Leitsatz (amtlich)
Wird ein Beschäftigter auf dem Wege nach oder von der Arbeitsstätte infolge einer tätlichen Auseinandersetzung verletzt, die ihren unmittelbaren Ursprung in der Zurücklegung des Weges hat, so besteht in der Regel Versicherungsschutz.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. August 1962, das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 11. April 1960 und der Bescheid der Beklagten vom 14. Januar 1960 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, wegen der Gesundheitsschädigung, die der Ehemann der Klägerin am 5. Juni 1959 erlitten hat, die gesetzlichen Entschädigungsleistungen zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Ehemann der Klägerin war bei den Fahrzeugwerken Karl K GmbH in Ulm, einem Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft, beschäftigt. Den Weg nach und von seiner Arbeitsstätte pflegte er seit Jahren mit einem Omnibus des Transportunternehmens K in D./Iller zurückzulegen. Der Omnibus verkehrte werktäglich zwischen D. und Ulm; mit ihm fuhren Beschäftigte von den an der Strecke Dietenheim-Ulm gelegenen Ortschaften morgens nach Ulm und abends wieder zurück. Am 5. Juni 1959, einem Freitag, wurde der Omnibus, wie gewöhnlich, von dem 30jährigen Sohn des Unternehmers, Rudolf K, gefahren. Kurz vor der Rückfahrt aus Ulm, gegen 17 Uhr, gab K den Mitfahrenden bekannt, er wolle die Wochenkarten für die nächste Woche ausnahmsweise jetzt schon - am Freitag - ausgeben und auch das Fahrgeld kassieren, weil er an den folgenden drei Werktagen anderweitig mit dem Omnibus eingesetzt sei und sich für diese Zeit von einem anderen Transportunternehmer vertreten lasse. Am vorderen Wageneingang stehend hatte K bereits einige Karten ausgegeben, als der damals 47jährige Ehemann der Klägerin einsteigen wollte. Dieser erklärte, er wolle, wenn ein anderer in der nächsten Woche den Omnibus fahre, keine Wochenkarte lösen, sondern lieber mit seinem eigenen Wagen fahren, weil er sonst ja doch zu spät heimkomme. K fragte den Ehemann der Klägerin, ob er schon jemals zu spät gekommen sei; außerdem äußerte er erregt, er wolle keine halben Fahrgäste, die einmal mitfahren wollten und dann wieder nicht. Es entstand ein heftiger Wortwechsel zwischen den beiden; sie beschimpften sich mit Ausdrücken wie "Seckel, Idiot, Depp". Den Anfang mit der Schimpferei hatte K gemacht. Nachdem der Ehemann der Klägerin in der dritten oder vierten Reihe des Wagens Platz genommen hatte, trat für einen Augenblick eine scheinbare Beruhigung ein; dann flammte der Streit wieder auf, wobei es erneut zu gegenseitigen Beschimpfungen kam. In deren weiteren Verlauf forderte K unter Hinweis darauf, daß er im Omnibus zu bestimmen habe, den Ehemann der Klägerin zur Ruhe auf. Dieser bezeichnete K als einen "brutalen Hengst". K begab sich nun von der Tür des Fahrzeugs zum Platz des Ehemannes der Klägerin, packte ihn am Rockkragen und am Hals und zog ihn nach vorn zur Tür. Der Ehemann der Klägerin versetzte K einen Faustschlag an den Kopf, wurde aber, da er körperlich unterlegen war, rücklings zur Tür hinausgedrängt; dabei hatte er sich im Pullover K festgekrallt. Vor der Tür des Fahrzeugs kamen die Streitenden zu Fall. Als sie aufgestanden waren, verbot K dem Ehemann der Klägerin das Wiederbetreten des Fahrzeugs. Schließlich stieg dieser doch ein, nachdem er in Aussicht gestellt hatte, die Polizei herbeizuholen, wenn ihm die Benutzung des Omnibusses verwehrt werde.
