Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufstockung der Verletztenrente
Orientierungssatz
RVO § 587 erfordert in der seit dem 1.1.1982 geltenden Fassung mit dem auf zwei jahre begrenzten Erhöhungsanspruch nicht mehr die Prognose einer Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß "in absehbarer Zeit".
Normenkette
RVO § 587 Abs 1 S 1 Fassung: 1981-12-21
Verfahrensgang
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 04.07.1988; Aktenzeichen S 10 U 151/87) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Erhöhung der Verletztenrente nach § 587 Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der im Jahre 1939 geborene Kläger hatte das Tischler-Handwerk erlernt. Nachdem er in den ersten vier Monaten des Jahres 1984 arbeitslos war, erhielt er einen neuen Arbeitsplatz als Tischler bei einem Unternehmen für Fenster- und Innenausbau. Dort erlitt er am 5. September 1984 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine Sägeschnittverletzung der Finger 3, 4 und 5 an der rechten Hand zuzog. Die Beklagte gewährte ihm wegen der Unfallfolgen vom 22. Juli 1985 ab eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH als vorläufige Rente, die sie mit Ablauf des Monats August 1986 wieder entzog, weil die Unfallfolgen die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht mehr in rentenberechtigendem Grade minderten. Wegen der Unfallfolgen hatte der Arbeitgeber dem Kläger im Oktober 1984 gekündigt. Seitdem war der Kläger ohne Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen. Er hatte sich seit dem 29. Juli 1985 beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet, aber die Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamts hatten vor allem wegen der Arbeitsmarktlage und der gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers keinen Erfolg.
Den Antrag des Klägers, die ihm gewährte Verletztenrente nach § 587 RVO zu erhöhen, lehnte die Beklagte ab, weil vom Beginn der Verletztenrente an nicht die Aussicht bestanden habe, daß der Kläger in absehbarer Zeit wieder erwerbstätig sein werde (Bescheid vom 9. Juni 1987). Dagegen hat das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen die Beklagte verurteilt, die dem Kläger gewährte Verletztenrente gemäß § 587 RVO zu erhöhen (Urteil vom 4. Juli 1988): Die Unfallfolgen seien die wesentliche Ursache der Arbeitslosigkeit des Klägers. Der Kläger sei arbeitswillig und stehe der Arbeitsvermittlung zur Verfügung. Auch die übrigen Voraussetzungen des § 587 RVO seien erfüllt. Seit der ab 1. Januar 1982 geltenden Neufassung der Vorschrift mit dem auf zwei Jahre begrenzten Erhöhungsanspruch sei die frühere Rechtsprechung zu § 587 RVO überholt. Die Aussicht, daß der Verletzte in absehbarer Zeit (zwei Jahre) wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde, sei nicht mehr Anspruchsvoraussetzung.
Mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision, der der Kläger schriftlich zugestimmt hat, rügt die Beklagte die Verletzung des § 587 RVO. Die Neufassung dieser Vorschrift habe nichts an der Anspruchsvoraussetzung geändert, daß die Aussicht bestehen müsse, der Verletzte werde in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das folge aus dem Schweigen des Gesetzgebers zu dieser ihm bekannten höchstrichterlichen Rechtsprechung. Diese Anspruchsvoraussetzung werde von dem Kläger nicht erfüllt.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist nicht begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, die dem Kläger gewährte Verletztenrente nach § 587 RVO nF zu erhöhen. Das hat das SG zutreffend erkannt.
Nach § 587 Abs 1 Satz 1 RVO idF des Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetzes vom 22. Dezember 1981 (BGBl I 1497) hat, wenn der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen ist und die Rente und das Arbeitslosengeld oder die Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe zusammen nicht den sich aus § 568 Abs 2 RVO ergebenden Betrag des Übergangsgeldes erreichen, der Träger der Unfallversicherung die Rente längstens für zwei Jahre nach ihrem Beginn um den Unterschiedsbetrag zu erhöhen. Diese Voraussetzungen für den Anspruch auf Aufstockung der Verletztenrente hat das SG zutreffend bejaht.
Nach den bindenden Feststellungen des SG (§§ 163, 161 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) bezog der Kläger wegen der Arbeitsunfallfolgen für die Zeit vom 22. Juli 1985 bis zum 31. August 1986 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH. Er war in dieser Zeit auch infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen. Der Arbeitsunfall war dafür die wesentliche Ursache iS der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm (vgl BSG SozR 2200 § 587 Nr 2). Wegen der Unfallfolgen hatte der Arbeitgeber dem Kläger gekündigt und wesentlich mitbedingt durch die Unfallfolgen fand der Kläger keinen neuen Arbeitsplatz. Demgegenüber war der Kläger trotzdem nicht endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, sondern in dieser Zeit arbeitswillig und stand der Arbeitsvermittlung zur Verfügung (s § 103 Arbeitsförderungsgesetz).
