Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Versorgung mit Cannabis nach § 31 Abs 6 SGB 5. Anforderungen an die begründete Einschätzung des Vertragsarztes. Überprüfbarkeit der begründeten Einschätzung durch Krankenkassen oder Gerichte
Orientierungssatz
1. Zu den Anforderungen an eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes für die Versorgung mit getrockneten Cannabisblüten nach § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 Buchst b SGB 5.
2. Krankenkassen und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist.
Normenkette
SGB V § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 31. August 2022 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Genehmigung der Versorgung mit getrockneten Cannabisblüten zur Inhalation.
Für die 1968 geborene und bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin beantragte ihr Hausarzt im Januar 2019 die Übernahme der Kosten für eine Versorgung mit Cannabis. Im Arztfragebogen gab er an, sie leide unter einem chronischen Schmerzsyndrom bei Fibromyalgie und Lupus erythematodes. Behandlungsziel sei eine Schmerzlinderung. Gleichzeitig bestehe Epilepsie. Auf die Frage, welche Therapie mit welchem Erfolg bisher durchgeführt worden sei, führte der Hausarzt aus: "medik. Ther + Physiother nicht ausreichend erfolgreich". Die Patientin sei austherapiert. Die Beklagte lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ab (Bescheid vom 13.2.2019). Im Widerspruchsverfahren führte die Klägerin aus, die Einnahme von Opiaten komme für sie nicht in Betracht, da sie mehrere Jahre stark heroinabhängig gewesen sei. Durch ihren aktuellen Konsum von Cannabis sei sie in der Lage, ihren Alltag wieder relativ selbstständig zu gestalten. Die Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer weiteren MDK-Stellungnahme zurück (Widerspruchsbescheid vom 6.11.2019).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 27.12.2021), das LSG die Berufung zurückgewiesen: Es sei zweifelhaft, ob es sich vorliegend um eine schwerwiegende Erkrankung handele. Jedenfalls aber stünden zur Behandlung der Fibromyalgie der Klägerin allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung, insbesondere eine schmerztherapeutische Vorstellung zur Differenzierung der Schmerzen und zur Einleitung einer multimodalen, interdisziplinären, komplexen Schmerztherapie. Es liege auch keine begründete Einschätzung eines Vertragsarztes vor, die geeignet wäre, die gesetzlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Welche Therapien wann und mit welchem Erfolg bzw Misserfolg durchgeführt worden seien und warum die Standardtherapien nicht zum Einsatz gekommen oder erfolglos geblieben seien, beantworte der Arzt nicht. Dies sei aber umso erforderlicher gewesen, als gerade bei der Krankheit der Fibromyalgie und der symptomatischen Epilepsie eine Therapie mit Cannabinoiden kontraindiziert sei. Hinzu komme die frühere Suchterkrankung, die einer Einnahme von Cannabis entgegenstehen könne. Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes könne im Gerichtsverfahren nicht mehr nachgeholt werden, denn nach dem Wortlaut der Norm müsse sie bis zur Entscheidung der KK vorliegen. Das Gericht sei daher daran gehindert, durch eine Beweisaufnahme zu klären, ob die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zutreffe (Urteil vom 31.8.2022).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen § 31 Abs 6 SGB V und gegen die Amtsermittlungspflicht. Die Voraussetzungen des § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 SGB V seien erfüllt. Der Hausarzt sei in dem Fragebogen zu dem Ergebnis gelangt, dass sie austherapiert und auf die beantragten Medikamente angewiesen sei. SG und LSG hätten weitere Ermittlungen durchführen müssen, wenn die Ausführungen des Hausarztes unzureichend seien.
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Die Klägerin beantragt, |
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das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 31. August 2022 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 27. Dezember 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. November 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Genehmigung der vertragsärztlichen Versorgung von Cannabisblüten der Sorte Bedrocan zur Inhalation bei einer Tagesdosis von 1 g zu erteilen. |
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Die Beklagte beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Vorinstanzen haben die Klage, mit der die Klägerin ihr Begehren auf Erteilung einer Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabisblüten zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) verfolgt, zu Recht abgewiesen. Das LSG hat einen Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit Cannabis und damit inzident einen Anspruch auf Genehmigung der Verordnung von Cannabisblüten der Sorte Bedrocan gemäß § 31 Abs 6 Satz 1 und 2 SGB V verneint, weil eine begründete vertragsärztliche Einschätzung, dass Standardtherapien nicht zur Anwendung kommen könnten, bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahren nicht vorgelegen habe und diese Einschätzung im Gerichtsverfahren nicht nachgeholt werden könne. Das hält zwar einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht in vollem Umfang stand (vgl zur Nachholbarkeit der begründeten vertragsärztlichen Einschätzung mit Wirkung ex nunc unten RdNr 17 und BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 39; BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 9/22 R - juris RdNr 30). Die Revision ist aber auf der Grundlage der nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG gleichwohl zurückzuweisen.
