Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei sprachunkundigem Ausländer

 

Leitsatz (redaktionell)

Im gerichtlichen Verfahren fordern Art. 103 Abs. 1 GG und – in Fällen ersten Zugangs zu Gericht – Art. 19 Abs. 4 GG, daß die mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache bei einem Ausländer nicht zu einer Verkürzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor Gericht führen darf. Versäumt daher ein der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtiger Ausländer, dem ein Strafbefehl in deutscher Sprache ohne eine ihm verständliche Belehrung über den Rechtsbehelf des Einspruchs zugestellt worden ist, die Einspruchsfrist, so verbieten es die genannten Rechtsschutzgarantien, die Versäumung der Einspruchsfrist, soweit sie auf den unzureichenden Sprachkenntnissen des Ausländers beruht, als verschuldet im Sinne des Rechts auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzusehen.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; StPO § 44

 

Verfahrensgang

AG Weisloch (Beschluss vom 27.12.1990; Aktenzeichen 3 Cs 447/90)

LG Heidelberg (Beschluss vom 21.12.1990; Aktenzeichen 1 Qs 123/90)

 

Tatbestand

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Wiedereinsetzung in einem Strafbefehlsverfahren.

I.

Gegen den Beschwerdeführer, einen in Köln wohnhaften türkischen Staatsangehörigen, der sich seit 1981 im Besitz einer deutschen Fahrerlaubnis der Klassen 3 und 4 befindet, erging wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach einer leichten Berührung des von ihm gelenkten Fahrzeugs mit einem im Bereich einer Autobahnbaustelle neben ihm fahrenden LKW ein Strafbefehl. Dieser wurde dem Beschwerdeführer am 10. Oktober 1990 durch Niederlegung zugestellt. Strafbefehl und zugehörige Rechtsmittelbelehrung waren in deutscher Sprache abgefaßt. Dem Beschwerdeführer war auch im Zuge der polizeilichen Ermittlungen nicht in türkischer Sprache dargelegt worden, wegen welcher strafbaren Handlungen gegen ihn ermittelt werde. In türkischer Sprache wurde der Beschwerdeführer allerdings von den Polizeibeamten, die ihn nach dem Vorfall auf dem nächsten Autobahnparkplatz vernahmen, schriftlich darüber belehrt, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern und jederzeit einen Verteidiger zu befragen. Der Beschwerdeführer machte daraufhin keine Angaben; die Polizeibeamten haben protokolliert, daß er zunächst informatorisch angegeben habe, er habe nicht innerhalb der Baustelle auf der Autobahn halten wollen.

Mit am 29. Oktober 1990 eingegangenem Anwaltsschriftsatz ließ der Beschwerdeführer gegen den Strafbefehl Einspruch einlegen und gleichzeitig Wiedereinsetzung beantragen. Zur Begründung führte er aus, er habe mangels hinreichender Deutschkenntnisse die Rechtsmittelbelehrung des Strafbefehls nicht verstanden. Beigefügt war eine anwaltliche Versicherung seines Verteidigers, in der dieser mitteilte, er habe sich am Abend des 25. Oktober 1990, als der Beschwerdeführer ihn aufgesucht habe, mit diesem praktisch nur durch Gesten verständigen können. Das Amtsgericht Wiesloch verwarf den Einspruch durch Beschluß vom 27. November 1990 als unzulässig und wies das Wiedereinsetzungsgesuch mit der Begründung zurück, zwar sei es für den Beschwerdeführer um den ersten Zugang zu Gericht gegangen; fehlendes Verschulden im Sinne von § 44 StPO sei gleichwohl nicht hinreichend dargelegt, da der Wiedereinsetzungsantrag ausschließlich auf die Behauptung unzureichender Deutschkenntnisse gestützt worden sei.

Gegen diesen Beschluß legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein, der eine eidesstattliche Versicherung einer Angestellten des Verteidigers beigefügt war. Gemäß dieser konnte sich der Beschwerdeführer auch mit ihr nur unzureichend in deutscher Sprache verständigen, so daß auch sie sich ganz überwiegend der Zeichensprache habe bedienen müssen.

Das Landgericht Heidelberg wies das Rechtsmittel durch Beschluß vom 21. Dezember 1990 zurück. Es führte aus, die Entschuldigung mit unzureichenden Deutschkenntnissen trage nicht. Der Beschwerdeführer lebe offensichtlich schon jahrelang in der Bundesrepublik; sein Führerschein datiere aus dem Jahre 1981. Als Lkw-Fahrer müsse er sicher auch über gewisse Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen. Bei dieser Sachlage sei davon auszugehen, ihm könne es nicht verborgen geblieben sein, daß ihm mit dem zugestellten Strafbefehl eine Strafe auferlegt werde. Daher hätte er sich alsbald über den genauen Inhalt von Strafbefehl und Rechtsmittelbelehrung vergewissern müssen. Daß er sich erst nach Ablauf der Einspruchsfrist zu einem Anwalt begeben habe und deshalb ein rechtzeitiger Einspruch nicht mehr möglich gewesen sei, habe er somit selbst verschuldet.

II.

Der Beschwerdeführer sieht sich durch diese beiden Entscheidungen in seinen Rechten aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie aus Art. 19 Abs. 4 GG beeinträchtigt.