Zwei Tage nach dem Vorfall begab sich der Ehemann der Klägerin in die Behandlung des praktischen Arztes Dr. K. Dieser stellte neben einem Bluterguß am rechten Oberschenkel und einem Würgemal am Hals, das wahrscheinlich vom Daumen des Angreifers herrührte, eine Lähmung der rechten Gesichtshälfte und des rechten Armes sowie Sprachstörungen fest. In dem gegen K durchgeführten Strafverfahren kam das Amtsgericht Ulm auf Grund der Bekundungen des Dr. K zu dem Ergebnis, durch die Strangulation sei bei dem Ehemann der Klägerin ein Ödem im Gehirn entstanden und dieses habe, begünstigt vor allem durch eine Gefäßerkrankung des Verletzten, zu der Lähmung geführt. Das Amtsgericht verurteilte K wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu zwei Monaten Gefängnis. Auf seine auf das Strafmaß beschränkte Berufung hin wurde anstelle einer an sich verwirkten Gefängnisstrafe von einem Monat eine Geldstrafe von 200 DM gegen ihn verhängt.
Der Ehemann der Klägerin wurde von Dr. K zur weiteren Behandlung an Dr. V überwiesen und kam dann in die Pflegeanstalt Weissenau. Nach den im Strafverfahren getroffenen Feststellungen war er jedenfalls im November 1959 noch nicht wieder voll arbeitsfähig.
Den Entschädigungsanspruch des Verletzten lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 14. Januar 1960 ab, weil er durch die Wiederaufnahme des Wortgefechts von seinem Sitzplatz aus den Zusammenhang zwischen dem Heimweg und der Betriebstätigkeit gelöst habe und somit ein Wegeunfall im Sinne des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vorliege.
Die hiergegen gerichtete Klage ist vom Sozialgericht (SG) Ulm durch Urteil vom 11. April 1960 abgewiesen worden. Über die Berufung des Verletzten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg am 26. Oktober 1960 ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden; es hat das Rechtsmittel zurückgewiesen. An demselben Tage ist der Verletzte - wie sich später herausgestellt hat - gestorben, ohne daß ihm das Urteil schon zugestellt war. Das durch den Tod des Verletzten unterbrochene Berufungsverfahren ist von seiner Witwe - der jetzigen Klägerin - als Bezugsberechtigter ( § 614 RVO ) aufgenommen worden. Durch Urteil vom 8. August 1962 hat das LSG die Berufung (erneut) zurückgewiesen. Es hat in weitgehender Übereinstimmung mit dem Strafurteil des Amtsgerichts Ulm vom 5. November 1959 den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt festgestellt und in rechtlicher Hinsicht folgendes ausgeführt: Nach der einhelligen Meinung im Schrifttum seien vorsätzliche Verletzungen durch dritte Personen, Überfälle und Raufhändel oder Schlägereien in der Regel nicht als Arbeitsunfälle zu werten. Die hiermit übereinstimmende Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gehe im wesentlichen auf die grundsätzliche Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA) Nr. 2690 ( AN 1914, 411 ) zurück. Nach den darin aufgestellten Grundsätzen für die sogenannten Unfälle des täglichen Lebens sei auf das Moment der Ursächlichkeit, nämlich der Mitwirkung des Betriebes bei der Entstehung des Unfalls, besonderer Nachdruck zu legen. Ein Betriebsunfall sei nur dann gegeben, wenn der Verletzte der Gefahr, der er erlegen sei, durch die Beschäftigung im Betriebe ausgesetzt gewesen sei. Diese Grundsätze seien auch auf Unfälle auf dem Wege nach und von der Arbeitsstätte anzuwenden. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Streitfall könne man dem Umstand, daß der Ehemann der Klägerin sich auf dem versicherten Heimweg von der Arbeitsstätte befunden habe, für das Unfallereignis nur eine geringe, jedenfalls keine wesentliche Bedeutung beimessen; es liege nur ein äußerer Zusammenhang vor. Unmittelbarer Anlaß für die Schädigung sei die vorsätzliche Körperverletzung durch K gewesen, also ein Umstand, der keine Beziehung zu der betrieblichen Tätigkeit aufweise. Die Gewaltanwendung K beruhe darauf, daß er sich subjektiv durch den Ehemann der Klägerin in seinem Hausrecht beeinträchtigt gesehen habe und diese Beeinträchtigung habe beseitigen wollen. Indem K nämlich den Ehemann der Klägerin zur Ruhe verwiesen habe, habe er sein "Hausrecht" geltend gemacht. Es habe auch kein innerer