1. Nach § 31 Abs 6 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon (nachfolgend zusammengefasst Cannabis), wenn sie an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden (Satz 1; dazu a), eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann (Satz 1 Nr 1; dazu b) und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Satz 1 Nr 2). Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der KK, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (Satz 2).
Die Klägerin erfüllt diese Anspruchsvoraussetzungen nicht. Nach den nicht mit durchgreifenden Rügen angegriffenen (vgl dazu 2.) und den Senat daher bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG stehen zur Behandlung ihrer Erkrankungen noch weitere, dem medizinischen Standard entsprechende Methoden zur Verfügung. Es fehlt zudem an der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese nicht zur Anwendung kommen können.
a) Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung (§ 31 Abs 6 Satz 1 SGB V). Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 11; BSG vom 19.3.2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184, 191 f = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 36; BSG vom 25.3.2021 - B 1 KR 25/20 R - BSGE 132, 67 = SozR 4-2500 § 137c Nr 15, RdNr 40). Von einer dauerhaften Beeinträchtigung der Lebensqualität ist in Anlehnung an entsprechende Regelungen in §§ 43, 101 Abs 1 SGB VI, § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX, § 14 Abs 1 Satz 3 SGB XI, § 30 Abs 1 Satz 3 BVG ab einem Zeitraum von (voraussichtlich) sechs Monaten auszugehen. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich nicht aus der gestellten Diagnose, sondern aus den konkreten Auswirkungen der Erkrankung. Diese müssen den Betroffenen überdurchschnittlich schwer beeinträchtigen, wofür die Grad der Schädigungsfolgen(GdS)-Tabelle aus Teil B der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) als Anhaltspunkt dienen kann.
b) Ob bei der Klägerin eine in diesem Sinne schwerwiegende Erkrankung vorliegt, kann offenbleiben. Denn der geltend gemachte Anspruch auf Genehmigung einer Cannabis-Verordnung scheitert hier bereits am Fehlen der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, dass die nach den Feststellungen des LSG zur Verfügung stehende, dem medizinischen Standard entsprechende Therapie (dazu aa) nicht zur Anwendung kommen kann (dazu bb; siehe hierzu im Einzelnen auch BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 20 ff).
aa) Ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis setzt voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst a SGB V). Daran fehlt es hier. Nach den nicht mit durchgreifenden Rügen angegriffenen, den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG steht eine Standardtherapie zur Behandlung der Schmerzerkrankung und zur Erreichung des angestrebten Behandlungsziels der Schmerzlinderung zur Verfügung. Das LSG hat auf Grundlage der vorliegenden MDK-Stellungnahmen festgestellt, dass für die Klägerin die Möglichkeit einer schmerztherapeutischen Vorstellung zur Abklärung/Differenzierung der Schmerzen und zur Einleitung einer multimodalen, interdisziplinären, komplexen Schmerztherapie besteht. Die bisherige Durchführung einer solchen Schmerztherapie wurde weder von der Klägerin oder ihrem behandelnden Vertragsarzt behauptet noch ist sie sonst ersichtlich.
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bb) Stehen für die Behandlung der Erkrankungen Methoden zur Verfügung, die dem medizinischen Standard entsprechen, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese Methoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt zwar eine Einschätzungsprärogative zu, an die begründete Einschätzung sind indes hohe Anforderungen zu stellen (im Einzelnen dazu BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 24 ff). Diese muss enthalten: |
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die Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte; |
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die Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen, ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels; |
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bereits angewendete Standardtherapien, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen; die noch verfügbaren Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei auftretende Nebenwirkungen; |
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die Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis; in die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen. |
Die Genehmigung der Verordnung kann gemäß § 31 Abs 6 Satz 2 SGB V nur in begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden. Ein begründeter Ausnahmefall setzt voraus, dass über die Anspruchsvoraussetzungen nach § 31 Abs 6 Satz 1 SGB V hinausgehende, besondere Umstände vorliegen. Jegliche Umstände, die bereits in die Abwägung des Vertragsarztes zur Abgabe der begründeten Einschätzung (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V) einzustellen sind, sind nicht geeignet, als begründeter Ausnahmefall eine Ablehnung der Genehmigung zu rechtfertigen. Sollte der Vertragsarzt die notwendige Abwägung nicht auf vollständiger und zutreffender Tatsachengrundlage unter Berücksichtigung der Gründe, die einer Therapie mit Cannabis entgegenstehen können, vorgenommen haben, scheitert der Genehmigungsanspruch bereits an der unzureichend begründeten Einschätzung (vgl dazu BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 38).