Auch die übrigen Voraussetzungen des § 587 RVO nF liegen vor, wie das SG zu Recht erkannt hat.
Der Senat vermag der Beklagten nicht zu folgen, soweit sie unter Hinweis auf § 587 in der bis zum 31. Dezember 1981 geltenden Fassung (§ 587 aF) und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Auffassung vertritt, daß der Anspruch nach § 587 RVO auf den Aufstockungsbetrag nur dann begründet sei, wenn auch die Aussicht bestehe, daß der Verletzte in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde. Diese Rechtsmeinung hat der Senat in seinem in derselben Sitzung vom 31. Januar 1989 erlassenen Urteil - 2 RU 63/87 -, das zur Veröffentlichung bestimmt ist, mit ausführlicher Begründung und weiteren Nachweisen abgelehnt. Im einzelnen wird darauf verwiesen.
Nach § 587 Abs 1 RVO aF hatte der Träger der Unfallversicherung die Teilrente auf die Vollrente zu erhöhen, solange der Versicherte infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen war. Die Rechtsprechung beschränkte die Anwendung dieser Vorschrift auf Fälle, in denen der Verletzte für eine vorübergehende Zeit unfallbedingt ohne Arbeitseinkommen war (BSGE 30, 64 ff). Die Erhöhung der Teilrente war demnach in erster Linie davon abhängig, daß der Verletzte unfallbedingt ohne Arbeitseinkommen und noch nicht endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war. § 587 RVO aF bestimmte jedoch nicht, welcher Zeitraum als nur vorübergehende Zeit anzusehen war. Diesen Zeitraum hatte die Rechtsprechung abzugrenzen. Danach war der Anspruch auf die Leistung nach § 587 Abs 1 RVO aF dann nur für eine vorübergehende Zeit gegeben, wenn nach den Umständen des Einzelfalls für den Verletzten die Aussicht bestand, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird (s BSGE 30, 64, 70).
Demgegenüber enthält die Neufassung des ab 1. Januar 1982 geltenden § 587 RVO in ihrem sachlichen Regelungsgehalt im wesentlichen zwei Änderungen.
Einmal wird der Aufstockungsbetrag dahin begrenzt, daß die Gesamtzahlung den sich aus § 568 Abs 2 RVO ergebenden Betrag des Übergangsgeldes nicht übersteigen darf; diese Voraussetzung ist hier erfüllt.
Zum anderen hat der Träger der Unfallversicherung die Rente längstens für zwei Jahre nach ihrem Beginn um den Unterschiedsbetrag zu erhöhen. Mit dieser Gesetzesänderung hat der Gesetzgeber die bisher fehlende zeitliche Begrenzung festgelegt. Er setzt allerdings weiterhin voraus, daß der an sich arbeitswillige Verletzte unfallbedingt ohne Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen ist und noch nicht endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sein darf. Indessen ist die weitere der früheren Voraussetzungen, nämlich daß der Verletzte in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde, durch die zeitliche Begrenzung des zusätzlichen Aufstockungsbetrages auf längstens zwei Jahre ersetzt worden. Mit dieser Neufassung hat der Gesetzgeber die in der Regel schwierige Prüfung der Voraussetzung "in absehbarer Zeit" mit den sich in der praktischen Anwendung ergebenden Unsicherheiten beseitigt. Das wird durch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes entgegen der Auffassung der Beklagten bestätigt. In der Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drucks 9/846 S 53) heißt es, der Grundgedanke des § 587 RVO, nämlich die Verantwortlichkeit des Unfallversicherungsträgers für den Verletzten, solle noch eine Zeitlang beibehalten und die bestehende Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Dauer der Rentenaufstockung durch eine "klare Zeitbestimmung (längstens zwei Jahre)" beseitigt werden. Wie oben dargelegt, war die bestehende Rechtsunsicherheit durch die nunmehr umstrittene, von der Rechtsprechung geschaffene Zusatzvoraussetzung entstanden, weil das Gesetz bisher keine zeitliche Begrenzung für den Erhöhungsanspruch festgelegt hatte. Die Zusatzvoraussetzung betraf indessen den Erhöhungsanspruch sowohl dem Grunde als auch der Dauer nach in gleichem Maße. Aus dem Zweck, die bestehende Rechtsunsicherheit beseitigen zu wollen, folgt daher zugleich, daß der Gesetzgeber auch die Gewährung der erhöhten Verletztenrente nicht mehr von der Unsicherheit der Feststellung der voraussichtlichen Erwerbstätigkeit in absehbarer Zeit abhängig machen, sondern sie dafür allgemein auf zwei Jahre begrenzen wollte. Für diesen Zeitraum - längstens - sollte die grundsätzliche Verantwortlichkeit des Unfallversicherungsträgers auch für die wirtschaftlichen Folgen des Arbeitsunfalls des Verletzten aufrechterhalten werden.
Die Sprungrevision der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen