Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall und Verletztenrente. Anerkennung unter Geltung der RVO. Wegeunfall. Verkehrsunfall. Aufenthalt an der Unfallstelle. Weg von dem Ort der Tätigkeit. Rechtswidrigkeit eines späteren Abschmelzbescheids. Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Anerkennungsbescheide. Beurteilung nach damaligem Unfallversicherungsrecht. keine Berücksichtigung einer nachträglichen Rechtsprechungsänderung zum Nachteil der Berechtigten. Erhöhung der Verletztenrente bei Verschlimmerung der Gesundheitsschäden. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
Sind ein Arbeitsunfall sowie ein Anspruch auf Verletztenrente vor dem Inkrafttreten des SGB VII bestandskräftig anerkannt worden, so kann bei einer Verschlimmerung der Unfallfolgen keine sog Abschmelzung der Rentenleistung erfolgen, wenn die Anerkennung des Arbeitsunfalls und die Rentengewährung zum damaligen Zeitpunkt entsprechend den geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (juris: RVO) zu Recht erfolgt waren.
Orientierungssatz
1. Die Rücknahme- und Aufhebungstatbestände der §§ 45 und 48 SGB 10 sehen eine Berücksichtigung späterer und für die Betroffenen nachteiliger Rechtsprechung (hier: BSG vom 17.2.2009 - B 2 U 26/07 R = SozR 4-2700 § 8 Nr 32 zum Wegeunfall bei Regulierungsgesprächen nach einem Verkehrsunfall) nicht vor.
2. Zum Anspruch auf Erhöhung der Verletztenrente bei wesentlicher Verschlimmerung der Gesundheitsschäden.
Normenkette
SGB X §§ 45, 48 Abs. 3, 2, 1 S. 1, § 44 Abs. 1 S. 1; RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1, § 548 Abs. 1 S. 1, § 550 Abs. 1, § 581; SGB VII § 8 Abs. 2 Nr. 1, § 73 Abs. 3, §§ 212, 214 Abs. 3 S. 2; UVEG Art. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. Januar 2021 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Oktober 2019 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte verurteilt wird, unter Abänderung des Bescheides vom 19. September 1985 Verletztenrente ab dem 1. Dezember 2015 nach einer MdE von 30 vH zu zahlen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungs- und Revisionsverfahren.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte zu Unrecht 1984 einen Arbeitsunfall anerkannt und eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH bewilligt hat und deshalb der Klägerin trotz einer MdE von nunmehr 30 vH keine höhere Verletztenrente gewähren muss.
Die 1965 geborene Klägerin war in einem Krankenhaus beschäftigt. Am 23.12.1983 verunglückte sie auf dem Heimweg von ihrer Arbeitsstätte. Sie hielt mit ihrem PKW an einer Ampel, als der PKW hinter ihr von einem weiteren Fahrzeug auf ihr Auto geschoben wurde. Während eines Gesprächs mit hinzugerufenen Polizeibeamten stand die Klägerin zwischen ihrem und dem dahinterstehenden PKW, als wieder ein Fahrzeug in die Unfallstelle fuhr und die Fahrzeuge erneut zusammenschob. Hierbei wurde die Klägerin am linken Sprunggelenk verletzt. Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 20.9.1984 einen Arbeitsunfall an und bewilligte mit diesem Bescheid sowie dem Bescheid vom 19.9.1985 eine Verletztenrente nach einer MdE von zuletzt 20 vH.
Aufgrund der Verschlimmerung der Unfallfolgen durch eine Verminderung der Bewegungsfähigkeit des linken oberen Sprunggelenkes wegen einer hinzugetretenen Einsteifung des unteren Sprunggelenkes betrug die MdE ab November 2015 30 vH. Den entsprechenden Antrag der Klägerin auf Erhöhung der Verletztenrente lehnte die Beklagte ab und stellte fest, dass die Bescheide vom 20.9.1984 und 19.9.1985 rechtswidrig gewesen seien, weil die Anerkennung eines Arbeitsunfalls hätte abgelehnt werden müssen. Da diese Bescheide wegen Zeitablaufs nicht zurückgenommen werden könnten, verbleibe es jedoch bei der Verletztenrente in der zuletzt festgestellten Höhe. Eine Erhöhung sei auch künftig ausgeschlossen (Bescheid vom 23.11.2016 und Widerspruchsbescheid vom 3.3.2017).
