen hat (§ 102 Satz 1 und 2 SGG; dazu BSG SozR 2200 § 1251 Nr 115), kann dahingestellt bleiben, denn der Anspruch besteht schon aus verwaltungsverfahrensrechtlichen Gründen nicht.
Unrichtige Verwaltungsakte im Sozialrecht konnten und können zugunsten eines Antragstellers grundsätzlich auch dann, wenn sie in einem rechtskräftig beendeten Gerichtsverfahren bestätigt oder geändert worden sind, für die Vergangenheit zurückgenommen und durch eine neue – zutreffende – Entscheidung ersetzt werden (§ 40 Abs 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung -KOV-VfG- vom 2. Mai 1955 – BGBl I 202 -/6. Mai 1976 – BGBl I 1169 –; § 44 Abs 1 SGB X vom 18. August 1980 – BGBl I 1469 –; BSG SozR 1500 § 141 Nr 2; 2200 § 1251 Nr 115; 3900 § 40 Nrn 2 und 3). Falls sich ein solcher Verwaltungsakt nachträglich als unrichtig erweist, muß er rückwirkend durch einen rechtmäßigen ersetzt werden. Diese Regelung gilt nicht für den Fall des Klägers.
Die Feststellung der MdE und des Schwerbehindertenstatus sowie von Behinderungen durch einen Verwaltungsakt obliegt den Versorgungsbehörden (§ 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1974, § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1986). Sie stellen auch den darauf beruhenden Ausweis aus, der als Beweismittel dient (§ 3 Abs 5 SchwbG aF, § 4 Abs 5 SchwbG 1986). Auf das dafür zu betreibende Verwaltungsverfahren war nach früherem Recht (§ 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG 1974) das KOV-VfG „entsprechend” anzuwenden. Dieses Verwaltungsverfahrensrecht gilt fort, soweit das SGB nicht anzuwenden ist (§ 4 Abs 1 Satz 2 SchwbG 1986, § 7 Abs 1 Ausweisverordnung SchwbG, jetzt idF vom 3. April 1984 – BGBl I 509 –; vgl dazu BSGE 52, 168, 170 = SozR 3870 § 3 Nr 13; BSGE 60, 287, 288 f = SozR 1300 § 48 Nr 29; BSGE 63, 243, 244 = SozR 1300 § 48 Nr 43; BSGE 65, 185, 186 = SozR 1300 § 48 Nr 57; SozR 1300 § 45 Nr 48; 1300 § 48 Nr 13; 3870 § 4 Nr 3).
Diese Regelungen sind wie folgt zu verstehen:
Da die Versorgungsbehörden bei der ihnen übertragenen Verwaltungstätigkeit im Feststellungsverfahren nach dem SchwbG außerhalb ihres Leistungsgebietes, der sozialen Entschädigung, (§§ 5, 24 Abs 2 SGB I vom 11. Dezember 1975 – BGBl I 3015 –) tätig werden und Verwaltungsakte erlassen, hätte es nahegelegen, auf das Verwaltungsverfahren das außerhalb des Sozialrechts geltende Verwaltungsverfahrensgesetz -VwVfG-vom 25. Mai 1976 (BGBl I 1253) anzuwenden. Diese Verwaltungstätigkeit ist aber durch die Einbeziehung des SchwbG in das SGB (§§ 10, 20, Art II § 1 Nr 3 SGB I) grundsätzlich derjenigen nach dem SGB zugeordnet. Demnach gilt das SGB X nach § 1 Abs 1 Satz 1 unmittelbar, soweit nicht vorrangig speziellere Vorschriften des KOV-VfG, die das Verfahren der sozialen Entschädigung regeln (§ 5, Art II § 1 Nr 12 SGB I) und teilweise das SGB X ergänzen (Art II § 16 SGB X), „entsprechend” anzuwenden sind. Aber diese Geltung des SGB X ist in Übereinstimmung mit der früheren Regelung, daß das sozialrechtliche Verwaltungsverfahrensrecht (KOV-VfG) nur „entsprechend” galt, so zu verstehen, daß Vorschriften des SGB X, die ausschließlich auf das soziale Leistungsrecht abgestellt sind, auf das Feststellungsverfahren nach dem SchwbG nicht anzuwenden sind.
