Entscheidungsstichwort (Thema)
Dauer der Untersuchungshaft bei schwerem Fall von Steuerhinterziehung
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch wenn das Ausgangsverfahren angesichts der Komplexität der zur Last gelegten Steuerstraftaten und der Vielzahl der beteiligten Personen eine überdurchschnittliche Schwierigkeit aufweist, rechtfertigt dies allein nicht, im Zwischenverfahren anstehende Entscheidungen (§§ 199 ff. StPO, Haftprüfungstermine usw.) nicht mit der gebotenen Beschleunigung zu treffen. Im Streitfall wurden im Rahmen der mehr als 13-monatigen Untersuchungshaft vermeidbare und der Justiz zurechenbare Verfahrensverzögerungen festgestellt.
2. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – auch für Dauer der Untersuchungshaft – eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Damit steigen die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft und an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund.
3. Auch wenn infolge der zwischenzeitlichen Aufhebung des Haftbefehls keine Beschwer besteht, bleibt die Verfassungsbeschwerde zulässig. Denn im Hinblick auf das mit einer Freiheitsentziehung als schwerwiegendem Grundrechtseingriff verbundene Rehabilitationsinteresse besteht unter den hier gegebenen Umständen ein Rechtsschutzbedürfnis für die – auch nachträgliche – Feststellung der Verfassungswidrigkeit fort.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 20 Abs. 3; StPO §§ 119-122, 199-200; AO § 370
Verfahrensgang
OLG Nürnberg (Beschluss vom 19.04.2012; Aktenzeichen 1 Ws 197/12 H) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 19. April 2012 – 1 Ws 197/12 H – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die dritte vom Oberlandesgericht nach §§ 121, 122 StPO getroffene Haftfortdauerentscheidung.
I.
1. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth übernahm am 9. März 2011 ein bis dahin allein von der Steuerfahndung des Finanzamtes Nürnberg-Fürth gegen den Beschwerdeführer und andere Personen wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung geführtes Ermittlungsverfahren.
Am 10. März 2011 erließ das Amtsgericht antragsgemäß einen Haftbefehl. Darin wurde dem Beschwerdeführer zur Last gelegt, als faktischer Geschäftsführer diverser Dienstleistungsunternehmen veranlasst zu haben, den Unternehmen in Rechnung gestellte Fremdleistungen zu verbuchen, obwohl er gewusst habe, dass den Rechnungen kein tatsächlicher Leistungsaustausch zugrunde lag. Es soll daher in den Jahren von 2006 bis 2010 für die faktisch geführten Unternehmen in 88 Fällen zu inhaltlich unrichtigen Umsatzsteueranmeldungen mit einem Steuerschaden von nahezu 1,67 Millionen Euro gekommen sein. Als Haftgrund bejahte das Amtsgericht das Vorliegen von Flucht- und Verdunkelungsgefahr.
Der Beschwerdeführer wurde am 17. März 2011 festgenommen und befand sich ab dem 18. März 2011 ununterbrochen in Untersuchungshaft.
2. Am 30. August 2011 übergab die Steuerfahndung der Staatsanwaltschaft die bis dahin angelegten zehn Bände Ermittlungs- und 20 Bände Teilermittlungsakten; am 2. September 2011 folgte der Ermittlungsbericht vom 31. August 2011.
3. Unter dem 8. September 2011 übersandte die Staatsanwaltschaft für das Haftprüfungsverfahren gemäß §§ 121, 122 StPO die angelegten Zweitakten mit einem Vorlagebericht an die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg. Das Beschleunigungsgebot sei beachtet worden. Das Verfahren stelle sich mit Blick auf die undurchsichtige Struktur der Vorgänge, die Zahl der involvierten Personen und Unternehmen sowie auf seine Auslandsberührungen als ungewöhnlich komplex dar.
Mit Schreiben vom 12. September 2011 leitete die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg die Akten unter Bezugnahme auf den Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft an das Oberlandesgericht Nürnberg weiter.