Das SG hat die Beklagte verurteilt, die Verletztenrente ab dem 1.12.2015 nach einer MdE von 30 vH zu zahlen. Der Unfall am 23.12.1983 sei ein Arbeitsunfall gewesen, weil das Warten am Unfallort in einem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe. Ein den Versicherungsschutz ausschließendes eigenwirtschaftliches, übliches Regulierungsgespräch habe nicht vorgelegen. Mangels Rechtswidrigkeit des ursprünglichen, begünstigenden Bescheides vom 20.9.1984 sei ein sog Einfrieren oder Abschmelzen der Rentenleistung rechtswidrig. Die Klägerin habe aufgrund der seit November 2015 nachgewiesenen Verschlimmerung der Unfallfolgen ab dem 1.12.2015 einen Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH (Urteil des SG vom 25.10.2019).
Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Ein versicherter Wegeunfall scheide wegen einer nicht nur geringfügigen Unterbrechung des versicherten Weges aus. Es sei auch nicht erkennbar, dass der Versicherungsschutz wegen eines inneren Zusammenhangs des Wartens nach dem ersten Auffahrunfall mit der versicherten Tätigkeit ausnahmsweise fortbestanden habe. Übliche Regulierungsgespräche nach einem Verkehrsunfall sowie Maßnahmen der Spurensicherung ständen nicht in einem inneren Zusammenhang mit dem Zurücklegen des versicherten Weges, wie das BSG in seinem Urteil vom 17.2.2009 - B 2 U 26/07 R - entschieden habe (Urteil des LSG vom 13.1.2021).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII. Zutreffend habe das SG entschieden, dass nach § 550 Abs 1 RVO auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit als Arbeitsunfall gelte. Das Warten am Unfallort habe in einem sachlichen Zusammenhang mit dem versicherten Zurücklegen des Heimweges gestanden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. Januar 2021 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Oktober 2019 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Zu Unrecht hat das LSG auf die Berufung der Beklagten das zusprechende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 23.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2017 ist rechtswidrig. Die Feststellung des Ereignisses vom 23.12.1983 als Arbeitsunfall und die Bewilligung einer Verletztenrente in den Bescheiden vom 20.9.1984 und 19.9.1985 war zu Recht erfolgt, so dass die der Klägerin zustehende Verletztenrente nicht von weiteren Anpassungen auszunehmen war. Aufgrund der Verschlimmerung der Unfallfolgen besteht auch ein Anspruch der Klägerin auf Abänderung des Bescheides vom 19.9.1985 und Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH ab dem 1.12.2015.
1. Im Revisionsverfahren ist über die bereits vor dem SG zulässig erhobene kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage zu entscheiden, mit der die Klägerin die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 23.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2017, die Verpflichtung der Beklagten zur Abänderung des Bescheides vom 19.9.1985 und die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH ab dem 1.12.2015 verfolgt (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG; vgl BSG Urteile vom 8.12.2021 - B 2 U 10/20 R - BSGE 133, 163 = SozR 4-2700 § 56 Nr 5, RdNr 11 und vom 26.10.2017 - B 2 U 6/16 R - SozR 4-2200 § 547 Nr 1 RdNr 10, jeweils mwN). Denn mit dem Bescheid vom 23.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2017 hat die Beklagte zum einen festgestellt, dass mit den Bescheiden vom 20.9.1984 und 19.9.1985 zu Unrecht ein Arbeitsunfall sowie ein Rentenanspruch anerkannt worden ist und dass deshalb in Zukunft über den Betrag von 263,54 Euro hinausgehende Renten nicht zu zahlen sind (sog Einfrieren bzw Abschmelzung der Leistung; vgl hierzu auch BSG Urteil vom 8.12.2021 - B 2 U 10/20 R - BSGE 133, 163 = SozR 4-2700 § 56 Nr 5, RdNr 19 ff). Zum anderen hat es die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden abgelehnt, unter Abänderung des Bescheides vom 19.9.1985 wegen einer mit der Verschlimmerung der Unfallfolgen einhergehenden höheren MdE eine höhere Verletztenrente zu zahlen.