Das trifft für § 44 Abs 1 SGB X zu. Diese Vorschrift iVm der Verfallklausel des Abs 4, die das nachträgliche Erbringen von Sozialleistungen auf vier Jahre beschränkt, ist eine Spezialregelung für Verwaltungsakte über die Gewährung von sozialrechtlichen Leistungen. Sie paßt nicht auf jeden Verwaltungsakt, der im weitesten Sinne mit Leistungen und Berechtigungen zusammenhängt. Vielmehr muß ein solcher Bescheid eines Leistungsträgers (§ 12 SGB I) unmittelbar Leistungen regeln, die Sozialleistungen (§ 11 Satz 1 SGB I) iS der §§ 3 ff und 18 ff SGB I sind, und diese müssen nachträglich erbracht werden können, was regelmäßig für Geldleistungen, aber auch für Sachleistungen aus den genannten Gebieten zutreffen mag. Die Unrichtigkeit eines Verwaltungsaktes, der zurückzunehmen und zu ersetzen sein soll, muß zur Folge gehabt haben, daß Leistungen der bezeichneten Art zunächst zu Unrecht nicht erbracht worden sind (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X), sodann aber für einen Zeitraum bis zu vier Jahren nachträglich zu erbringen sind (§ 44 Abs 4 SGB X).
Um solche Leistungsbescheide geht es im SchwbG nicht. Die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft und der MdE mag in einem weiten Sinne als verfahrensmäßige „Dienstleistung” zugunsten der Behinderten mit Außenwirkung gegenüber Arbeitgebern, Dienstherrn und Verkehrsunternehmen und verschiedenen Behörden einzuordnen sein (vgl dazu BSGE 52, 168, 172, 174 f; BSGE 66, 120, 121 f = SozR 3870 § 4 Nr 4; BVerwGE 66, 6, 8 ff; BVerwGE 72, 8, 9 ff). Aber auch durch diese Feststellung entscheidet die Versorgungsbehörde nicht über Sozialleistungen, wie dies in § 44 Abs 1 und 4 SGB X vorausgesetzt wird (vgl BSGE 52, 174). Ein solcher Bescheid über die Eigenschaft als Schwerbehinderter oder die Höhe der MdE beschränkt sich auf diese feststellende Tätigkeit der Versorgungsbehörde. Außerdem verweist § 20 Abs 1 SGB I bei der Beschreibung der „Leistungen” nach dem Schwerbehindertenrecht (soziale Rechte – § 2) gerade nicht auf diese Feststellungen, sondern auf arbeitsrechtliche Vorteile vorrangige Beschäftigungschancen wie Kündigungsschutz, verlängerter Urlaub sowie nachgehende Hilfen. Soweit es um öffentlich-rechtliche Leistungen geht, auch auf anderen Rechtsgebieten zB Parkerleichterungen, um die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht oder um Steuererleichterungen, sind andere Behörden als die Versorgungsbehörden für die Gewährungen der Leistungen zuständig (§ 20 Abs 2 SGB I; zu weiteren Berechtigungen, für die die Feststellung benötigt wird: BSGE 52, 168; 56, 238 = SozR 3870 § 3 Nr 17; BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1; BSGE 59, 242 = SozR 3870 § 3 Nr 20; BSG Versorgungsbeamter 1982, 35; BVerwGE 66, 315, 318 f; BVerwG Deutsches Verwaltungsblatt 1985, 1317; BVerwG Buchholz 436.61 § 6 SchwbG Nr 1).