4. Mit Beschluss vom 28. September 2011 ordnete der Strafsenat erstmalig die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Es liege zwar keine Verdunkelungs-, wohl aber Fluchtgefahr vor. Die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei gemäß § 121 Abs. 1 StPO gerechtfertigt, weil der besondere Umfang der Ermittlungen ein Urteil noch nicht zugelassen habe. Es seien mehrere Durchsuchungen durchgeführt worden, bei denen zuletzt Mitte März 2011 eine Vielzahl von Dokumenten sichergestellt worden sei, es seien bis einschließlich Mai 2011 über 100 Zeugen vernommen worden, und es gebe zehn Haupt- und 20 Teilermittlungsakten. Die Beteiligung mehrerer Firmen und viele vorgeschobene Geschäfte zeigten mehr als deutlich die besondere Schwierigkeit des Verfahrens, das zeitaufwändige Abschlussarbeiten erfordere.
Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot liege nicht vor. Die umfangreichen Ermittlungen seien von der Steuerfahndung am 31. August 2011 abgeschlossen worden. Die dem Verteidiger gesetzte Stellungnahmefrist laufe noch, und die Anklageerhebung werde derzeit vorbereitet, weshalb mit einer zügigen Fortführung des Verfahrens gerechnet werden könne.
5. Mit einer 39-seitigen an das Landgericht Nürnberg-Fürth gerichteten Anklageschrift vom 26. Oktober 2011 legte die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer Steuerhinterziehung in 66 Fällen sowie eine versuchte Steuerhinterziehung mit einem Steuerschaden von insgesamt nahezu 2,29 Millionen Euro zur Last. Ein Mitangeklagter soll in neun Fällen Steuerhinterziehung begangen haben. Die Staatsanwaltschaft beantragte, neben der Eröffnung des Hauptverfahrens und Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung vor der Wirtschaftsstrafkammer gegen den Beschwerdeführer einen geänderten Haftbefehl gemäß den Ausführungen der Anklageschrift zu erlassen.
Nachdem die Anklage am 31. Oktober 2011 beim Landgericht eingegangen war, veranlasste der Strafkammervorsitzende am 15. November 2011 die Übersetzung in die türkische Sprache sowie – mit einer fünfwöchigen Erklärungsfrist – die Zustellung der Anklage.
6. Mit Schreiben vom 1. Dezember 2011 übersandte die Strafkammer den aktuellen Band 11 der Verfahrensakten an die Staatsanwaltschaft zur Weiterleitung und Durchführung des Haftprüfungsverfahrens gemäß §§ 121, 122 StPO an das Oberlandesgericht. Die Kammer wies auf die Zustellungsverfügung und die gewährte Einlassungsfrist von fünf Wochen hin. Ferner sei die übersetzte Anklageschrift dem Beschwerdeführer und dem Mitangeklagten am 30. November 2011 übermittelt worden.
7. Am 16. Dezember 2011 leitete die Staatsanwaltschaft die Zweitakten (elf Bände Ermittlungs- und 14 Bände Teilermittlungsakten) mit einem Vorlagebericht der Generalstaatsanwaltschaft zu. Das Beschleunigungsgebot sei auch nach der letzten Entscheidung des Oberlandesgerichts beachtet worden.
Mit Schreiben vom 20. Dezember 2011 übermittelte die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg die Akten unter Bezugnahme auf den Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft an das Oberlandesgericht Nürnberg.
8. Am 20. Dezember 2011 erinnerte der Verteidiger des Mitangeklagten an ein von ihm gestelltes Akteneinsichtsgesuch vom 9. Dezember 2011 und bat zugleich, die Stellungnahmefrist zu verlängern. Nach weiterem Schriftwechsel erhielt der Verteidiger mit Verfügung vom 12. Januar 2012 eine CD-ROM mit den eingescannten Aktenbestandteilen; das Gericht setzte eine Erklärungsfrist von (weiteren) drei Wochen.
