Verfahrensgang
Tenor
1. Die Beschlüsse des Landgerichts Bonn vom 6. Dezember 2010 – 38 T 1168/10 – und vom 13. April 2011 – 38 T 1869/10 – verletzen die Beschwerdeführerinnen jeweils in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sachen an das Landgericht zurückverwiesen.
2. Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen.
3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführerinnen jeweils ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Der Gegenstandswert wird auf jeweils 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerden betreffen zwei Ordnungsgeldverfahren wegen der verspäteten Offenlegung von Jahresabschlüssen im Bundesanzeiger.
I.
Die Beschwerdeführerinnen sind konzernangehörige Kapitalgesellschaften in der Rechtsform der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Gemeinsame Konzernmutter ist die in Österreich ansässige L. GmbH. Das Geschäftsjahr der Beschwerdeführerinnen läuft jeweils vom 1. April bis zum 31. März des Folgejahres. Die Ausgangsverfahren betreffen die Offenlegung des Jahresabschlusses zum 31. März 2007 (1 BvR 1295/11) und zum 31. März 2008 (1 BvR 121/11). Die Beschwerdeführerinnen waren in den Konzernabschluss ihrer Muttergesellschaft für die Geschäftsjahre 2006/2007 und 2007/2008 einbezogen. Sie teilten dem Betreiber des elektronischen Bundesanzeigers mit, sie seien deswegen von der Offenlegung des Jahresabschlusses gemäß § 264 Abs. 3 HGB in der bis zum 20. Dezember 2012 gültigen Fassung in Verbindung mit § 290 Abs. 1 HGB befreit.
Nach § 264 Abs. 3 HGB a.F. brauchen Kapitalgesellschaften, die Tochterunternehmen eines nach § 290 HGB zur Aufstellung eines Konzernabschlusses verpflichteten und damit inländischen Mutterunternehmens sind, unter bestimmten Voraussetzungen ihren eigenen Jahresabschluss nicht offenzulegen. Der Gesetzgeber hat mit der Vorschrift des § 264 Abs. 3 HGB a.F. im Jahr 1998 im Rahmen des Gesetzes zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Konzerne an internationalen Kapitalmärkten und zur Erleichterung der Aufnahme von Gesellschafterdarlehen (Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz – KapAEG –, BGBl I S. 707) Art. 57 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG vom 25. Juli 1978 über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl L 222 vom 14. August 1978, S. 11-31) in der Fassung von Art. 43 der Siebenten Richtlinie 83/349/EWG vom 13. Juni 1983 über den konsolidierten Abschluss (ABl L 193 vom 18. Juli 1983, S. 1-17) in nationales Recht umgesetzt. Art. 57 lautet:
„Unbeschadet der Richtlinien 68/151/EWG und 77/91/EWG brauchen die Mitgliedstaaten die Bestimmungen der vorliegenden Richtlinie über den Inhalt, die Prüfung und die Offenlegung des Jahresabschlusses nicht auf Gesellschaften anzuwenden, die ihrem Recht unterliegen und Tochterunternehmen im Sinne der Richtlinie 83/349/EWG sind, sofern folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- das Mutterunternehmen unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats;
- alle Aktionäre oder Gesellschafter des Tochterunternehmens haben sich mit der bezeichneten Befreiung einverstanden erklärt; diese Erklärung muß für jedes Geschäftsjahr abgegeben werden;
- das Mutterunternehmen hat sich bereit erklärt, für die von dem Tochterunternehmen eingegangenen Verpflichtungen einzustehen;
- die Erklärungen nach Buchstaben b) und c) sind nach den in den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten vorgesehenen Verfahren gemäß Artikel 3 der Richtlinie 68/151/EWG offenzulegen;
- das Tochterunternehmen ist in den von dem Mutterunternehmen nach der Richtlinie 83/349/EWG aufgestellten konsolidierten Jahresabschluß einbezogen;
- die bezeichnete Befreiung wird im Anhang des von dem Mutterunternehmen aufgestellten konsolidierten Abschlusses angegeben;
- der unter Buchstabe e) bezeichnete konsolidierte Abschluß, der konsolidierte Lagebericht sowie der Bericht der mit der Prüfung beauftragten Person werden für das Tochterunternehmen nach den in den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten vorgesehenen Verfahren gemäß Artikel 3 der Richtlinie 68/151/EWG offengelegt.”
Das für das Ordnungsgeldverfahren wegen der fehlenden Offenlegung des Jahresabschlusses gemäß § 335 Abs. 1 HGB zuständige Bundesamt für Justiz legte den Beschwerdeführerinnen Ordnungsgelder in Höhe von 2.500 EUR (1 BvR 121/11) und 5.000 EUR (1 BvR 1295/11) auf, nachdem es diese zuvor angedroht hatte. Schließlich verhängte es weitere Ordnungsgelder in Höhe von 5.000 EUR und 7.500 EUR. Den sofortigen Beschwerden der Beschwerdeführerinnen half das Bundesamt nicht ab und legte die Sachen dem Landgericht vor.
Das Landgericht wies die sofortigen Beschwerden zurück. Nach dem Wortlaut des § 264 Abs. 3 HGB a.F. könnten nur Tochterunternehmen inländischer Konzernmütter von der Offenlegung befreit werden. Das Tochterunternehmen müsse nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches in den Konzernabschluss einbezogen sein, was bei ausländischen Konzernabschlüssen nicht der Fall sei. Die Begrenzung auf inländische Muttergesellschaften sei sinnvoll. Da Voraussetzung des § 264 Abs. 3 HGB a.F. auch die Verpflichtung zur Verlustübernahme der Tochtergesellschaft sei, müssten bei ausländischen Konzernmüttern etwaige Ansprüche im Ausland durchgesetzt werden. Zudem sehe § 264 Abs. 3 HGB a.F. eine Verlustübernahme gemäß § 302 AktG vor. Eine Ungleichbehandlung in- und ausländischer Konzernmütter sei durch die Vorgaben des Unionsrechts nicht verboten. Die finanziellen Interessen vorhandener und potentieller Gläubiger und Investoren geböten, die Ausnahmeregel des § 264 Abs. 3 HGB a.F. auf inländische Gesellschaften zu beschränken, um Schwierigkeiten zu vermeiden, die bei der Auswertung von Jahresabschlüssen entstünden, welche auf der Grundlage ausländischer Bilanzierungsvorschriften erstellt seien.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerdeführerinnen wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die im Ordnungsgeldverfahren ergangenen Entscheidungen des Bundesamts für Justiz sowie die Beschwerdebeschlüsse des Landgerichts. Sie rügen die Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.
Das Landgericht habe die gebotene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV) unterlassen und ihnen damit den gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen. Es habe lediglich ausgeführt, das Unionsrecht erfordere keine andere als die von ihm zugrunde gelegte Auslegung der Vorschrift des § 264 Abs. 3 HGB a.F. Allerdings fehle jede Konkretisierung, welche Vorschriften des Unionsrechts es geprüft habe. Eine Auseinandersetzung mit den Richtlinienvorgaben und den Tatbestandsvoraussetzungen der Grundfreiheiten sei nicht erfolgt. Angesichts diverser Literaturstimmen, die § 264 Abs. 3 HGB a.F. für unionsrechtlich problematisch hielten, sei dies unzureichend und lasse nicht die vom Bundesverfassungsgericht geforderte ausreichende Befassung mit Unionsrecht erkennen. Der Hinweis des Landgerichts auf die Schwierigkeiten bei der Rechnungslegung nach ausländischen Vorschriften trage nicht. Durch die Umsetzung der Vierten Gesellschaftsrechts-Richtlinie 78/660/EWG und der Siebenten Gesellschaftsrechts-Richtlinie 83/349/EWG sei die Rechnungslegung europaweit sehr weitgehend harmonisiert.
Zudem sei der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Eine kapitalistisch strukturierte Tochterpersonengesellschaft, bei der keine natürliche Person persönlich hafte – wie etwa die GmbH & Co. KG – sei gemäß § 264b HGB bei Einbeziehung in den Konzernabschluss der Muttergesellschaft von der Offenlegung ihres Jahresabschlusses befreit, auch wenn diese ihren Sitz nicht im Inland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum habe.
III.
Die Verfassungsbeschwerden sind der Bundesregierung, der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, dem Präsidenten des Bundesgerichtshofs, dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag e.V., dem Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V., der Wirtschaftsprüferkammer (Körperschaft des öffentlichen Rechts), dem Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft sowie dem Arbeitskreis Externe Unternehmensrechnung Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. zugestellt worden. Die Akten der Ausgangsverfahren sind beigezogen.
1. Das Bundesministerium der Justiz hat namens der Bundesregierung auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz – MicroBilG – vom 21. September 2012 (BTDrucks 17/11292) hingewiesen, mit dessen Umsetzung den Belangen der Verfassungsbeschwerde für zukünftige Geschäftsjahre Rechnung getragen werde. In Art. 1 Nr. 4 Buchstabe c des Gesetzentwurfs ist die Ausdehnung des Anwendungsbereichs von § 264 Abs. 3 HGB auf Muttergesellschaften mit Sitz in der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vorgesehen (a.a.O. S. 2). Der Vorschlag erfolge im Hinblick auf die inzwischen, insbesondere seit 1998 verstärkte gesellschaftsrechtliche Verflechtung von Unternehmen im europäischen Binnenmarkt und den erreichten Zwischenstand der Harmonisierung im Gesellschafts-, Prozess- und Insolvenzrecht. Indessen verstoße auch eine Beibehaltung der bisherigen Fassung nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Das vom Bundesministerium der Justiz angeführte Gesetzgebungsverfahren ist mittlerweile abgeschlossen. Die Gesetzesänderung ist am 21. Dezember 2012 in Kraft getreten (BGBl I S. 2751). Gemäß Art. 70 Abs. 2 Satz 1 des Einführungsgesetzes zum Handelsgesetzbuch in der Fassung des Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes ist die Änderung erstmals auf Jahres- und Konzernabschlüsse für Geschäftsjahre anzuwenden, die nach dem 31. Dezember 2012 beginnen. Für Jahres- und Konzernabschlüsse für Geschäftsjahre, die – wie hier – vor dem 1. Januar 2013 begonnen haben, bleiben die bisherigen Vorschriften anwendbar.
2. a) Der Arbeitskreis Externe Unternehmensrechnung Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. weist unter anderem darauf hin, dass der Gesetzgeber weder für die restriktive Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie zu der Befreiungsmöglichkeit bei Kapitalgesellschaften in § 264 Abs. 3 HGB a.F. eine Begründung angeführt habe, noch für die großzügigere Handhabung bei kapitalistisch strukturierten Personenhandelsgesellschaften in § 264b HGB.
b) Das Institut der Wirtschaftsprüfer e.V. und die Wirtschaftsprüferkammer erkennen keinen Verstoß gegen Unionsrecht, weil die Richtlinie 78/660/EWG ein Wahlrecht für die Umsetzung der Befreiungsmöglichkeit eröffne. Der nationale Gesetzgeber sei nicht gezwungen, die optionale Befreiungsmöglichkeit vollständig in nationales Recht umzusetzen.
c) Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHT) meint, die Befreiung von der Offenlegung des Jahresabschlusses in der Richtlinie sei zwar optional. Wenn sich der nationale Gesetzgeber jedoch zur Umsetzung entschließe, müsse er die kumulativen Richtlinienvorgaben aber sämtlich einhalten. Der Hinweis des Landgerichts auf Schwierigkeiten bei der Auswertung von Abschlüssen, die nach den Rechnungslegungsvorschriften anderer Mitgliedstaaten zustande gekommen seien, sei unberechtigt. Das Unionsrecht habe unter anderem die Vorschriften über die Aufstellung und Offenlegung der Jahres- und Konzernabschlüsse für Unternehmen mit Sitz in den Mitgliedstaaten harmonisiert und kapitalmarktorientierte Unternehmen zur Aufstellung des Konzernabschlusses nach den internationalen Rechnungslegungsstandards verpflichtet. Angesichts des klaren Umsetzungsverstoßes sei dem Landgericht auch ohne Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union eine richtlinienkonforme Auslegung des § 264 Abs. 3 HGB a.F. möglich.
d) Der Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft hält die nationale Umsetzungsvorschrift des § 264 Abs. 3 HGB a.F. ebenfalls für mit der unionsrechtlichen Bestimmung nicht vereinbar. Jedenfalls habe das letztinstanzlich entscheidende Landgericht seine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union schon deswegen verletzt, weil an der Vereinbarkeit des § 264 Abs. 3 HGB a.F. mit Unionsrecht berechtigte Zweifel bestünden.
3. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen namens der Landesregierung und der Präsident des Bundesgerichtshofs haben von einer Stellungnahme abgesehen.
IV.
Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig und begründet, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Landgerichts richten. Im Übrigen sind sie nicht zur Entscheidung anzunehmen.
1. Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung liegen nicht vor, soweit sie sich gegen die Entscheidungen des Bundesamts für Justiz richten (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die angegriffenen Entscheidungen des Bundesamts sind durch die auf sie folgenden Beschlüsse des Landgerichts prozessual überholt (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. Mai 2012 – 1 BvR 96/09 u.a. –, NZG 2012, S. 907 ≪Rn. 39≫).
2. Im Übrigen nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an. Die Annahme ist zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts der Beschwerdeführerinnen aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen insoweit vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG): Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig und unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführerinnen wegen Fehlens einer Auseinandersetzung mit der Vorlagepflicht zum Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 267 Abs. 3 AEUV) in ihrem Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
a) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪192 f.≫; stRspr). Das Bundesverfassungsgericht überprüft, ob die Gerichte die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV beachtet haben. Sie verletzen die Vorlagepflicht und damit auch das Recht der Beteiligten aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn ihr Umgang mit der Vorlagepflicht bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht vertretbar ist, also nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), oder in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung; vgl. BVerfGE 128, 157 ≪187 f.≫ m.w.N.). Ein nationales letztinstanzliches Gericht muss der Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, die entscheidungserheblich ist und nicht bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union war („acte éclairé”) und wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt („acte clair”; vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Mai 2012 – 1 BvR 3201/11 –, ZIP 2012, S. 1876 ≪Rn. 22≫ m.w.N.). Es kommt damit im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪194 f.≫; 126, 286 ≪315≫; 128, 157 ≪187 f.≫; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Mai 2012, a.a.O. ≪Rn. 23≫). Das Fachgericht hat die Gründe anzugeben, aus denen es eine naheliegende Vorlagepflicht abgelehnt hat, um so dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu ermöglichen (vgl. BVerfGK 17, 533 ≪544≫).
b) Nach diesen Maßstäben hat das Landgericht die Vorlagepflicht in nicht mehr vertretbarer Weise gehandhabt.
aa) Die Frage, ob Art. 57 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG so umgesetzt werden kann, dass nur Tochtergesellschaften inländischer Mutterunternehmen von der Pflicht zur Offenlegung des Jahresabschlusses befreit werden, war nach Auffassung des Landgerichts entscheidungserheblich. Sie ist durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bisher nicht beantwortet. Das Landgericht hätte sich deshalb mit dem Wortlaut und den Erwägungsgründen der Richtlinie auseinandersetzen und anhand der dort niedergelegten Maßstäbe beurteilen müssen, ob die Unterscheidung nach in- und ausländischen Mutterunternehmen im deutschen Recht mit der Richtlinie im Sinne eines „acte clair” vereinbar ist. Das Landgericht beantwortet in seinen angegriffenen Entscheidungen jedoch nicht die Frage, ob § 264 Abs. 3 HGB a.F. mit den Vorgaben der Richtlinie vereinbar ist, sondern geht lediglich darauf ein, ob eine Ungleichbehandlung in- und ausländischer Mutterkonzerne sinnvoll ist. Darauf kommt es jedoch für die Frage einer Vorlagepflicht nicht an.
Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist – jedenfalls mit dem vom Landgericht gefundenen Ergebnis – nicht derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Der Wortlaut des Art. 57 der Richtlinie („das Mutterunternehmen unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats”) spricht vielmehr dafür, dass eine Beschränkung auf inländische Mutterunternehmen unzulässig ist. Dass die Konformität des § 264 Abs. 3 HGB a.F. mit den unionsrechtlichen Bestimmungen nicht eindeutig ist, findet in den eingeholten Stellungnahmen und in dem gespaltenen Meinungsbild im Schrifttum seine Bestätigung (vgl. in chronologischer Folge: Gelhausen/Mujkanovic, AG 1997, S. 337 ≪344≫; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Ergänzungsband zur 6. Aufl. 2001, § 264 HGB n.F. Rn. 29; Giese/Rabenhorst/Schindler, BB 2001, S. 511 ≪514≫; Luttermann, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2003, § 264 HGB Rn. 174; Marten/Zürn, BB 2004, S. 1615 ≪1617≫; Kuntze-Kaufhold, BB 2006, S. 428 ≪430 f.≫; Wiedmann, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Handelsgesetzbuch, 2. Aufl. 2008, § 264 Rn. 34 f.; Reiner, in: Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch, 2. Aufl. 2008, § 264 HGB Rn. 114; Hoffmann, in: Heidel/Schall, Handelsgesetzbuch, 2011, § 264 Rn. 24; Förschle/Deubert, in: Beck'scher Bilanz-Kommentar, 8. Aufl. 2012, § 264 HGB Rn. 116; vgl. auch Deilmann, BB 2006, S. 2347 ≪2349≫; Tromp/Nagler/Gehrke, GmbHR 2009, S. 641 ≪645 f.≫).
bb) Die vom Landgericht nicht substantiell vorgenommene Prüfung der Vorlagepflicht wäre allerdings dann entbehrlich gewesen, wenn § 264 Abs. 3 HGB a.F. nicht richtlinienkonform ausgelegt werden könnte, ohne dabei die Grenzen der verfassungsrechtlichen Bindung des Richters an das Gesetz zu sprengen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 26. September 2011 – 2 BvR 2216/06 u.a. –, NJW 2012, S. 669 ≪Rn. 46 f.≫). In diesem Fall hätte die Beantwortung der Vorlagefrage die Entscheidung nicht beeinflussen können. Eine die Gesetzesbindung übersteigende Auslegung ist auch durch den Grundsatz der Unionstreue nicht zu rechtfertigen (a.a.O. Rn. 46). Das Landgericht geht indes nicht davon aus, dass eine richtlinienkonforme Auslegung ausgeschlossen sei und unternimmt es nicht, das Unterlassen einer Vorlage damit zu rechtfertigen.
Dass eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich wäre, liegt auch fern. Aus den Gesetzgebungsmaterialien zum Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz ergibt sich kein Anhalt für eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers dahin, nur Töchter inländischer Gesellschaften zu begünstigen. Vielmehr wollte der Gesetzgeber ausweislich der Begründung des Entwurfs die in Art. 57 der Richtlinie vorgesehenen Befreiungsmöglichkeiten in das deutsche Recht übertragen (vgl. BTDrucks 13/7141, S. 9). Aus den Gesetzgebungsmaterialien ist nicht erkennbar, wieso entgegen dem Wortlaut der Richtlinie (Buchstabe a: „das Mutterunternehmen unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaates”) die Übernahme auf inländische Mutterunternehmen hätte begrenzt werden sollen. Die Möglichkeit, von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen, weil der Gesetzgeber die Richtlinie zutreffend umsetzen wollte, scheint damit eröffnet (vgl. BGHZ 179, 27 ≪34 ff.≫). Bei deren Schließung wäre auch das unmittelbar anwendbare primärrechtliche Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit zu bedenken, das bei der Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 AEUV folgt (vgl. BVerfGE 129, 78 ≪97 ff.≫ m.w.N.).
3. Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts sind danach aufzuheben und die Sachen an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1 und 2 BVerfGG). Ob zugleich eine Verletzung weiterer, als verletzt gerügter verfassungsmäßiger Rechte der Beschwerdeführerinnen im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG gegeben ist, bedarf deshalb keiner Entscheidung.
Insbesondere kann dahinstehen, inwieweit die Vorschrift des § 264 Abs. 3 HGB a.F. mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, dessen Verletzung die Beschwerdeführerinnen ebenfalls rügen. Insoweit steht auch der Inhalt des an Art. 3 Abs. 1 GG zu messenden nationalen Rechts noch nicht fest. Stellte sich auf Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union heraus, dass § 264 Abs. 3 HGB a.F. richtlinienkonform nur so umgesetzt werden kann, dass Tochtergesellschaften mit Konzernmüttern, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben, von der Offenlegung befreit werden, oder ließe sich die Vorschrift schon durch das Fachgericht richtlinienkonform in diesem Sinne auslegen, so wäre ein etwaiger Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG beseitigt. Auch insoweit ist die Entscheidung des Fachgerichts vorgreiflich. Es entspräche zudem nicht der im Grundgesetz angelegten Kompetenzverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten, wenn diese im Verhältnis zum Unionsrecht ungeklärtes nationales Umsetzungsrecht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen dürften und so das Bundesverfassungsgericht seinerseits zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV veranlassen könnten, sofern es nur auf diese Weise seinen verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfang bestimmen könnte (vgl. BVerfGE 129, 186 ≪202≫).
V.
Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫). Der Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt, wenn der Verfassungsbeschwerde durch die Kammer stattgegeben wird, in der Regel 8.000 EUR. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen hier Besonderheiten auf, die eine Abweichung veranlassen.
Unterschriften
Gaier, Schluckebier, Paulus
Fundstellen
Haufe-Index 3626953 |
DStR 2013, 13 |