Dass die Klägerin vorinstanzlich nicht ausdrücklich die Verpflichtung der Beklagten zur Abänderung des eine Verletztenrente von lediglich 20 vH bewilligenden Bescheides vom 19.9.1985 beantragt hat, steht der Entscheidung über die Verpflichtungsklage nicht entgegen. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die von der Klägerin erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was der Klägerin aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht. Die Auslegung ist unter Berücksichtigung aller Umstände auch vom Revisionsgericht vorzunehmen, ohne an die von den Tatsachengerichten vorgenommene Auslegung gebunden zu sein (vgl BSG Urteil vom 14.6.2018 - B 9 SB 2/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 4 RdNr 12 mwN). Hier ergibt die Auslegung, dass die Klägerin von Anfang an auch die Abänderung des Bescheides vom 19.9.1985 hinsichtlich der Höhe der Verletztenrente begehrt hat, um eine höhere Verletztenrente wegen einer Erhöhung der MdE zu erhalten.
2. Die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage ist begründet. Zu Recht hat das SG den angefochtenen Bescheid vom 23.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2017 aufgehoben, denn er ist rechtswidrig (dazu unter a). Zutreffend hat das SG auch entschieden, dass die Beklagte der Klägerin eine höhere Verletztenrente ab dem 1.12.2015 nach einer MdE von 30 vH zu zahlen hat; insoweit war der Bescheid vom 19.9.1985 abzuändern (dazu unter b).
a) Die Feststellungen der Beklagten, dass durch die Bescheide vom 20.9.1984 und 19.9.1985 zu Unrecht ein Arbeitsunfall anerkannt sowie eine Verletztenrente bewilligt worden ist und deshalb in Zukunft keine höheren Rentenleistungen zu zahlen sind, sind rechtswidrig. Die Voraussetzungen für diese Feststellungen gemäß § 48 Abs 3 iVm § 45 SGB X lagen nicht vor.
aa) Ein ursprünglich rechtwidriger, zugunsten des Versicherten ergangener Bescheid kann nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X zum Nachteil des Betroffenen abgeändert werden. Der Bestandsschutz, den § 45 SGB X gewährt, besteht hinsichtlich einer zu Unrecht zu hoch, aber bestandskräftig festgestellten Leistung, wenn ein Versicherungsfall zu Unrecht anerkannt wurde, und hinsichtlich zu Unrecht anerkannter Folgen sowie dem Hinzutreten weiterer Gesundheitsschäden (vgl dazu ausführlich BSG Urteil vom 8.12.2021 - B 2 U 10/20 R - BSGE 133, 163 = SozR 4-2700 § 56 Nr 5, RdNr 22 mwN). Ist eine Rücknahme gemäß § 45 SGB X insbesondere wegen Versäumung der dortigen Fristen nicht möglich, kann unter den Voraussetzungen des § 48 Abs 3 SGB X eine sog Abschmelzung bzw ein Einfrieren der bewilligten Leistung erfolgen, wenn eine wesentliche Änderung zugunsten des Betroffenen eingetreten ist. Dann darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, der sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft der zu hoch festgestellten Leistung ergibt. Voraussetzung für eine solche Abschmelzung der rechtswidrig zu hoch festgestellten Leistung ist, dass durch die Verwaltung die Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Bewilligung der Leistung gegenüber dem Betroffenen festgestellt wird (vgl BSG Urteil vom 8.12.2021 - B 2 U 10/20 R - BSGE 133, 163 = SozR 4-2700 § 56 Nr 5, RdNr 21 f mwN). Die Feststellung der Rechtswidrigkeit des nicht mehr zurücknehmbaren Ausgangsverwaltungsaktes ist ein eigenständig anfechtbarer Verwaltungsakt, der als eigenständige Regelung iS des § 31 SGB X zur frühzeitigen Klärung des Sozialrechtsverhältnisses selbstständig und zeitlich vor dem Ausspruch des sog Einfrierens bzw Abschmelzens getroffen werden kann (vgl BSG Urteil vom 7.5.2013 - B 1 KR 5/12 R - SozR 4-2500 § 55 Nr 2 RdNr 26 mwN). Eine solche Regelung hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid zwar getroffen; hierfür lagen die Voraussetzungen jedoch nicht vor, denn die bestandskräftigen Bescheide vom 20.9.1984 und 19.9.1985 waren nicht rechtswidrig.