9. Am 16. Januar 2012 beschloss das Oberlandesgericht zum zweiten Mal die Fortdauer der Untersuchungshaft. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei nach wie vor gewahrt, weil der Beschwerdeführer mit einer die bisherige Dauer der Untersuchungshaft deutlich übersteigenden Freiheitsstrafe zu rechnen habe. Die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei gerechtfertigt; trotz der hinreichenden Beschleunigung im letzten Drei-Monats-Abschnitt habe ein Urteil noch nicht ergehen können. Es sei nach der zwischenzeitlich erfolgten Erhebung der Anklage und deren Übersetzung und Zustellung mit einer weiterhin zügigen Verfahrensfortsetzung zu rechnen. Bei Berücksichtigung der genannten Umstände komme dem Strafverfolgungsanspruch des Staates gegenüber dem Freiheitsinteresse des Beschwerdeführers trotz der bisherigen Verfahrensdauer immer noch das größere Gewicht zu.
Diese Entscheidung ging am 30. Januar 2012 beim Landgericht ein und wurde der Strafkammer vorgelegt.
10. Am 2. März 2012 bestimmte die Kammer, dem Beschwerdeführer am 23. März 2012 einen der Anklageschrift angepassten Haftbefehl zu verkünden. Auch der Verteidiger des Mitangeklagten wurde vom Termin informiert, um die Sach- und Rechtslage mit den Verfahrensbeteiligten besprechen zu können.
11. Am 23. März 2012 verkündete die Strafkammer einen Haftbefehl, der dem Beschwerdeführer Steuerhinterziehung in 65 Fällen sowie eine versuchte Steuerhinterziehung zur Last legte. Als Haftgrund bejahte sie das Vorliegen von Fluchtgefahr.
12. In der Vorlageverfügung vom 26. März 2012 hielt der Vorsitzende in Form eines Vermerks fest, dass es im Anschluss an die Haftbefehlsverkündung zwischen den Beteiligten zu einer Besprechung gekommen sei. In deren Verlauf habe die Kammer für den Fall vollumfänglicher Geständnisse jeweils bestimmte Strafen in Aussicht gestellt. Weiter führte der Vorsitzende aus, die Kammer halte die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich. Es sei beabsichtigt, die Hauptverhandlung im Mai oder Juni 2012 durchzuführen. Vor einer konkreten Terminbestimmung werde zunächst abgewartet, ob die Angeschuldigten mit der besprochenen Verständigung einverstanden seien. Zudem sei der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zu berücksichtigen. Dieser hatte am 13. März 2012 einen Vorderwandherzinfarkt erlitten und musste stationär behandelt werden.
13. Mit Schreiben vom 4. April 2012 übersandte die Staatsanwaltschaft die Zweitakten an die Generalstaatsanwaltschaft und wies im Bericht darauf hin, das Beschleunigungsgebot sei beachtet worden. Eine Hauptverhandlung sei für Mai oder Juni 2012 vorgesehen. Eine Rückmeldung der Verteidiger zu dem Ergebnis der Besprechung vom 23. März 2012 sei jedoch noch nicht erfolgt. Auch müsse die gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers geklärt werden.
Die Generalstaatsanwaltschaft leitete die Akten unter Bezugnahme auf den Bericht der Staatsanwaltschaft am 5. April 2012 an das Oberlandesgericht weiter.
14. Nachdem die Strafkammer zur Frage, ob eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme erforderlich sei, ein Gutachten eingeholt hatte, leitete der Vorsitzende dieses am 12. April 2012 an die Staatsanwaltschaft und den Verteidiger des Beschwerdeführers weiter und wies darauf hin, eine solche Behandlung sei medizinisch notwendig, könne jedoch nur in einer speziellen Einrichtung durchgeführt werden. Der zuständige Sozialversicherungsträger werde die Kosten nur tragen, wenn der Beschwerdeführer nicht inhaftiert sei. Eine Außervollzugsetzung sei aber in Anbetracht der Fluchtgefahr problematisch. Es wäre daher am sinnvollsten, möglichst bald einen Hauptverhandlungstermin zu bestimmen. Nach durchgeführter Hauptverhandlung könne der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt oder unter Umständen sogar aufgehoben werden. Weiter heißt es sodann:
„Eine baldige Hauptverhandlung setzt aber voraus, dass die Angeschuldigten mit der angedachten Verständigung einverstanden und geständig sind. Insoweit folgten noch keine Rückmeldungen. Die Verteidiger werden daher aufgefordert umgehend der Kammer mitzuteilen, ob die Angeschuldigten mit der angedachten Verständigung einverstanden sind ….”
