Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung – Kostenübernahme – Hilfsmittel ≪hier: Therapie-Dreirad≫ – Abgrenzung zwischen Heil- und Hilfsmitteln
Leitsatz (amtlich)
Als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung kommen auch Geräte in Betracht, die den Erfolg einer Heilbehandlung bei einer Anwendung durch den Versicherten selbst sicher stellen sollen.
Stand: 14. Mai 2001
Normenkette
SGB V § 33 Abs. 1 S. 1, § 32 Abs. 1
Beteiligte
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Februar 2000 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die Kosten für ein Therapie-Dreirad zu erstatten.
Bei dem im Februar 1990 geborenen, bei der beklagten Krankenkasse (KK) familienversicherten Kläger trat infolge einer Frühgeburt eine Netzhauterkrankung auf, die zu seiner völligen Erblindung führte. Er leidet ferner an einer verzögerten psychomotorischen Entwicklung mit Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen. Im August 1995 legte er der Beklagten die Verordnung der Ärztin für Augenheilkunde Dr. S über ein „Dreirad zu Therapiezwecken” sowie einen Kostenvoranschlag vor, der einen Betrag von 2.923,70 DM auswies. Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein, der die Auffassung vertrat, das begehrte Dreirad gehe über den Rahmen des Notwendigen hinaus. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers danach durch Bescheide vom 20. Oktober und 8. November 1995 ab. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1996).
Auf die hiergegen gerichtete Klage hob das Sozialgericht (SG) nach Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. B., Leiterin der Sektion Ophthalmologische Rehabilitation der Universitätsaugenklinik Heidelberg, die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte die Beklagte, den Kläger mit einem Therapie-Dreirad zu versorgen. Im Verlauf des nachfolgenden Berufungsverfahrens wurde festgestellt, daß der Kläger sich das Therapie-Dreirad zwischenzeitlich selbst angeschafft hatte. Das Landessozialgericht (LSG) hat ein weiteres Gutachten von Prof. Dr. N., Direktor der Universitätskinderklinik Mannheim, eingeholt. Dieser kam zu dem Ergebnis, daß die Benutzung des Rades zu einer entsprechenden Stimulation der beteiligten Gehirnregionen führe, was im weiteren dann auch die Koordination, vor allem beim Laufen, verbessere. Die Benutzung des Rades zwinge zudem zu einer aufrechten Haltung, was vor allem bei blinden Kindern ein häufiges und schwierig zu behandelndes Problem sei. In einem umgrenzten Areal könne sich der Kläger mit seinem Dreirad frei bewegen und sei nicht auf Führung und ständige Anwesenheit eines Erwachsenen angewiesen. Gleichgewicht, motorische Koordination, Körpergefühl und Mobilität könnten durch die Benutzung des Therapie-Dreirades erheblich verbessert werden. Eine andere Möglichkeit, gleichartigen therapeutischen Nutzen zu erreichen, bestehe nicht. Mit Urteil vom 25. Februar 2000 hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen: Bei dem Therapie-Dreirad handele es sich nicht um ein Hilfsmittel iS des § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). In Betracht komme allein die 2. Alternative dieser Regelung. Das Dreirad könne jedoch keinen Ausgleich für die beim Kläger ausgefallenen Funktionen bewirken. Soweit der Kläger auf die therapeutischen Wirkungen der Benutzung des Dreirades abstelle, komme eine Leistungspflicht der Beklagten nur in Betracht, wenn es sich hierbei um ein Heilmittel iS von § 32 SGB V handele. Dies sei jedoch nicht der Fall, weil Heilmittel in der Regel eine fachkundige Anleitung durch einen zugelassenen Therapeuten voraussetzten. Mit der Benutzung des Dreirades werde auch keine gezielte Therapie verfolgt. Vielmehr sollten ohne konkrete Vorgaben lediglich die günstigen therapeutischen Wirkungen des Dreiradfahrens genutzt werden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 33 SGB V. Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß es sich nicht um ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung handele.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 25. Februar 2000 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Mannheim vom 12. November 1998 mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Beklagte zur Zahlung von 2.990,23 DM verurteilt wird.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Der Senat konnte aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob die Beklagte zur Leistung verpflichtet ist. Da sich der Kläger das von ihm begehrte Therapie-Dreirad zwischenzeitlich selbst beschafft hat, kommt eine Verpflichtung zur Kostenerstattung in Betracht, falls die Beklagte zur Sachleistung verpflichtet war und diese zu Unrecht abgelehnt hat (§ 13 Abs 3 SGB V).
1. Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Das Therapie-Dreirad ist weder durch die auf der Grundlage von § 34 Abs 4 SGB V erlassene Hilfsmittelverordnung (HMVO) vom 13. Dezember 1989 (BGBl I 2237, in der durch VO vom 17. Januar 1995 ≪BGBl I 44≫ geänderten Fassung), ausgeschlossen, noch handelt es sich um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen ist das dem Kläger verordnete Therapie-Dreirad speziell für die Bedürfnisse Behinderter entwickelt worden. Therapie-Dreiräder sind im Hilfsmittelverzeichnis unter Mobilitätshilfen aufgeführt (Hilfsmittelverzeichnis vom 29. Januar 1993, BAnz Beil 1993, Nr 50a 1-140 mit Ergänzungen).
