Verfahrensgang
Tenor
1. Der Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 26. Mai 2011 – 326 F 44/10 – sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 7. Oktober 2011 – 21 UF 122/11 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 7. Oktober 2011 – 21 UF 122/11 – wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Köln zurückverwiesen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurechnung fiktiver Einkünfte.
I.
1. Der 1976 geborene, körperlich behinderte Beschwerdeführer ist Vater eines minderjährigen Sohnes, der von ihm im Ausgangsverfahren den Mindestunterhalt begehrte. Der Beschwerdeführer lebt von Leistungen nach SGB II.
a) Das Amtsgericht verpflichtete ihn zur Zahlung von Unterhalt in Höhe von 225 EUR im Monat. Der Beschwerdeführer erziele zwar kein Einkommen, welches ihn unter Wahrung seines Selbstbehalts in die Lage setze, den geforderten Unterhalt zu zahlen. Doch sei ihm ein Einkommen in entsprechender Höhe fiktiv anzurechnen. Der Beschwerdeführer leide zwar unter gesundheitlichen Einschränkungen, da sein Arm zurückgebildet und seine Hand unzureichend ausgebildet sei. Auch habe er keine Berufsausbildung. Das entbinde ihn aber nicht davon, im Rahmen seiner nach § 1603 Abs. 2 BGB gesteigerten Erwerbsobliegenheit alles ihm Mögliche zu unternehmen, um den Unterhalt seines minderjährigen Kindes zu sichern. Für seine fehlende Leistungsfähigkeit sei er im Hinblick auf den geltend gemachten Mindestunterhalt darlegungs- und beweisbelastet. Er habe keine Angaben zu seinen Bemühungen um eine Arbeit gemacht, sondern sich auf die Mitteilung beschränkt, aufgrund seiner persönlichen Situation nicht vermittelbar zu sein. Dies könne mangels konkreter Bewerbungen um eine Arbeit allerdings nicht geprüft werden. Daher sei davon auszugehen, dass er fiktiv zur Zahlung des Mindestunterhalts in der Lage sei.
b) Das Oberlandesgericht wies die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG. Er habe keine Möglichkeit, ein seinen Selbstbehalt übersteigendes Einkommen zu erzielen. Dies sei zum einen durch seine körperlichen Einschränkungen bedingt. Zum anderen habe er weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung. Die Gerichte hätten ihre Annahme, er könne bei entsprechenden Bemühungen das zur Zahlung des titulierten Unterhalts erforderliche Einkommen erwirtschaften, nicht tragfähig begründet. Diese Annahme sei daher unzumutbar und verletze seine wirtschaftliche Handlungsfreiheit.
3. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen und der Antragsteller des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers geboten ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Zur Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
1. Die angefochtenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit. Die Gerichte haben nicht tragfähig begründet, worauf sie ihre Annahme stützen, der Beschwerdeführer könne bei ausreichenden ihm zumutbaren Bemühungen ein Einkommen in der zur Zahlung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen.
a) Die Auferlegung von Unterhaltsleistungen schränkt den Verpflichteten in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit ein. Diese ist jedoch nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet, zu der auch das Unterhaltsrecht gehört, soweit es mit Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang steht (vgl. BVerfGE 57, 361 ≪378≫). Der ausgeurteilte Unterhalt darf nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung des Unterhaltspflichtigen führen (vgl. BVerfGE 57, 361 ≪388≫). Wird die Grenze des Zumutbaren eines Unterhaltsanspruchs überschritten, ist die Beschränkung der Dispositionsfreiheit des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhaltsansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann vor Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen (stRspr; BVerfGE 57, 361 ≪381≫; BVerfGK 6, 25 ≪28≫; 7, 135 ≪138≫; 9, 437 ≪440≫; 10, 84 ≪87≫).
Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht ist § 1603 Abs. 1 BGB. Danach ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Hieraus sowie aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt ihre Verpflichtung zum Einsatz ihrer Arbeitskraft. Daher ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden, wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese „bei gutem Willen” ausüben könnte (vgl. BVerfGE 68, 256 ≪270≫). Die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen wird also nicht allein durch sein tatsächlich vorhandenes Einkommen bestimmt, sondern auch durch seine Erwerbsfähigkeit und seine Erwerbsmöglichkeiten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Februar 2010 – 1 BvR 2236/09 –, juris Rn. 17; BGH, Urteil vom 9. Juli 2003 – XII ZR 83/00 –, juris Rn. 22; Urteil vom 3. Dezember 2008 – XII ZR 182/06 –, juris Rn. 20).
Gleichwohl bleibt Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Das Unterhaltsrecht ermöglicht es insofern den Gerichten, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Auch im Rahmen der gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwerbsobliegenheit darf von dem Unterhaltspflichtigen nach § 1603 Abs. 2 BGB nichts Unmögliches verlangt werden. Die Gerichte haben im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltspflichtige in der Lage ist, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen, oder ob dieser seine finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigt.
b) Diesen Maßstäben hält die Feststellung der Gerichte, der Beschwerdeführer könne bei Aufnahme einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeit ein Einkommen in der zur Leistung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen, nicht stand.
aa) Die Zurechnung fiktiver Einkünfte, welche die Leistungsfähigkeit begründen sollen, setzt zweierlei voraus. Zum einen muss feststehen, dass subjektiv Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners fehlen. Zum anderen müssen die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten objektiv erzielbar sein, was von seinen persönlichen Voraussetzungen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwerbsbiographie und Gesundheitszustand und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängt (vgl. BVerfGK 7, 135 ≪139≫; 9, 437 ≪440≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Oktober 2009 – 1 BvR 443/09 –, juris Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Februar 2010 – 1 BvR 2236/09 –, juris Rn. 17; BGH, Urteil vom 30. Juli 2008 – XII ZR 126/06 –, juris Rn. 22; Urteil vom 3. Dezember 2008 – XII ZR 182/06 –, juris Rn. 20).
bb) Zwar sind die Gerichte zutreffend davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer sich um eine Erwerbstätigkeit nicht bemüht hat und damit subjektiv Erwerbsbemühungen fehlen. Doch haben sie keine Feststellung dazu getroffen, auf welcher Grundlage sie zu der Auffassung gelangt sind, dass der Beschwerdeführer bei Einsatz seiner vollen Arbeitskraft und bei Aufnahme einer seinen persönlichen Voraussetzungen entsprechenden Arbeit objektiv in der Lage wäre, ein Einkommen in der zur Leistung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe zu erzielen.
(1) Um den titulierten Kindesunterhalt in Höhe von 225 EUR im Monat sicherzustellen, müsste der Beschwerdeführer bereinigte Nettoeinkünfte von insgesamt 1.175 EUR im Monat erzielen (Selbstbehalt Erwerbstätiger in Höhe von 950 EUR zuzüglich Kindesunterhalt in Höhe von derzeit 225 EUR). Dem entsprechen unter Berücksichtigung berufsbedingter Aufwendungen unbereinigte Nettoeinkünfte in Höhe von rund 1.237 EUR monatlich (1.237 EUR abzüglich 5 % berufsbedingte Aufwendungen = 1.175 EUR). Um diesen Nettobetrag zu erhalten, müsste der Beschwerdeführer bei Steuerklasse I ohne persönliche Freibeträge (außer dem Kinderfreibetrag) und den üblichen Abzügen für Steuern und Sozialversicherung einen Bruttoverdienst von rund 1.795 EUR im Monat erwirtschaften. Bei einer Regelarbeitszeit von 40 Stunden die Woche beziehungsweise 173 Stunden im Monat (40 Stunden × 52 Wochen geteilt durch 12 Monate) müsste der Beschwerdeführer also einen Bruttostundenlohn von rund 10,38 EUR erzielen.
(2) Die Gerichte haben keine Feststellung dazu getroffen, auf welcher Grundlage sie zu der Auffassung gelangt sind, der Beschwerdeführer könne unter Berücksichtigung seiner fehlenden beruflichen Qualifikation und insbesondere im Hinblick auf seine körperliche Behinderung einen derartigen Bruttostundenlohn erzielen. Es ist aus den angegriffenen Entscheidungen nicht zu erkennen, dass sie sich an den persönlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Beschwerdeführers und den tatsächlichen Gegebenheiten am Arbeitsmarkt orientiert haben. Wäre dies geschehen, hätten sie davon ausgehen müssen, dass dem Ausbildungsstand und den Fähigkeiten des Beschwerdeführers nur eine Tätigkeit als ungelernte Kraft entspricht und dass die Einsatzmöglichkeiten des Beschwerdeführers durch seine körperliche Behinderung zusätzlich begrenzt werden. Zur Höhe eines als ungelernte, körperlich behinderte Arbeitskraft erzielbaren Einkommens haben die Gerichte keine Feststellungen getroffen. Sie haben sich weder mit dem derzeit als ungelernte Kraft erzielbaren Lohn beziehungsweise aktuellen Mindestlöhnen der verschiedenen Branchen, noch mit den aufgrund seiner körperlichen Behinderungen zu erwartenden Einschränkungen des für den Beschwerdeführer konkret erzielbaren Einkommens auseinandergesetzt.
Ohne Prüfung durften sie nicht von den fehlenden Bemühungen des Beschwerdeführers um eine Erwerbstätigkeit auf seine Leistungsfähigkeit in Höhe des titulierten Unterhalts schließen. Die Gerichte haben mit der Zurechnung fiktiver Einkünfte in der von ihnen angenommenen Höhe den ihnen eingeräumten Entscheidungsspielraum überschritten.
2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem dargestellten Verfassungsverstoß. Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist bezüglich der angegriffenen Entscheidungen die Grundrechtsverletzung festzustellen. Es ist allerdings nur der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 7. Oktober 2011 aufzuheben und die Sache dorthin zurückzuverweisen, weil dem Beschwerdeführer damit besser gedient ist; es liegt in seinem Interesse, möglichst rasch eine das Verfahren abschließende Entscheidung zu erhalten.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Unterschriften
Gaier, Paulus, Britz
Fundstellen
Haufe-Index 3263177 |
MDR 2012, 970 |
FamRB 2012, 266 |
NJW-Spezial 2012, 517 |
JAmt 2012, 417 |