Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei bewilligtem Armenrecht
Leitsatz (amtlich)
Es verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG, im Zivilprozeß einem unbemittelten Rechtsmittelkläger, der nach Bewilligung des Armenrechtes die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag (§ 234 Abs. 1 ZPO) versäumt hat, grundsätzlich keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; ZPO § 234 Abs. 1
Verfahrensgang
BGH (Beschluss vom 19.03.1965; Aktenzeichen V ZB 10/64) |
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführer sind in einem vor dem Landgericht Osnabrück geführten Rechtsstreit unterlegen. Sie haben innerhalb der Berufungsfrist am 20. August 1963 beantragt, ihnen das Armenrecht für die Berufungsinstanz zu bewilligen und einen bei dem Berufungsgericht zugelassenen, namentlich benannten Rechtsanwalt beizuordnen. Durch Beschluß vom 23. Juni 1964, zugestellt am 26. Juni 1964, entsprach das Oberlandesgericht Oldenburg diesem Antrag. Am 14. Juli 1964 legte der beigeordnete Rechtsanwalt für die Beschwerdeführer Berufung ein und beantragte gleichzeitig, ihnen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu bewilligen. Vorsorglich beantragte er weiter, den Beschwerdeführern auch Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist zu gewähren. Das Oberlandesgericht verwarf diese Anträge und die Berufung als unzulässig. Die sofortige Beschwerde blieb erfolglos. Der Bundesgerichtshof führte aus, daß die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zweiwöchigen Wiedereinsetzungsfrist (§ 234 Abs. 1 ZPO) nach ständiger Rechtsprechung nicht möglich sei, weil es sich dabei nicht um eine Notfrist handele. Dadurch werde die arme Partei nicht in einer den allgemeinen Gleichheitssatz verletzenden Weise benachteiligt. Die Chancengleichheit im Prozeß sei dadurch voll gewahrt, daß der armen Partei ein Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist zustehe, wenn sie ihr Armenrechtsgesuch bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eingereicht habe. Im Wiedereinsetzungsverfahren selbst unterliege die vermögende wie die arme Partei demselben Zwang, die Wiedereinsetzungsfrist einhalten zu müssen.
Mit der Verfassungsbeschwerde beantragen die Beschwerdeführer, den Beschluß des Bundesgerichtshofs wegen Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG aufzuheben. Der Ausschluß der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist beeinträchtige die prozessualen Chancen der armen Partei in schwerwiegender Weise. Sie müsse, da über ihr Armenrechtsgesuch nur in Ausnahmefällen innerhalb der Rechtsmittelfrist entschieden werde, regelmäßig den Weg der Wiedereinsetzung beschreiten, um ihr Rechtsmittel noch einlegen zu können. Im Gegensatz zur vermögenden Partei werde sie damit der Gefahr ausgesetzt, die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO trotz größter noch zumutbarer Sorgfalt zu versäumen. Dies führe zum endgültigen Verlust ihrer prozessualen Chancen, wenn nicht wenigstens die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist zugelassen werde. Für diese einseitige Benachteiligung der armen Partei fehle jeder sachliche Grund. Auch im Strafprozeß und im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten und Finanzgerichten sei die Wiedereinsetzung gegenüber allen gesetzlichen Fristen zulässig.
Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die arme Partei sei weder durch die Befristung des Wiedereinsetzungsantrags noch durch den Ausschluß der Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist in gleichheitswidriger Weise benachteiligt. Für den Antrag auf Bewilligung des Armenrechts stehe ihr die volle Rechtsmittelfrist zur Verfügung. Nach Bewilligung des Armenrechts müsse sie sich billigerweise über ihr weiteres prozessuales Vorgehen innerhalb einer kurz bemessenen Frist schlüssig werden, zumal die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels vom Gericht bereits bejaht seien. Durch die Zulassung der erneuten Wiedereinsetzung bei Armenrechtsbewilligungen würde sich die Wiedereinsetzungsfrist theoretisch endlos verlängern. Eine derart weitgehende Möglichkeit der Beseitigung materieller Rechtskraft sei mit dem Gebot der Rechtssicherheit nicht vereinbar. Die sich für die arme Partei hieraus ergebenden prozessualen Nachteile seien nicht so schwerwiegend, daß die Regelung des § 233 Abs. 1 ZPO als verfassungswidrig angesehen werden müsse. Auch könne von einem allgemeinen einheitlichen Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung im gesamten deutschen Verfahrensrecht nicht gesprochen werden.
Die im Ausgangsverfahren beteiligte Prozeßpartei hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, da das Wiedereinsetzungsgesuch der Beschwerdeführer jedenfalls sachlich nicht gerechtfertigt sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der angefochtene Beschluß verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 3 Abs. 1 GG.
1. Im Bereich des Rechtsschutzes gebietet der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten weitgehend anzugleichen (BVerfGE 9, 124 [131]; 10, 264 [270]). Der unbemittelten Partei darf die Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung im Vergleich zur bemittelten nicht unverhältnismäßig erschwert werden (BVerfGE 2, 336 [340]; 9, 124 [130/131]). Dieses verfassungsrechtliche Gebot ist verletzt, wenn der armen Partei, der das rechtzeitig beantragte Armenrecht erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist bewilligt worden ist, gegen die Versäumung der für den Antrag auf Wiedereinsetzung bestimmten Frist (§ 234 Abs. 1 ZPO) grundsätzlich keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.