bb) Rechtswidrig ist ein Bescheid, wenn bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist (vgl § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X). Dabei ist die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X anzunehmen, wenn der ursprüngliche Bescheid aus damaliger Sicht so nicht hätte ergehen dürfen (vgl BSG Urteil vom 20.3.2007 - B 2 U 27/06 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 5 RdNr 11). Maßgebend sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt seines Erlasses (BSG Urteil vom 2.11.1999 - B 2 U 47/98 R - SozR 3-1300 § 48 Nr 67 S 154 = juris RdNr 15). Danach waren die bestandskräftigen Bescheide vom 20.9.1984 und 19.9.1985 nicht rechtswidrig.
Die Feststellung des Ereignisses vom 23.12.1983 als Arbeitsunfall war rechtmäßig. Ob ein Arbeitsunfall festzustellen war, richtete sich hier nach den Vorschriften der RVO, denn diese sind erst später durch die Regelungen des SGB VII aufgrund des Artikels 1 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch(Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz ≪UVEG≫ vom 7.8.1996, BGBl I 1254) abgelöst worden. Hier war das als Arbeitsunfall in Betracht kommende Ereignis am 23.12.1983 vor der Verabschiedung dieses Gesetzes eingetreten. Im Übrigen ist auch nach § 212 SGB VII das SGB VII grundsätzlich erst anwendbar auf Versicherungsfälle, die nach dem Inkrafttreten des SGB VII, dh nach dem 1.1.1997, eingetreten sind. Der Ausnahmefall gemäß § 214 Abs 3 SGB VII, wonach die Vorschriften des SGB VII über Renten auch für Versicherungsfälle vor dem 1.1.1997 gelten, wenn die Rentenleistungen nach dem 1.1.1997 erstmals festzusetzen sind, liegt hier nicht vor.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO(idF des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung - Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz ≪UVNG≫ vom 30.4.1963, BGBl I 241) ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs 1 RVO(idF des 17. Rentenanpassungsgesetzes ≪17. RAG≫ vom 1.4.1974, BGBl I 821) auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.
Ein Arbeitsunfall setzt voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb "Versicherter" ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität; stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 26.11.2019 - B 2 U 3/18 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 53 RdNr 16 mwN). Danach erlitt die Klägerin am 23.12.1983 einen Arbeitsunfall.
Als Versicherungstatbestand kommt hier allein § 539 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 550 Abs 1 RVO in Betracht. Den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die Voraussetzungen eines anderen Versicherungstatbestandes, ggf nach § 539 Abs 1 Nr 13 Alt 2 RVO oder § 555 Abs 1 Abs 1 Alt 2 RVO, erfüllt gewesen sein könnten. Die Klägerin war in ihrer Tätigkeit in einem Krankenhaus als Beschäftigte nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO idF des UVNG versichert. Sie legte am 23.12.1983 auch einen unter Versicherungsschutz stehenden Weg iS des § 550 Abs 1 RVO zurück. Auf dieser Wegstrecke erlitt sie am 23.12.1983 einen Unfall. Unfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein von außen einwirkendes körperlich schädigendes und zeitlich begrenztes Ereignis (vgl BSG Urteil vom 26.11.2019 - B 2 U 3/18 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 53 RdNr 16 mwN; nunmehr § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII). Dieses erlitt die Klägerin, als sie nach dem ersten Auffahren eines PKWs während des Wartens hinter ihrem Fahrzeug durch den zweiten Auffahrunfall zwischen zwei Fahrzeugen eingeklemmt wurde; hierdurch zog sie sich eine Sprunggelenksverletzung und damit einen Gesundheitsschaden zu.