Der Vorsitzende benannte sieben im Zeitraum vom 3. Mai bis 30. Mai 2012 liegende Terminstage, zu denen die Verteidiger eine etwaige Verhinderung mitteilen sollten.
15. Der Verteidiger des Beschwerdeführers beantragte in einem dem Oberlandesgericht am 18. April 2012 per Telefax zugegangenen Schriftsatz, den Haftbefehl aufzuheben. Es bestehe kein wichtiger Grund für die erneute Fortdauer der Untersuchungshaft. Der Beschwerdeführer befinde sich seit 13 Monaten in Untersuchungshaft. Seit der Ende Oktober 2011 erfolgten Anklageerhebung ruhe das Verfahren ohne stichhaltigen Grund. Es sei nicht innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Äußerungsfrist über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden worden, weshalb die Verletzung des Beschleunigungsgebots auf der Hand liege. Die Strafkammer erscheine völlig überlastet. Es sei ferner nicht mit dem Beschleunigungsgebot in Einklang zu bringen, dass (nur) für den Fall eines Geständnisses Termine für eine Hauptverhandlung angeboten worden seien. Der Haftbefehl sei auch deshalb aufzuheben, weil der Beschwerdeführer nach dem ärztlichen Gutachten sofort eine Rehabilitationsmaßnahme durchführen müsse.
16. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 19. April 2012 ordnete das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei wegen der hohen Straferwartung gewahrt. Eine den Ermittlungsbehörden zuzurechnende Verfahrensverzögerung liege angesichts der besonderen Schwierigkeit und des Umfangs der Sache bis zur Anklageerhebung nicht vor. Auch sei seit der letzten Haftfortdauerentscheidung keine Verzögerung eingetreten. Die Äußerungen der Verteidiger zu dem Gespräch vom 23. März 2012 stünden noch aus. Nach dem Herzinfarkt des Beschwerdeführers werde derzeit, um mögliche für Mai/Juni 2012 angedachte Hauptverhandlungstermine bestimmen zu können, durch die landesgerichtsärztliche Dienststelle geprüft, ob und gegebenenfalls wann der Beschwerdeführer sich einer Rehabilitationsmaßnahme unterziehen müsse.
Diese Entscheidung ist dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 25. April 2012 zugegangen.
II.
Gegen die dritte Haftfortdauerentscheidung hat der Beschwerdeführer mit einem am 25. Mai 2012 eingereichten Schriftsatz Verfassungsbeschwerde erhoben und einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Er rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG.
Die angefochtene Entscheidung weise nicht die für Haftfortdauerentscheidungen zu fordernde Begründungstiefe auf. Die deutliche Überschreitung der Sechs-Monats-Frist werde nur mit dem Hinweis auf den elf Bände umfassenden Aktenumfang gerechtfertigt.
Das Oberlandesgericht habe auch die aus dem Beschleunigungsgebot folgenden Anforderungen nicht beachtet. Danach seien an den zügigen Fortgang eines Verfahrens umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft andauere. Hier sei die Sechs-Monats-Frist um mehr als das Doppelte überschritten und nach wie vor nicht erkennbar, dass die Kammer ernsthaft bemüht wäre, einen Eröffnungsbeschluss zu erlassen und einen Hauptverhandlungstermin zu bestimmen. Das Schreiben der Strafkammer vom 12. April 2012 erwecke den Eindruck, dass dies erst nach Ankündigung eines Geständnisses erfolgen werde. Es sei jedoch verfassungswidrig, einen seit mehr als einem halben Jahr in Untersuchungshaft befindlichen Angeschuldigten dadurch zu einem Geständnis zu drängen, dass die Strafkammer einen zeitnahen Verhandlungstermin von einem Geständnis abhängig mache.