2. Im Zivilprozeß ist nach ständiger Rechtsprechung eine arme Partei so lange durch unabwendbaren Zufall im Sinne des § 233 Abs. 1 ZPO gehindert, die Rechtsmittelfrist zu wahren, als sie infolge ihrer Armut ohne ihr Verschulden außerstande ist, einen Anwalt mit der Einlegung des Rechtsmittels zu beauftragen (RG JW 1931 S. 1086 Nr. 15; BGH LM ZPO § 233, Nr. 14). Sie hat daher grundsätzlich Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn das Gericht über ihr rechtzeitig gestelltes Armenrechtsgesuch erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist entscheidet. Im Anschluß an die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 9. Dezember 1954 (BGHZ 16, 1) behandelt die Praxis auch solche Armenrechtsgesuche noch als rechtzeitig, die erst am letzten Tag der Rechtsmittelfrist eingehen. Dadurch soll die arme Partei ebenso wie die vermögende in die Lage versetzt werden, bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist überlegen zu können, ob sie die gegen sie ergangene Entscheidung anfechten will (BGH a.a.O. S. 3). Nach Gewährung des Armenrechts hat sie innerhalb zweier Wochen gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nachzusuchen (§ 234 Abs. 1 ZPO) und das Rechtsmittel einzulegen (§ 236 Ziff. 3 ZPO). Von dieser Rechtslage ist bei der verfassungsrechtlichen Erörterung auszugehen.
3. Durch diese Handhabung der gesetzlichen Vorschriften werden jedoch die in der Kostenarmut der unbemittelten Partei begründeten prozessualen Nachteile nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maß ausgeglichen. Die Gerichte sind wegen ihrer starken Arbeitsbelastung in der Regel nicht in der Lage, selbst über frühzeitig gestellte Armenrechtsgesuche noch innerhalb der Berufungsfrist zu entscheiden (BGHZ 16, 1 [3]). Noch weniger ist dies der Fall, wenn die arme Partei das Armenrechtsgesuch zulässigerweise erst kurz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist einreicht. Im Armenprozeß ist somit die Wiedereinsetzung weitgehend verfahrensmäßig bedingt. Die arme Partei ist, um ihr Rechtsmittel noch anbringen zu können, regelmäßig auf den Weg der Wiedereinsetzung verwiesen. Sie unterliegt damit grundsätzlich den prozessualen Risiken, die sich aus der Ausgestaltung der Wiedereinsetzung als eines außerordentlichen Rechtsbehelfs ergeben. Die vermögende Partei braucht dagegen nur ausnahmsweise auf die Möglichkeit der Wiedereinsetzung zurückzugreifen. Nur wenn Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle, also außergewöhnliche Geschehnisse, sie an der Einhaltung der Rechtsmittelfrist hindern, gerät sie in die Gefahr, ihr Rechtsmittel durch unverschuldete Versäumung der für den Antrag auf Wiedereinsetzung bestimmten Fristen (§ 234 Abs. 1 und 3 ZPO) endgültig einzubüßen. Die Beschwer der armen Partei liegt demnach darin, daß sie im Unterschied zur vermögenden Partei grundsätzlich darauf verwiesen ist, ihr Rechtsmittel mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung zu verbinden. Bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise erscheint unter den dargelegten Umständen eine weitgehende Angleichung der prozessualen Stellung beider Parteien nur durch eine Regelung gewährleistet, die es der armen Partei erlaubt, vom Zeitpunkt der Bewilligung des Armenrechts an ihr Rechtsmittel mit wesentlich gleichen Chancen einzulegen, wie sie der vermögenden Partei zu Gebote stehen. Denn erst durch die Beiordnung des Rechtsanwalts wird das der Einlegung des Rechtsmittels bisher entgegenstehende Kostenhindernis beseitigt und ein der wirtschaftlichen Stellung der vermögenden Partei schon während des Laufes der Rechtsmittelfrist vergleichbarer Zustand geschaffen. Da die vermögende Partei gegen die auch durch größte Sorgfalt nicht abwendbare Versäumung der Rechtsmittelfrist geschützt ist (§ 233 Abs. 1 ZPO), muß dieser Schutz auch der armen Partei von dem Zeitpunkt an gewährt werden, in dem die Bewilligung des Armenrechts ihr die Einlegung des Rechtsmittels ermöglicht hat. Art. 3 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip verbieten es daher, der armen Partei gegen die Versäumung der Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung (§ 234 Abs. 1 ZPO) eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu versagen.
4. Der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichstellung der armen Partei kann durch entsprechende Anwendung des § 233 Abs. 1 ZPO auf die Wiedereinsetzungsfrist (§ 234 Abs. 1 ZPO) Rechnung getragen werden; denn § 233 Abs. 1 ZPO zwingt nicht zu der Auslegung, daß eine Wiedereinsetzung nur bei den dort ausdrücklich bezeichneten Fristen stattfinden darf und im übrigen ausgeschlossen sein soll.