Zusammenhang bestanden mit der an sich versicherten Omnibusfahrt. Zwar seien die gegenseitigen Beschimpfungen durch die ungehobelte Art des Kraftfahrers K ausgelöst worden, der Ehemann der Klägerin sei aber nicht berechtigt gewesen, die Beleidigung zu erwidern; er habe insoweit selbst eine strafbare Handlung begangen, die für die weitere Verschärfung der Auseinandersetzung mitverantwortlich gewesen sei. Unabhängig hiervon sei aber die wörtliche Auseinandersetzung im Omnibus zur Ruhe gekommen gewesen. Für den neu auflodernden Streit, der schließlich zur Verletzung des Ehemannes der Klägerin geführt habe, sei der seinem rein persönlichen Bereich zuzurechnende Umstand von wesentlicher Bedeutung gewesen, daß er die ihm widerfahrene Kränkung nicht habe auf sich sitzen lassen wollen. Somit könne zumindest der Teil des Streits, der nach eingetretener Ruhe erneut aufgelodert sei und zu der Verletzung geführt habe, nicht mehr in einen inneren Zusammenhang mit der an sich versicherten Omnibusheimfahrt gebracht werden. Auch aus der primären Ursache der ganzen Auseinandersetzung könne ein solcher innerer Zusammenhang nicht hergeleitet werden. Der Streit habe sich daran entzündet, daß der Ehemann der Klägerin den Preis für die nächste Wochenkarte nicht oder noch nicht habe entrichten wollen. Das Beschaffen der Wochenkarte sei aber eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit. Da somit im Zeitpunkt des Unfalls der innere Zusammenhang des Weges von der Arbeitsstätte mit der Tätigkeit im Unternehmen durch das vorsätzliche, nicht betriebsbedingte Handeln eines Dritten unterbrochen gewesen sei und die schließlichen Tätlichkeiten weder in unmittelbarem noch in mittelbarem Sinne durch betriebliche Gründe oder die versicherte Heimfahrt wesentlich verursacht worden seien, habe kein versicherter Wegeunfall vorgelegen. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist zum Zwecke der Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes am 4. September 1962 an die Klägerin abgesandt worden. Diese hat am 14. September 1962 Revision eingelegt und das Rechtsmittel zugleich mit der Rüge eines Verfahrensmangels und der Verletzung materiellen Rechts begründet. Die Revision führt aus: Die Sachdarstellung des LSG, der Äußerung des Ehemannes der Klägerin "brutaler Hengst" seien anscheinend erneute gegenseitige Beschimpfungen vorausgegangen, lasse erkennen, daß das Gericht - wie das Wort "anscheinend" verrate - Zweifel bei der Feststellung des Sachverhalts gehabt habe. Unter diesen Umständen hätte es, wenn es von der Darstellung der Klägerin habe abweichen wollen, den von der Klägerin benannten, bereits im Strafverfahren vernommenen Zeugen K hören müssen. In sachlich-rechtlicher Hinsicht hätte das LSG bei richtiger Anwendung des § 543 RVO einen zur Entschädigung berechtigenden Wegeunfall annehmen müssen. Der Ehemann der Klägerin sei der von K begangenen Körperverletzung durch seine Beschäftigung bei den Fahrzeugwerken K ausgesetzt gewesen; denn die Körperverletzung habe ihren Grund darin gehabt, daß der Ehemann der Klägerin bei Beginn der Heimfahrt von der Arbeitsstätte es mit Recht abgelehnt habe, eine neue Wochenkarte zu lösen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG vom 8. August 1962 und des SG vom 11. April 1960 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14. Januar 1960 zu verurteilen, das Schadensereignis vom 5. Juni 1959 als Arbeitsunfall (Wegeunfall) anzuerkennen und im gesetzlichen Rahmen zu entschädigen.
Hilfsweise beantragt sie,
das Urteil des LSG mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus: Ein Anlaß zur nochmaligen Vernehmung des Zeugen K habe nicht bestanden; denn das LSG sei - in Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Revision - von wüsten Beschimpfungen durch König ausgegangen. Auch soweit die Revision die Feststellung des LSG angreife, daß es zu einem vorübergehenden Nachlassen in dem Wortstreit gekommen sei, lasse sich ein Mangel im Verfahren des LSG nicht begründen, weil kein Anhaltspunkt dafür bestehe, daß der Zeuge K über eine Zäsur im Geschehensablauf Bekundungen hätte machen können. - In sachlich-rechtlicher Hinsicht tritt die Beklagte dem angefochtenen Urteil bei.