Auch die Frage, ob ein bereits festgestelltes Abhängigkeitssyndrom oder ein Vorkonsum eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstellen, obliegt danach der Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes (hierzu ausführlich BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 19/22 R - juris RdNr 22). Allein das Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms oder eines Vorkonsums stellt keinen begründeten Ausnahmefall für die KK dar, die Genehmigung abzulehnen.
Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes ist tatbestandliche Voraussetzung des Versorgungs- und Genehmigungsanspruchs. Die Versicherten haben sie daher beizubringen; es ist ihnen jedoch nicht verwehrt, sie noch bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz vorzulegen oder zu ergänzen. § 31 Abs 6 SGB V enthält insoweit keine Präklusionsregelung (vgl BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 39; zu den Anforderungen an eine Präklusionsregelung vgl zB BSG vom 18.5.2021 - B 1 KR 32/20 R - BSGE 132, 143 = SozR 4-2500 § 275 Nr 33, RdNr 33 mwN).
KKn und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus. Insbesondere steht es KKn und Gerichten nicht zu, die Anwendbarkeit einer verfügbaren Standardtherapie selbst zu beurteilen und diese Beurteilung an die Stelle der Abwägung des Vertragsarztes zu setzen (vgl BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 37).
Vorliegend fehlt es nach den Feststellungen des LSG an einer diesen Anforderungen genügenden begründeten Einschätzung zur Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie. Der behandelnde Vertragsarzt hat nicht begründet, warum eine multimodale, interdisziplinäre, komplexe Schmerztherapie bei der Klägerin nicht zur Anwendung kommen kann. Die Stellungnahme enthält bereits keine genügende Darstellung der in die Abwägung einzustellenden Tatsachen. So fehlt es bereits an einer vollständigen Darstellung des Krankheitszustandes der Klägerin sowie der Darlegung, wann und für welchen Zeitraum und mit welchem Erfolg medikamentöse und nicht-medikamentöse Standardtherapien, ggf mit welchen Nebenwirkungen eingesetzt wurden. Die pauschale Angabe, die Klägerin sei "austherapiert", genügt den dargestellten Anforderungen nicht. Auch sind die frühere Heroinabhängigkeit und der aktuelle Konsum von Cannabis nicht erkennbar in die Abwägung einbezogen worden. Eine neue, den oben genannten Anforderungen entsprechende, begründete vertragsärztliche Einschätzung hat die Klägerin nicht bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem LSG vorgelegt.
2. Soweit die Klägerin mit ihrer Revision rügt, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen, eine konkrete Befragung des behandelnden Arztes vorzunehmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen, hat sie den geltend gemachten Verfahrensfehler nicht ausreichend begründet. Nach § 164 Abs 2 Satz 3 SGG müssen bei Verfahrensrügen die Tatsachen bezeichnet werden, die den Mangel ergeben. Die maßgeblichen Vorgänge müssen so genau angegeben sein, dass das Revisionsgericht sie, die Richtigkeit des Vorbringens unterstellt, ohne weitere Ermittlungen beurteilen kann (vgl BSG vom 29.8.2012 - B 10 EG 20/11 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 18; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 164 RdNr 12 ff mwN).
Bei einer behaupteten Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) ist darzulegen, dass und inwiefern sich das LSG auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen. Das erfordert neben der exakten Benennung des nach Auffassung des Revisionsführers zum Beleg einer bestimmten Tatsache ungenutzt gebliebenen Beweismittels regelmäßig die Angabe, zu welchem Ergebnis die unterlassene Beweisaufnahme geführt hätte, und die Darlegung, welche konkrete Bedeutung das behauptete Beweisergebnis auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts für dessen Entscheidung gehabt hätte (vgl BSG vom 12.8.2009 - B 3 KR 10/07 R - BSGE 104, 95 = SozR 4-2500 § 139 Nr 4, RdNr 30; BSG vom 3.7.2012 - B 1 KR 25/11 R - BSGE 111, 168 = SozR 4-2500 § 31 Nr 22, RdNr 28; BSG vom 30.10.2014 - B 5 R 8/14 R - BSGE 117, 192 = SozR 4-1500 § 163 Nr 7, RdNr 20). Daran fehlt es.
Das LSG ist in seiner Entscheidung davon ausgegangen, dass die begründete Einschätzung des Vertragsarztes im Gerichtsverfahren nicht mehr nachgeholt werden könne, sondern bis zur Entscheidung der KK vorliegen müsse. Die Klägerin legt nicht dar, warum sich das LSG aufgrund dieses sachlich-rechtlichen Standpunkts hätte gedrängt fühlen müssen, den behandelnden Vertragsarzt zu befragen oder ein Gutachten dazu einzuholen, dass der Klägerin die Anwendung einer Standardtherapie nicht zumutbar sei.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. |
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Schlegel |
Estelmann |
Scholz |
Fundstellen
Haufe-Index 15912608 |
SGb 2023, 686 |