In der Rechtsprechung ist bereits anerkannt, daß eine Wiedereinsetzung auch für die Versäumung von Fristen gewährt werden kann, die nicht zu den in § 233 Abs. 1 ZPO bezeichneten Notfristen (§ 223 Abs. 3 ZPO) oder Rechtsmittelbegründungsfristen (§§ 519 Abs. 2 Satz 2, 554 Abs. 2 Satz 2 ZPO) gehören. Wegen Gleichheit des Rechtsgrundes haben das Reichsgericht und ihm folgend der Bundesgerichtshof die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Anschlußrevision (§ 556 Abs. 1 ZPO) zugelassen (RGZ 156, 156; BGH LM ZPO § 233 Nr. 15). Auch das Schrifttum hält eine solche Erstreckung des § 233 Abs. 1 ZPO für unbedenklich. Das Gesetz schließt auch eine entsprechende Anwendung auf sonstige Fristen nicht grundsätzlich aus, wenn der objektive Sinn und Zweck des Wiedereinsetzungsrechts dies erfordert.
Der Gesetzgeber der Zivilprozeßordnung war bestrebt, die mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verbundene Gefährdung der Rechtssicherheit möglichst gering zu halten. Der darauf zurückzuführende Ausschluß der Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist wirkte sich auf die prozessuale Chancengleichheit der unbemittelten Partei zunächst nicht wesentlich aus. Nach § 106 der Zivilprozeßordnung von 1877 war das Armenrecht nur bei Mutwilligkeit oder Aussichtslosigkeit zu versagen. Die Gerichte konnten daher über rechtzeitig gestellte Armenrechtsgesuche regelmäßig innerhalb der Rechtsmittelfrist entscheiden, so daß eine arme Partei nicht, wie es heute die Regel ist, das Rechtsmittel nur unter gleichzeitiger Gewährung der Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist einlegen konnte. Die Rechtsentwicklung hat einmal mit der Einführung der Prüfung der sachlichen Erfolgsaussicht (Teil 6 Kap. I § 11 Abs. 1 der 3. Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 6. Oktober 1931 – RGBl. 1931 I S. 537, 564), zum anderen mit der oben erwähnten Zulassung der Einreichung eines Armenrechtsgesuchs bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist dazu geführt, daß für eine unbemittelte Partei in der Regel die Einlegung des Rechtsmittels mit der Anbringung des Wiedereinsetzungsantrags zwangsläufig verbunden ist. Hierdurch wird die Frist für die Wiedereinsetzung zu einem Annex der für die Einlegung des Rechtsmittels bestimmten Notfrist. Daher würde das Fehlen eines Rechtsbehelfs gegen die Versäumung dieser Wiedereinsetzungsfrist eine ebenso ungerechtfertigte Härte bedeuten wie der Ausschluß der Wiedereinsetzung gegen die Versäumung von Rechtsmittelfristen selbst. Es ist der Zweck der Wiedereinsetzung, solche ungerechtfertigten Härten zu vermeiden. Wenn der Gesetzgeber die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung einer Rechtsmittelfrist eingeräumt hat, muß dies angesichts der geänderten Sachlage auch für die Versäumung der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag gelten, der der armen Partei die Einlegung des Rechtsmittels erst ermöglicht.
Im übrigen ist kein sachlich einleuchtender Grund ersichtlich, den Wiedereinsetzungsantrag der armen Partei um der Rechtssicherheit willen den gegen Mißbrauch und Prozeßverschleppung gerichteten Beschränkungen der Wiedereinsetzung zu unterwerfen (vgl. auch OLG Braunschweig, NJW 1962 S. 1823). Durch die Gewährung der Wiedereinsetzung in diesem besonderen Fall wird keine endlose Wiedereinsetzung eröffnet. Die Gerichte bestimmen durch ihre Entscheidung über das Armenrechtsgesuch selbst den Zeitpunkt, in welchem das in der Kostenarmut liegende Hindernis entfällt. Von da an ist die Gefahr weiterer Rechtsunsicherheit nicht größer als in jedem anderen Rechtsstreit. Auch das Vertrauen der Gegenpartei auf den Bestand der erstrittenen Entscheidung wird hierdurch nicht in einer mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unverträglichen Weise beeinträchtigt. Da sie von dem Armenrechtsgesuch des Gegners regelmäßig in Kenntnis gesetzt und damit von dessen Absicht, die Entscheidung anzufechten, unterrichtet wird, ist es ihr billigerweise zuzumuten, sich auf die Folgen einzurichten, die sich aus einer späteren Wiedereinsetzung ergeben.
5. Im Ausgangsverfahren beruht die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde auf der mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20. Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Auffassung, daß § 233 Abs. 1 ZPO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist durch die arme Partei nicht zulasse. Die Entscheidung ist daher in vollem Umfang aufzuheben und die Sache an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen.
Fundstellen
BVerfGE, 83 |
NJW 1967, 1267 |
DRiZ 1967, 235 |
MDR 1967, 815 |