Die Strafverfolgungsbehörden hätten zudem nicht wie erforderlich nachgewiesen, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben, um so schnell wie möglich eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten herbeizuführen.
III.
1. Nach Zustellung der Verfassungsbeschwerde hat das Oberlandesgericht Nürnberg im Rahmen der vierten besonderen Haftprüfung mit Beschluss vom 18. Juli 2012 den Haftbefehl des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 23. März 2012 aufgehoben.
Bis zur vorangegangenen Haftprüfung sei das Verfahren noch sachgerecht gefördert worden. Der Senat sei – wie die Strafkammer – davon ausgegangen, die Hauptverhandlung werde Ende Mai/Anfang Juni beginnen. Obwohl Ende Mai alle für eine vorausschauende Terminplanung erforderlichen Informationen vorgelegen hätten, sei das Hauptverfahren zwar am 4. Juli 2012 eröffnet und die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen worden. Eine Bestimmung des Hauptverhandlungstermins sei gleichwohl noch nicht erfolgt. Wegen der somit nach dem Erörterungstermin vom 26. März nicht erfolgten „hauptverhandlungszentrierten Förderung des Verfahrens” sei die Aufhebung des Haftbefehls geboten.
2. Der Beschwerdeführer hält trotz der Aufhebung des Haftbefehls an seiner gegen die dritte Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg gerichteten Verfassungsbeschwerde fest.
3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Auch wenn der Beschwerdeführer infolge der zwischenzeitlichen Aufhebung des Haftbefehls durch den angefochtenen dritten Haftfortdauerbeschluss vom 19. April 2012 nicht mehr gegenwärtig beschwert ist, bleibt die Verfassungsbeschwerde weiter zulässig. Denn im Hinblick auf das mit einer Freiheitsentziehung als schwerwiegendem Grundrechtseingriff verbundene Rehabilitierungsinteresse besteht unter den hier gegebenen Umständen ein Rechtsschutzbedürfnis für die – auch nachträgliche – Feststellung der Verfassungswidrigkeit fort (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪234 ff.≫; BVerfGK 6, 303 ≪309≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 –, juris, Rn. 11).
I.
Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 74, 358 ≪370 f.≫), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342 ≪347≫ sowie BVerfGE 20, 45 ≪49 f.≫; 36, 264 ≪270≫; 53, 152 ≪158 f.≫; BVerfGK 15, 474 ≪479≫).
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪270≫; 53, 152 ≪158 f.≫). Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfGK 7, 140 ≪161≫; 15, 474 ≪480≫).
Dieser Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfGK 15, 474 ≪480≫; m.w.N.).
Der Beschleunigungsgrundsatz beansprucht auch für das Zwischenverfahren nach den §§ 199 ff. StPO Geltung. Auch in diesem Stadium muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 –, juris, Rn. 15) und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen (vgl. BVerfGK 10, 294 ≪307≫).
Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die u. a. von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. An dessen zügigen Fortgang sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Dieser Gedanke liegt auch der Regelung des § 121 StPO zugrunde, der bestimmt, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund den Erlass des Urteils noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Wie sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte ergibt, handelt es sich dabei um eng begrenzte Ausnahmetatbestände (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 –, juris, Rn. 13; m.w.N.).
Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 ≪65≫; 63, 131 ≪143≫). Das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde muss deshalb so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG besteht. Dem ist vor allem durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 103, 21 ≪35 f.≫). Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. BVerfGK 7, 140 ≪161≫; 10, 294 ≪301≫; 15, 474 ≪481≫).
Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 ≪429 f.≫; 8, 1 ≪5≫; 15, 474 ≪481 f.≫).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen wird die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 19. April 2012, welche die Fortdauer der zu diesem Zeitpunkt seit 13 Monaten andauernden Untersuchungshaft zum dritten Mal anordnete, nicht gerecht.