Die - im erstinstanzlichen Verfahren - beigeladene Betriebskrankenkasse der Fahrzeugwerke Karl K GmbH hat im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Befugnis, in dieser Weise zu verfahren ( § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), Gebrauch gemacht.
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft ( § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG ); sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das somit zulässige Rechtsmittel hatte auch Erfolg.
Der Senat hatte vorab von Amts wegen zu prüfen, ob dem Urteil des LSG vom 8. August 1962 etwa Mängel anhaften, die ihm die Fähigkeit nehmen, Grundlage des weiteren Verfahrens, vor allem eines auf die Sache eingehenden Revisionsurteils zu sein (vgl. BSG 2, 245, 253). Dies könnte zutreffen, wenn bereits das am Todestag des Ehemannes der Klägerin zu dessen Nachteil beschlossene Urteil des LSG vom 26. Oktober 1960 das Berufungsverfahren wirksam abgeschlossen gehabt hätte und somit für die weitere Sachentscheidung vom 8. August 1962 kein Raum mehr gewesen wäre. Das Berufungsverfahren ist jedoch am 26. Oktober 1960 nur scheinbar abgeschlossen worden. Das damals gefällte Urteil hätte, da ihm eine mündliche Verhandlung nicht zugrunde gelegen hatte und somit eine Verkündung nicht in Betracht gekommen war, nur durch Zustellung existent werden können ( § 133 SGG ). Das Urteil ist aber dem damaligen Kläger nicht zugestellt worden und konnte ihm auch nicht zugestellt werden, weil er beim ersten Zustellungsversuch bereits verstorben war. Das "Urteil" vom 26. Oktober 1960 ist daher, weil es nicht allen Beteiligten zugestellt worden und somit ein bloßer Urteilsentwurf geblieben ist, als sogenanntes Scheinurteil anzusehen (vgl. RGZ 120, 245 und 123, 336; Stein/Jonas, Zivilprozeßordnung, § 310 Erl. IV, 3; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. S. 337 und 528). Das LSG hat, nachdem das Berufungsverfahren von der Witwe des früheren Klägers als Bezugsberechtigter ( § 614 RVO ) wirksam aufgenommen worden war, mit Recht am 8. August 1962 eine neue Sachentscheidung getroffen.
Die Rüge der Revision, das LSG hätte nicht sachlich entscheiden dürfen, ohne den im Strafverfahren vernommenen Zeugen K erneut gehört zu haben, ist nicht begründet. Das LSG hat die von der Klägerin im Berufungsverfahren durch den Zeugen K unter Beweis gestellte Behauptung, ihr Ehemann sei von K mit Ausdrücken wie "Idiot" schwer beschimpft worden, als erwiesen angesehen. Es ist weiter bei seiner Rechtsfindung davon ausgegangen, daß zwischen der scheinbaren Beruhigung der beiden Streitenden und dem Beginn der Tätlichkeit erneut gegenseitige Beschimpfungen stattgefunden haben; dem steht der Gebrauch des Ausdrucks "anscheinend" in den Urteilsgründen nicht entgegen. Es trifft daher nicht zu, daß das LSG es zum Nachteil der Klägerin unterlassen hätte, den Sachverhalt hinreichend aufzuklären.
Die somit nicht mit wirksamen Verfahrensrügen angegriffenen und deshalb das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG ( § 163 SGG ) müssen jedoch entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts zu einer den Entschädigungsanspruch der Klägerin rechtfertigenden sachlich-rechtlichen Beurteilung führen.