Der Unfall der Klägerin wurde durch eine versicherte Verrichtung verursacht. Die Klägerin hatte einen versicherten Weg iS des § 550 Abs 1 RVO angetreten, als sie von ihrer Arbeitsstätte nach Hause fuhr. Ihr Warten nach dem ersten Auffahrunfall hinter ihrem Fahrzeug stand in einem sachlichen Zusammenhang mit dem versicherten Zurücklegen dieses Weges vom Ort ihrer versicherten Tätigkeit im Krankenhaus.
Die in § 550 Abs 1 RVO gebrauchte Formulierung "auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg" kennzeichnet den sachlichen Zusammenhang des unfallbringenden Weges mit der eigentlichen versicherten Tätigkeit. Dieser besteht, wenn der Weg wesentlich zu dem Zweck zurückgelegt wird, den Ort der Tätigkeit oder nach deren Beendigung im typischen Fall die eigene Wohnung zu erreichen. Die darauf gerichtete Handlungstendenz muss durch die objektiven Umstände bestätigt werden. Da der Gesetzgeber die Grundentscheidung Versicherungsschutz "auf einem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit" in § 550 Abs 1 RVO getroffen hat, ist von der Rechtsprechung nur zu klären, ob der Versicherte, als er verunglückte, einen solchen versicherten Weg zurückgelegt und infolgedessen einen Gesundheitsschaden erlitten hat. Maßgebendes Kriterium hierfür ist, ob die anhand objektiver Umstände zu beurteilende Handlungstendenz des Versicherten beim Zurücklegen des Weges darauf gerichtet war, die Haupttätigkeit aufzunehmen oder nach deren Beendigung in seinen Privatbereich zurückzukehren; denn nur dann hängt sein Handeln mit der versicherten betrieblichen Tätigkeit zusammen. Fehlt es an diesem Zusammenhang, ist das Zurücklegen des Weges auch dann keine versicherte Tätigkeit, wenn der Versicherte dieselbe Strecke zurücklegt, die er als Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gewöhnlich benutzt (vgl BSG Urteil vom 2.12.2008 - B 2 U 26/06 R - BSGE 102, 111 = SozR 4-2700 § 8 Nr 29, RdNr 22 mwN).
Danach stand die Klägerin unter Versicherungsschutz, solange sie sich am Unfalltag mit ihrem Fahrzeug von ihrer Arbeitsstätte aus auf ihre Wohnung zubewegte. Dieser Versicherungsschutz bestand auch nach dem Aussteigen aufgrund des ersten Auffahrunfalls während des Wartens hinter ihrem PKW fort. Der Unfallversicherungsschutz der Wegeunfallversicherung der RVO beruht auf § 550 Abs 1 RVO, dessen Wortlaut ebenso wie der der Vorgängervorschrift des § 543 RVO weit gefasst ist. Danach sind "Wege" nach und von dem Ort der Tätigkeit versichert. Der enger formulierte, nun seit dem 1.1.1997 geltende § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII schützt hingegen das Zurücklegen des "unmittelbaren Weges" nach und von dem Ort der Tätigkeit (vgl hierzu BSG Urteil vom 30.1.2020 - B 2 U 9/18 R - BSGE 130, 17 = SozR 4-2700 § 8 Nr 72, RdNr 15). Nach § 550 Abs 1 RVO war der Versicherte auf dem Weg vom oder zum Ort der Tätigkeit in einem größeren Umfang geschützt. Diesen weitgehenden Versicherungsschutz im Rahmen der Wegeunfallversicherung nach § 550 Abs 1 RVO berücksichtigte auch die Rechtsprechung des BSG zur Unterbrechung des versicherten Weges. Danach begann die Unterbrechung des versicherungsrechtlich geschützten Weges erst dann, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hatte. Erst wenn der innere oder sachliche Zusammenhang des begonnenen und nach § 550 Abs 1 RVO geschützten Weges völlig aufgehoben und durch eine andere Handlungstendenz des Versicherten ersetzt wurde, entfiel der Versicherungsschutz. Wenn jedoch der bisher zurückgelegte Weg als Annäherung an das Ziel im Ergebnis erhalten geblieben war, wurde der innere Zusammenhang und das Fortbestehen des Versicherungsschutzes bejaht (vgl dazu BSG Urteil vom 2.7.1996 - 2 RU 16/95 - SozR 3-2200 § 550 Nr 14 S 52 = juris RdNr 20 mwN; vgl auch BSG Urteile vom 27.3.1990 - 2 RU 36/89 - SozR 3-2200 § 550 Nr 