1. Der angegriffene Beschluss verkennt, dass für das Zwischenverfahren schon im Monat April 2012 vermeidbare und der Justiz zurechenbare Verfahrensverzögerungen festzustellen waren. Diese standen der Fortdauer der Untersuchungshaft unter Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zum Zeitpunkt der dritten Haftprüfungsentscheidung entgegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 –, juris, Rn. 14).
a) So ist bereits kein Grund erkennbar, weshalb nach dem am 31. Oktober 2011 erfolgten Eingang der Anklageschrift erst mehr als zwei Wochen später – am 15. November 2011 – die erste gerichtliche Verfügung getroffen worden ist.
b) Eine weitere nicht dem Beschwerdeführer anzulastende Verzögerung ist dadurch entstanden, dass die Strafkammer ein vom Verteidiger des Mitangeklagten am 9. Dezember 2011 eingegangenes Gesuch auf Akteneinsicht erst am 23. Dezember 2011 positiv beschied und die Akteneinsicht dann tatsächlich erst am 12. Januar 2012 – und damit einen Monat nach Antragstellung – ermöglicht wurde.
c) Eine offensichtliche Verzögerung ist schließlich darin zu sehen, dass die Strafkammer bis zur angefochtenen Haftfortdauerentscheidung trotz seit längerem bestehender Entscheidungsreife noch nicht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen und keinen Termin zur Hauptverhandlung anberaumt hatte; auch deshalb ist das Zwischenverfahren nicht mit der zu erwartenden Zügigkeit gefördert worden, um alsbald eine Entscheidung über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung herbeizuführen.
Auch wenn das Ausgangsverfahren angesichts der Komplexität der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Steuerstraftaten und der Vielzahl der beteiligten Personen eine überdurchschnittliche Schwierigkeit aufweisen mag, rechtfertigt dies allein nicht, im Zwischenverfahren anstehende Entscheidungen nicht mit der gebotenen Beschleunigung zu treffen. Hinzu kommt, dass sich die Strafkammer in ihren Vorlagebeschlüssen nicht auf eine besondere Schwierigkeit berufen hat. Sie hat auch sonst nicht dargelegt, aus welchen Gründen sie an einer rechtzeitigen Beschlussfassung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gehindert gewesen ist. Von Seiten der Verteidigung sind zu keinem Zeitpunkt Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens erhoben oder nach § 202 StPO Beweisanträge gestellt worden, die auf die Förderung des Verfahrens und einen zeitnahen Eröffnungsbeschluss hätten Einfluss nehmen können.
Spätestens nach Ablauf der dem Verteidiger des Mitangeklagten bis Anfang Februar 2012 gewährten Stellungnahmefrist hätte über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden werden können. Dies ist unterblieben, obwohl sich der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt schon seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft befand. Das Bestreben, den Angeklagten zu einer Verständigung zu bewegen, kann offenkundig die Verzögerung einer Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens nicht rechtfertigen.
2. Der Bevollmächtigte hatte in seinem am 18. April 2012 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz das mit den Beteiligten geführte Rechtsgespräch erwähnt und darauf hingewiesen, dass seitens des Landgerichts (nur) für den Fall eines Geständnisses Termine für eine Hauptverhandlung angeboten würden. Dem hätte das Oberlandesgericht nachgehen müssen. Dann wäre ihm das Schreiben des Strafkammervorsitzenden vom 12. April 2012 bekannt geworden, dessen Inhalt es bei verständiger Würdigung nahe legt, dass sachfremde Erwägungen für die Vorgehensweise das Landgerichts – Förderung des Verfahrens erst nach zustimmender Äußerung zur „angedachten Verständigung” – eine Rolle gespielt haben.
III.
Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG durch das Oberlandesgericht festzustellen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren beträgt mindestens 4.000 Euro und, wenn – wie hier – die Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer Erfolg hat, in der Regel 8.000 Euro. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.
Unterschriften
Lübbe-Wolff, Huber, Kessal-Wulf
Fundstellen
BFH/NV 2013, 492 |
StV 2014, 35 |