Der Ehemann der Klägerin befand sich zu der Zeit, als ihm die körperliche Schädigung zustieß, auf dem Heimweg von der Arbeitsstätte. Dieser Weg hing auch, wie die Beklagte nicht bezweifelt, mit der Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin in den Fahrzeugwerken K zusammen. Wollte man bei dieser Sachlage dem Verletzten den Versicherungsschutz versagen, so könnte dies nur mit der Begründung geschehen, daß der erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit durch die persönliche Willensentschließung, eine Streitigkeit zu beginnen oder sich in eine solche einzulassen, ausgeschlossen sei. Bei tätlichen Streitigkeiten auf der Betriebsstätte oder auf einem Betriebsweg wird jedoch der innere Zusammenhang in dem angeführten Sinne nach ständiger Rechtsprechung nicht schlechthin verneint, er wird vielmehr - offenbar auch vom Berufungsgericht - bejaht, wenn der Streit unmittelbar aus der versicherten Beschäftigung erwachsen ist, so z.B. wenn zwei Beschäftigte über die Benutzung eines ihnen gemeinsam zur Verfügung stehenden Werkzeugs in Streit geraten sind (vgl. die in dem angefochtenen Urteil angeführten Entscheidungen RVA, EuM Bd. 17, 63 und Bd. 20, 70, 72; Bayer. LVAmt, Breithaupt 1949, 499; LSG Celle in Niedersächs. MinBl. 1956, Rechtspr. Beilage S. 42; ferner Bayer. LVAmt, EuM 37, 36 ). Diese für Arbeitsunfälle nach § 542 RVO aufgestellten Grundsätze sind, wie das LSG mit Recht ausgeführt hat, auch auf Wegeunfälle im Sinne des § 543 RVO anzuwenden. Dies bedeutet einmal, daß bei einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Arbeitern, die sich auf dem gemeinsamen Heimweg von der Arbeitsstätte abgespielt hat, Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung gewährt wird, wenn betriebliche Vorgänge den wesentlichen Anlaß zum Streit und den Beweggrund für das Handeln des Täters abgegeben haben (RVA, EuM Bd. 42, 259). Darüber hinaus ist, wie auch das LSG offenbar nicht verkannt hat, Versicherungsschutz auch dann gegeben, wenn die Auseinandersetzung auf dem Wege von der Arbeitsstätte nicht aus der unmittelbaren Betriebstätigkeit, sondern aus der Zurücklegung des Weges erwachsen ist. Dies folgt notwendigerweise daraus, daß nach § 543 RVO - ebenso schon nach dem früheren § 545 a RVO , der die rechtliche Gleichstellung von Weg und Beschäftigung besonders deutlich zum Ausdruck brachte - die mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängende Zurücklegung des Weges nach und von der Arbeitsstätte jener Tätigkeit zuzurechnen ist. Anwendungsfälle für die Bejahung des Versicherungsschutzes wegen einer aus der Zurücklegung des Weges erwachsenen Tätlichkeit können sich vor allem aus der Benutzung überfüllter Verkehrsmittel ergeben, weil solche Sachverhalte oft Anlaß zu Streitereien unter den Fahrgästen bieten. So läßt sich z.B. der vom Bayerischen Landesversicherungsamt am 3. August 1949 entschiedene Fall, der eine Streitigkeit auf einer Mainfähre betraf (Breithaupt 1946-1949 S. 499), unschwer in einen Anwendungsfall des § 543 RVO abwandeln.