Auch vom Inhalt und von den Rechtswirkungen her sind solche „Leistungen” und damit auch die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft oder der Höhe der MdE nur ab Antrag mit Wirkung für die Zukunft zu treffen. Das beruht nicht in erster Linie darauf, daß über die erforderlichen gesundheitlichen Voraussetzungen für die Vergangenheit nur schwer Feststellungen zu treffen sind. Dem wird schon dadurch Rechnung getragen, daß ein Antragsteller in jedem Fall das Risiko trägt, daß eine ausreichende Sachaufklärung zu seinen Gunsten nicht mehr möglich ist. § 44 Abs 1 SGB X, der zu rückwirkenden Berichtigungen zwingt, paßt aber nicht auf Statusfeststellungen, die allein nach dem SchwbG vorgenommen werden. Die Rechtsstellung als Schwerbehinderter mit einem bestimmten Grad der MdE (oder jetzt einem GdB), worüber allein entschieden wird, kann sich nur in der Zukunft auf die Gestaltung verschiedener Rechtsverhältnisse auswirken; der Status verschafft arbeitsrechtliche Vorteile, führt zur Verminderung des Entgelts für zahlreiche Dienst- und Sachleistungen, zB bei der Benutzung von Verkehrsmitteln, eröffnet begleitende Hilfen durch die Bundesanstalt für Arbeit oder die Hauptfürsorgestelle, nicht zuletzt in Form von Beratung oder Hilfen für behindertengerechte Arbeitsplätze oder vermittelt Kündigungsschutz und längeren Urlaub. Der Kläger begehrt hier die Feststellung nach dem SchwbG, um seine Einkommensteuer zu mindern. Zum vereinfachten Beweis für das Ausmaß seiner Behinderungen als Grund für außergewöhnliche Belastungen, die er gegenüber dem Finanzamt geltend machen will, begehrt er eine entsprechende Entscheidung der Versorgungsbehörde und einen darauf beruhenden Ausweis (§§ 33, 33b Abs 1 bis 3 Einkommensteuergesetz ≪EStG≫, § 65 Abs 1 Nr 1 ESt-Durchführungsverordnung ≪EStDV≫, jetzt in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. Juni 1986 – BGBl I 1239 -/18. Dezember 1989 – BGBl I 2212). Steuerrechtliche Vorschriften würden auch der nachträglichen Berücksichtigung einer Anerkennung als Schwerbehinderter nicht entgegenstehen (§ 171 Abs 10, § 175 Abs 1 Abgabenordnung 1977). Denn das Steuerrecht trägt bei sogenannten Grundlagenbescheiden der Tatsache Rechnung, daß sich die Anerkennungsverfahren hinziehen können, besagt aber nichts dafür, ob die Versorgungsbehörden im Anerkennungsverfahren hinter den Zeitpunkt des Antrags zurückzugehen haben. Diese steuerrechtlichen Vorteile stehen auch funktional und systematisch den Sozialleistungen nahe, so daß gerade für sie rückwirkende Berichtigungen nicht ausgeschlossen werden müßten. Steuervorteile sind aber, auch wenn sie Anlaß zu einem Feststellungs-, also Statusverfahren gegeben haben, nur eine der möglichen Folgen des feststellenden Verwaltungsaktes. Sie prägen das sozialrechtliche Statusverfahren nicht, das auf die Gesamtheit der Berechtigungen und Nachteilsausgleiche von Schwerbehinderten ausgerichtet ist. Die Statusänderung wirkt prinzipiell in die Zukunft; eine beschränkte Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung (§ 6 Abs 1 Satz 1 SchwbAwV), trägt dem Interesse der Behinderten daran Rechnung, daß sie nicht durch die Dauer eines Verwaltungsverfahrens unzumutbar benachteiligt werden. Nach Antragstellung können sie auch bei allen wesentlichen Belangen bereits auf ein laufendes Verfahren zur Anerkennung hinweisen. Die weitere Rückwirkung eines Antrags, wie sie in § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV vorgesehen ist, muß auf offenkundige Fälle beschränkt werden, in denen auch bei Anwendung des § 44 Abs 2 SGB X das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung gebieten könnte.
Davon, daß auf die nach dem SchwbG zu treffenden Feststellungen nicht § 44 Abs 1, sondern § 44 Abs 2 SGB X anzuwenden ist, ist das Bundesarbeitsgericht schon in seinem Urteil vom 30. Juni 1983 (BAGE 43, 148, 156 = AP § 12 SchwbG Nr 11) ausgegangen. Der erkennende Senat schließt sich dem an. § 44 Abs 1 SGB X mißt in Abweichung von den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts und dem für die allgemeine Verwaltung geltenden Recht (vgl § 48 Abs 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz) der Einzelfallgerechtigkeit ein wesentlich höheres Gewicht zu als der Rechtssicherheit. Diese Vorschrift ist damit auf das besondere Interesse des Sozialrechts zugeschnitten und auch auf das Sozialrecht zu begrenzen. Die Verpflichtung zur Überprüfung von entschiedenen Fällen ist auf die Behörden beschränkt, die Verwaltungstätigkeit im Sinne des Sozialgesetzbuchs ausüben (§ 1 Abs 1 SGB X). Dazu gehören zwar auch die Behörden der Versorgungsverwaltung (vgl §§ 10, 20, Art II § 1 Nr 3 SGB I), § 44 Abs 1 Satz 1 beschränkt diese Verpflichtung aber auf die Fälle, in denen bei Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts den Betroffenen Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder – was hier nicht in Betracht kommt – Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Der Senat hat daraus bereits in seinem Urteil vom 6. März 1991 (9b RAr 7/90, zur Veröffentlichung vorgesehen) gefolgert, daß eine Überprüfungspflicht nur besteht, wenn der Betroffene heute noch die vorenthaltenen Sozialleistungen verlangen oder die geleisteten Beiträge zurückverlangen kann. Da nach § 44 Abs 4 SGB X nur für die letzten 4 Jahre vor der Antragstellung Sozialleistungen verlangt werden können, besteht keine Überprüfungsverpflichtung, wenn es um Sozialleistungen geht, die in der Zeit vor mehr als 4 Jahren vorenthalten worden sind.
In Fortführung dieser Rechtsprechung ist klarzustellen, daß die Aufhebungspflicht des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X auf die Fälle beschränkt ist, in denen die Aufhebung nur die nachträgliche Erbringung von Sozialleistungen – oder die Rückzahlung von Beiträgen – zur Folge hat. Diese Auslegung, die sich aus dem Wortlaut und der Sonderstellung dieser sozialrechtlichen Vorschrift ergibt, ist auch sachgerecht. Sie berücksichtigt, daß die rückwirkende Aufhebung von Entscheidungen, die für und gegen jedermann gelten, jedenfalls dann zu Unzuträglichkeiten führt, wenn Dritte aus dieser Entscheidung nicht rückgängig zu machende Folgerungen hergeleitet haben. Die Verwaltungsrechtsprechung zu § 48 Abs 1 Satz 1 VwVG macht deutlich, wie behutsam vorzugehen ist, wenn ein Verwaltungsakt nicht nur zwischen der Verwaltung und dem Betroffenen, sondern auch im Verhältnis zu Dritten Wirkungen hat (vgl Kopp, VwGO, 4. Aufl § 48 RdNr 13). Die Rücknahme kann nicht – wie nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X -zwingend angeordnet werden, sondern muß auf die Fälle beschränkt werden können, in denen die Rücknahme Dritte nicht oder nicht unzumutbar belastet. Es ist auch bei den feststellenden Verwaltungsakten im Schwerbehindertenrecht davon auszugehen, daß Dritte, die nicht Sozialleistungsträger sind, wesentliche Entscheidungen auf der Grundlage eines solchen Verwaltungsakts getroffen haben. Zu diesen Dritten gehören nicht nur öffentlich-rechtliche Rechtsträger und öffentliche Verkehrsunternehmen, sondern vor allem auch Private, insbesondere Arbeitgeber. Ob und welche dritte Personen sich mit ihren Dispositionen auf die Zuerkennung oder Ablehnung einer beantragten Schwerbehinderteneigenschaft eingestellt haben, ist selbst dann nicht einfach zu klären, wenn man die Suche auf unmittelbar Beteiligte beschränken wollte. Das gilt sogar für die Arbeitgeber, die, wie der Senat entschieden hat (SozR 3870 § 3 Nr 23), an dem Verfahren nicht zu beteiligen sind, auch wenn ihre unmittelbare Betroffenheit nicht zu bezweifeln ist.
Die Verwaltung ist in Ausübung des ihr nach § 44 Abs 2 SGB X eingeräumten Ermessens mit der Rücknahme über vier Jahre zurückgegangen. Das ist im Ergebnis nicht rechtsfehlerhaft. Es ist jedenfalls nicht ermessenswidrig iS des § 54 Abs 2 Satz 2 SGG, die Rückwirkung grundsätzlich auf vier Jahre zu beschränken und den Anwendungsbereich des § 44 Abs 2 SGB X nicht weiter zu verstehen als den des Abs 1. Das gilt hier in besonderem Maße, weil der Kläger im Jahre 1981 selbst den Rechtsstreit um eine rückwirkende Anerkennung für erledigt erklärt hat.
Die Entscheidung, die die Feststellungen nach dem SchwbG nicht den Sozialleistungen zurechnet, ist mit der Entscheidung des Senates, daß die „Abschmelzungs”-Regelung des § 48 Abs 3 SGB X in solchen Verfahren entsprechend anzuwenden ist (SozR 1300 § 45 Nr 48), vereinbar. Ein anerkannter Schwerbehinderter darf in diesen Feststellungsverfahren, wenn die MdE oder der GdB als Bemessungsfaktor zu hoch festgestellt ist und sich der Behindertenzustand nachträglich verschlimmert, nicht besser gestellt werden als der Bezieher einer Beschädigtenrente aus der sozialen Entschädigung, die nach diesem Bemessungsfaktor zu berechnen ist (§ 31 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175072 |
BSGE, 14 |