1, vom 19.10.1982 - 2 RU 24/81 - SozR 2200 § 550 Nr 53, vom 23.3.1972 - 2 RU 46/70 - SozR Nr 16 zu § 550 RVO und vom 28.2.1962 - 2 RU 178/60 - BSGE 16, 245 = SozR Nr 36 zu § 543 RVO). Nach diesen Maßstäben ist die Beklagte zu Recht von einem sachlichen Zusammenhang des Aufenthalts der Klägerin hinter ihrem Fahrzeug zum Zeitpunkt des zweiten Auffahrunfalls mit dem gemäß § 550 Abs 1 RVO versichertem Zurücklegen des Heimweges ausgegangen. Die Klägerin war durch die Auffahrunfälle zwar gehindert, sich weiter in Richtung auf ihr Zuhause fortzubewegen, hatte jedoch die zurückzulegende Wegstrecke nicht verlassen. Anhaltspunkte dafür, dass sich nunmehr ihre Handlungstendenz geändert und nicht mehr auf das Erreichen dieses Ziels gerichtet war, sind nicht ersichtlich. Die Beklagte hatte nach den zum Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide vom 20.9.1984 und 19.9.1985 geltenden Recht damit zutreffend einen versicherten Wegeunfall der Klägerin anerkannt.
Dem steht das Senatsurteil vom 17.2.2009 (B 2 U 26/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 32) nicht entgegen. Zwar hat der Senat hierin ausgeführt, Regulierungsgespräche nach einem Verkehrsunfall stünden nicht im sachlichen Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Weges von dem Ort der Tätigkeit. Diese Entscheidung erging jedoch zu dem nach seinem Wortlaut enger gefassten § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII. Darüber hinaus steht der Übertragung der neueren Rechtsprechung auf Altfälle wie dem vorliegenden Versicherungsfall bei der Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X der Rechtsgedanke des § 48 Abs 2 SGB X entgegen. Die Rücknahme- und Aufhebungstatbestände der §§ 45 und 48 SGB X sehen eine Berücksichtigung späterer und für den Betroffenen nachteiliger Rechtsprechung nicht vor. So soll mit § 48 Abs 2 SGB X lediglich die Korrektur einer Entscheidung für die Zukunft ermöglicht werden, sofern die höchstrichterliche Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt. Aus den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass nachteilige Auswirkungen auf den Begünstigten durch eine geänderte höchstrichterliche Rechtsprechung gerade vermieden werden sollen (vgl BT-Drucks 8/4022 S 30 und S 83 zu § 46 Abs 1 Satz 2 bzw Abs 1a des Entwurfs zum SGB X; vgl auch BT-Drucks 8/2034 S 15, 35, 50, 62 zu § 46 Abs 1 Satz 2 des Entwurfs). Dem widerspräche jedoch die der Klägerin nachteilige Übertragung der späteren Rechtsprechung des Senats auf den im Jahr 1984 als Arbeitsunfall anerkannten Versicherungsfall aus dem Jahr 1983.
cc) Der Bescheid der Beklagten vom 23.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2017 ist damit rechtswidrig, soweit darin die Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Bescheide der Beklagten vom 20.9.1984 und 19.9.1985 festgestellt wurde. Er ist auch rechtswidrig, soweit die Beklagte mit ihm das sog Einfrieren der bisher gewährten Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH auf den bisherigen Zahlbetrag festgestellt hat.
b) Der angefochtene Bescheid vom 23.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2017 ist auch insoweit rechtswidrig, als es die Beklagte ablehnte, der Klägerin unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 19.9.1985 ab dem 1.12.2015 eine höhere Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH statt bisher 20 vH zu zahlen. Zu Recht hat das SG die Beklagte daher zur Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH ab dem 1.12.2015 verurteilt. Die Klägerin hat seit dem 1.12.2015 einen Anspruch auf Gewährung einer höheren Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH, weil eine wesentliche Änderung in den durch den Arbeitsunfall bedingten Gesundheitsschäden und damit verbundenen Funktionseinbußen sowie der dadurch bedingten MdE eingetreten ist.
Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X). Bei Renten der gesetzlichen Unfallversicherung ist eine Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X hinsichtlich der Höhe der MdE nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 vH beträgt. Dies folgt aus § 73 Abs 3 SGB VII, dessen Reglungswirkung nach der Ausnahmevorschrift des § 214 Abs 3 Satz 2 SGB VII auch für Versicherungsfälle gilt, die - wie hier - vor dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII eingetreten sind (vgl zu den Voraussetzungen des § 48 Abs 1 SGB X BSG Urteil vom 8.12.2021 - B 2 U 10/20 R - BSGE 133, 163 = SozR 4-2700 § 56 Nr 5, RdNr 15 ff). Hier war eine rechtlich wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten.
Seit Erlass des Bescheides der Beklagten vom 19.9.1985 hatten sich die anerkannten Gesundheitsschäden verschlimmert und jedenfalls seit November 2015 eine MdE von nunmehr 30 vH bedingt. Mangels zulässiger und begründeter Verfahrensrügen hat das LSG für den Senat gemäß § 163 SGG bindend festgestellt, dass in den durch den Arbeitsunfall bedingten Gesundheitsschäden, die zum Zeitpunkt des Erlasses des hier maßgebenden Bescheides vom 19.9.1985 bestanden, verglichen mit denjenigen, die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung vorgelegen hatten, eine tatsächliche Änderung eingetreten ist. Es hat festgestellt, dass sich die Funktionseinschränkungen des oberen Sprunggelenkes durch die zusätzliche Einsteifung des unteren Sprunggelenkes verstärkt hatten. Diese Funktionseinschränkungen bedingten eine um 10 vH höhere MdE von nunmehr 30 vH seit November 2015, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der von den Beteiligten nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ergibt. An diese Bemessung der MdE ist der Senat gebunden, denn die Bemessung des Grades der MdE ist eine tatsächliche Feststellung, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung trifft (vgl hierzu BSG Urteil vom 8.12.2021 - B 2 U 10/20 R - BSGE 133, 163 = SozR 4-2700 § 56 Nr 5, RdNr 16 mwN). Diese Änderung war auch rechtlich wesentlich, weil sie einen Anspruch auf eine höhere Verletztenrente begründete. Aufgrund der Verschlimmerung der Funktionseinbußen der als Unfallfolgen anerkannten Gesundheitsschäden bestand nunmehr eine MdE von 30 vH und damit gemäß § 581 Abs 1 Nr 2 RVO idF des UVNG ein Anspruch der Klägerin auf eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH spätestens seit dem 1.12.2015.
Wie oben ausgeführt stand diesem Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH unter Abänderung des Bescheides vom 19.9.1985 eine Feststellung der Beklagten gemäß § 48 Abs 3 SGB X nicht entgegen, weil diese rechtswidrig und deshalb zu Recht durch das SG aufgehoben worden ist. Da eine sog Abschmelzung nicht zu erfolgen hatte, kann offenbleiben, ob wegen der Möglichkeit einer Begrenzung des Zahlbetrags der Rente nur für die Zukunft zunächst ab 1.12.2015 die Verletztenrente nach einer MdE von 30 vH ohnehin zu zahlen war (vgl hierzu BSG Urteil vom 22.6.1988 - 9/9a RV 46/86 - BSGE 63, 266 = SozR 3642 § 9 Nr 3 = juris RdNr 23).
3. Auf die Revision der Klägerin war damit das Urteil des LSG aufzuheben, weil es der Berufung der Beklagten zu Unrecht stattgegeben hat. Der Tenor des Urteils des SG war allerdings dahin klarstellend zu ergänzen, dass die Beklagte zur entsprechenden Abänderung des ursprünglichen, eine Verletztenrente nach einer MdE von lediglich 20 vH bewilligenden Bescheides vom 19.9.1985 für die Zeit ab 1.12.2015 verpflichtet ist.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG. |
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Karmanski |
Karl |
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Zugleich für die bedingt an der Unterschrift gehinderte Richterin Hüttmann-Stoll |
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Fundstellen
NZS 2023, 822 |
SGb 2023, 368 |
Breith. 2024, 763 |