Daß die Streitigkeit, die zur Schädigung des Ehemannes der Klägerin geführt hat, nicht aus seiner eigentlichen Betriebstätigkeit erwachsen ist, hat das LSG richtig erkannt; dazu bedarf es keiner besonderen Begründung. Im Gegensatz zum LSG ist der erkennende Senat jedoch der Auffassung, daß die Streitigkeit ihren Ursprung unmittelbar in der Zurücklegung des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von der Arbeitsstätte gehabt hat und deshalb versicherungsrechtlich der Zurücklegung des Heimwegs zuzurechnen ist. Nach dem feststehenden Sachverhalt ging es bei dem Streit in seinem Kern nicht - wie das LSG meint - um das Besorgen einer Wochenkarte, er hatte sich vielmehr daran entzündet, daß der Ehemann der Klägerin geäußert hatte, er werde, wenn in der nächsten Woche ein Vertreter den Omnibus fahre, diesen nicht benutzen, weil dann keine Gewähr für eine rechtzeitige Heimfahrt bestehe; die dann folgenden gegenseitigen Beschimpfungen waren "durch die ungehobelte bzw. verletzende Art des Kraftfahrers K ausgelöst" worden. Der Streit resultierte also aus den voneinander abweichenden Auffassungen der Streitenden über die Zuverlässigkeit der Linienführung des Busses, den der Ehemann der Klägerin auf seinen Fahrten nach und von der Arbeitsstätte zu benutzen pflegte. Dadurch wurde ein hinreichender, rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der Zurücklegung des Weges von der Arbeitsstätte begründet. Unwesentlich für die rechtliche Beurteilung ist es, daß es - wie das LSG ausgeführt hat - zu einer Tätlichkeit nicht gekommen wäre, wenn sich der Ehemann der Klägerin, nachdem er im Wagen Platz genommen hatte, ruhig verhalten hätte. Auch für den Zeitabschnitt nach der "scheinbaren Beruhigung" der Streitenden hatte die Auseinandersetzung ihren Ursprung in der angeführten Meinungsverschiedenheit über die Zuverlässigkeit der Linienführung. Eine Zäsur in dem Geschehensablauf zu machen, ist nicht gerechtfertigt, man muß vielmehr unter den gegebenen Umständen den Wortstreit und die Tätlichkeit als Ganzes sehen. Danach hatte auch die den Ehemann der Klägerin schädigende Tätlichkeit ihren unmittelbaren Ursprung in einem Streit, der die Zurücklegung des Heimweges betraf. Dieser unmittelbare Zusammenhang wird dadurch verdeutlicht, daß der Kraftfahrer K mit seiner Tätlichkeit den Zweck verfolgte, den Ehemann der Klägerin von der Benutzung des Busses an jenem 5. Juni 1959 auszuschließen. Hiernach ist die Schädigung des Ehemannes der Klägerin wesentlich darauf zurückzuführen, daß er durch die Benutzung des von K gesteuerten Busses der Gefahr ausgesetzt worden ist, durch den gewalttätigen Kraftfahrer aus keineswegs persönlichen, sondern mit der Durchführung der Fahrt zusammenhängenden Gründen körperlich verletzt zu werden. Daß ihm die Schädigung auch ohne örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der von ihm gewählten Zurücklegung des Heimwegs wahrscheinlich zugestoßen wäre (vgl. hierzu RVA, EuM Bd. 20, 72 und BSG 17 Nr. 19), hat das LSG nicht festgestellt, offenbar auch nicht feststellen können.
Ob der vom erkennenden Senat bejahte innere Zusammenhang zwischen der Schädigung und der Zurücklegung des Weges von der Arbeitsstätte zu verneinen wäre, wenn der Ehemann der Klägerin in Worten und Handlungen nicht nur auf das Verhalten des Kraftfahrers reagiert hätte, sondern ungleich aktiver gewesen wäre als dieser, brauchte nicht entschieden zu werden, weil es nach dem festgestellten Sachverhalt gerade umgekehrt war.
Der Unfall, der den Ehemann der Klägerin am 5. Juni 1959 betroffen hat, war somit ein Wegeunfall im Sinne des § 543 RVO . Obwohl nicht eindeutig feststeht, daß und - gegebenenfalls - welche Entschädigungsansprüche im einzelnen hieraus für den Verletzten erwachsen sind, konnte der Senat die Entschädigungspflicht der Beklagten dem Grunde nach feststellen ( § 130 SGG ). Es genügt, daß nach der Art der feststehenden Verletzungen und der Dauer der Erwerbsunfähigkeit des Ehemannes der Klägerin mit begründeter Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf eine der in § 558 RVO angeführten Leistungen wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist (vgl. BSG SozR SGG § 130 Bl. Da 4 Nr. 4).
Hiernach war unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und des ablehnenden Bescheides der Beklagten wie geschehen zu erkennen.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 SGG .
Fundstellen
BSGE, 106 |
BSGE, 18, 106 (Leitsatz 1 und Gründe) |
NJW 1963, 927 |
NJW, 927 (Leitsatz 1 und Gründe) |
RegNr, 1753 |
BG, 253 (Leitsatz 1 und Gründe) |
AP, (Leitsatz 1 und Gründe) |
SozR, Nr 39 zu § 543 aF RVO (Leitsatz 1 und Gründe) |
Breithaupt, 499 (Leitsatz 1 und Gründe) |