Das Therapie-Dreirad wurde dem Kläger, der als Folge einer Frühgeburt nicht nur an einer völligen Erblindung, sondern auch an einer verzögerten psychomotorischen Entwicklung leidet, vor allem zur Verbesserung seines Gleichgewichts- und Koordinationsvermögens ärztlich verordnet. Das LSG ist zu Unrecht davon ausgegangen, die Beklagte sei nicht leistungspflichtig, weil das Therapie-Dreirad nicht dem Behinderungsausgleich diene und als Hilfsmittel zur Sicherung des ärztlichen Behandlungserfolgs ausscheide, weil es an einem gezielten therapeutischen Einsatz durch einen behandelnden Arzt fehle und von dem Gerät lediglich „therapeutische Nebeneffekte” erwartet würden.
2. Ein Behinderungsausgleich für die ausgefallene Sehfunktion ist weder vom Kläger noch von der behandelnden Augenärztin als Begründung angeführt worden. Ob hingegen eine Ausgleichsfunktion im Hinblick auf die Defizite beim Gleichgewichts- und Koordinationsvermögen besteht, ist nicht festgestellt worden. Die Behauptung der Beklagten im Revisionsverfahren, die Retardierung im Bereich der motorischen Koordination und des Gleichgewichts wirkten sich beim Kläger nicht auf die Körperfunktion Gehen als solches aus, sondern lediglich auf das Gangbild, ist nicht geeignet, eine Ausgleichsfunktion des Geräts zu verneinen, weil auch das Gangbild zum Gehen gehört. Die Frage, ob dem Therapie-Dreirad insoweit eine Ausgleichsfunktion zukommt, kann aber dahinstehen, wenn das Gerät, was nach den Ergebnissen der im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten gut möglich erscheint, zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung erforderlich ist, womit die 1. Alternative des § 33 Abs 1 SGB V erfüllt wäre.
3. LSG und Beklagte gehen zu Unrecht davon aus, daß Mittel, die zur therapeutischen Beeinflussung eingesetzt werden, keine Hilfsmittel iS von § 33 SGB V sein können, sondern allenfalls Heilmittel iS von § 32 SGB V.
Nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Abgrenzung von Heil- und Hilfsmitteln (Beschluß des 3. Senats vom 16. September 1999, B 3 KR 2/99 B und Beschluß des 1. Senats vom 8. Februar 2000, B 1 KR 3/99 B; Urteil des 6. Senats vom 28. Juni 2000, B 6 KA 26/99 R) sind Heilmittel alle ärztlich verordneten Dienstleistungen, die einem Heilzweck dienen oder einen Heilerfolg sichern und nur von entsprechend ausgebildeten Personen erbracht werden dürfen. Hierzu gehören insbesondere Maßnahmen der physikalischen Therapie sowie der Sprach- und Beschäftigungstherapie. Hilfsmittel sind demgegenüber alle ärztlich verordneten Sachen, die den Erfolg der Heilbehandlung sichern oder die Folgen von Gesundheitsschäden mildern oder ausgleichen. Dazu gehören insbesondere Körperersatzstücke und typische orthopädische Hilfsmittel, aber auch Geräte, die den Erfolg einer Heilbehandlung bei Anwendung durch den Versicherten selbst sicherstellen sollen. Der erkennende Senat hat unter Hinweis auf diese Abgrenzung zuletzt ein vom Versicherten selbst im häuslichen Bereich einzusetzendes Magnetfeldtherapiegerät als Hilfsmittel iS von § 33 Abs 1 SGB V angesehen (Urteil vom 31. August 2000, B 3 KR 21/99 R, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Die Beklagte wäre danach verpflichtet gewesen, den Kläger mit einem Therapie-Dreirad zu versorgen, wenn das vom Kläger begehrte Gerät erforderlich war, um die von der behandelnden Augenärztin sowie von den im gerichtlichen Verfahren gehörten Sachverständigen beschriebenen therapeutischen Ziele zu erreichen. Das LSG hat hierzu, ausgehend von seinem abweichenden rechtlichen Ausgangspunkt, keine Feststellungen getroffen. Es hat zwar ein weiteres Sachverständigengutachten von Prof. Dr. N. eingeholt, nachdem das im erstinstanzlichen Verfahren von Prof. Dr. B. eingeholte Sachverständigengutachten bereits im ersten Rechtszug von der Beklagten angegriffen worden war, obwohl es nach der dem angefochtenen Urteil zugrunde gelegten Rechtsauffassung auf die das Klagebegehren stützenden sachverständigen Äußerungen nicht ankam.
Sollte die nunmehr nachzuholende Würdigung der eingeholten Sachverständigengutachten, die das Revisionsgericht nicht vornehmen kann, ergeben, daß zur Erreichung der angestrebten therapeutischen Wirkungen aus medizinischer Sicht eine kostengünstigere Alternative nicht zur Verfügung gestanden hat, so ist die Leistungspflicht der Beklagten selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn der Kläger mit Hilfe des Dreirades, wie die Beklagte unter Hinweis auf das Urteil des erkennenden Senats vom 16. September 1999 (B 3 KR 8/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 31) annimmt, nur „therapeutische Nebeneffekte” erzielen könnte. Für diesen Einwand ist kein Raum, wenn ein vergleichbarer therapeutischer Erfolg weder durch ärztliche oder krankengymnastische Behandlungsmaßnahmen, noch durch ein anderes, unter Umständen als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehendes Gerät günstiger zu erreichen ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen
FEVS 2001, 481 |
NZS 2001, 532 |
SozR 3-2500 § 33, Nr. 39 |
SozSi 2002, 324 |