Die Anforderungen an die Wiedereinsetzungsvoraussetzungen seien überspannt worden. Das Amtsgericht habe verkannt, daß mangelhafte Deutschkenntnisse nicht zu einer Verkürzung seines Rechtsschutzes führen dürften. Das Landgericht habe eine nicht tragbare Beweiswürdigung vorgenommen, indem es entgegen der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung zu der Überzeugung gelangt sei, der Beschwerdeführer verfüge über ausreichende Deutschkenntnisse. Dabei sei es im übrigen unzutreffenderweise davon ausgegangen, er befinde sich im Besitz der – erschwert zu erlangenden – Fahrerlaubnis der Klasse 2. Es sei auch zu erwägen, ob nicht Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK dem jeweiligen Gericht gebiete, bei gegen Ausländer gerichteten Entscheidungen eine Übersetzung der Rechtsmittelbelehrung beizufügen. Bejahe man ein solches Gebot, müsse er so behandelt werden, als sei gar keine Rechtsmittelbelehrung erfolgt.

III.

Dem baden-württembergischen Justizminister ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Er sieht die für eine Entscheidung über ein Wiedereinsetzungsgesuch maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze durch die angegriffenen Entscheidungen nicht mißachtet und hält namentlich die Annahme ausreichender Deutschkenntnisse für vertretbar. Mehrere Umstände sprächen indiziell dafür, daß der Beschwerdeführer schon seit längerer Zeit in Deutschland lebe und über ausreichende Sprachkenntnisse verfüge, um Strafbefehl und Rechtsmittelbelehrung verstehen zu können. Zu berücksichtigen sei, daß er in Köln lebe, über eine 1981 ausgestellte deutsche Fahrerlaubnis verfüge und zur Unfallzeit offensichtlich als Berufskraftfahrer unterwegs gewesen sei. Auch lasse der polizeiliche Abschlußvermerk erkennen, daß nach dem Unfall eine in deutscher Sprache vorgenommene informatorische Befragung des Beschwerdeführers möglich gewesen sei und dieser dabei verständliche Angaben über den Grund des unterbliebenen Anhaltens am Unfallort habe machen können. Gehe man, wie das Landgericht, in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, daß der Beschwerdeführer der deutschen Sprache hinreichend mächtig gewesen sei, könne die Ablehnung einer ausreichenden Glaubhaftmachung mangelnden Verschuldens auch unter dem Gesichtspunkt nicht ausreichender Interessenwahrung verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden.

 

Entscheidungsgründe

B.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

I.

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 19 Abs. 4 sowie des Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Im gerichtlichen Verfahren fordern Art. 103 Abs. 1 GG und – in Fällen ersten Zugangs zu Gericht – Art. 19 Abs. 4 GG, daß die mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache bei einem Ausländer nicht zu einer Verkürzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor Gericht führen darf. Versäumt daher ein der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtiger Ausländer, dem ein Strafbefehl in deutscher Sprache ohne eine ihm verständliche Belehrung über den Rechtsbehelf des Einspruchs zugestellt worden ist, die Einspruchsfrist, so verbieten es die Rechtsschutzgarantien der Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG, die Versäumung der Einspruchsfrist, soweit sie auf den unzureichenden Sprachkenntnissen des Ausländers beruht, als verschuldet im Sinne des Rechts auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzusehen. Unzureichende Sprachkenntnisse entheben den Ausländer allerdings nicht der Sorgfaltspflicht in der Wahrnehmung seiner Rechte. Wird daher einem Ausländer ein Strafbefehl zwar ohne ihm verständliche Rechtsmittelbelehrung zugestellt, kann er aber seinen Inhalt jedenfalls soweit erfassen, daß es sich um ein amtliches Schriftstück handeln könnte, das eine ihn belastende Verfügung enthält, so können im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht zumutbare Anstrengungen verlangt werden, sich innerhalb angemessener Frist Gewißheit über den genauen Inhalt des Schriftstücks zu verschaffen. Für die Beurteilung der Angemessenheit dieser Frist ist die Länge der Einspruchsfrist nicht maßgebend – deren Unkenntnis ist dem Betroffenen ja gerade nicht vorzuwerfen. Erheblich sind vielmehr die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles; auf ihrer Grundlage muß beurteilt werden, innerhalb welcher Zeit dem Betroffenen welche Maßnahmen zumutbar waren, um ihn in die Lage zu versetzen, den Inhalt des Strafbefehls zu verstehen (vgl. BVerfGE 42, 120 ≪125 ff.≫).

Wie bei der Beurteilung aller Wiedereinsetzungsvoraussetzungen dürfen bei der Bewertung der Angemessenheit der dem Beschwerdeführer zur Wahrnehmung eigener Sorgfaltspflichten zuzugestehenden Frist und der hinreichenden deutschen Sprachkenntnisse eines Betroffenen die Anforderungen an das, was ein Betroffener zur Erlangung von Wiedereinsetzung zu tun habe, nicht überspannt werden, weil die Verwirklichung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG von der Gewährung der Wiedereinsetzung abhängt (vgl. BVerfGE 31, 388 ≪390≫; st. Rspr.).

2. Die angegriffenen Entscheidungen werden diesen Grundsätzen nicht gerecht.

a) Die Entscheidung des Amtsgerichts, die sich auf die Aussage beschränkt, fehlendes Verschulden sei nicht ausreichend dargelegt, weil der Beschwerdeführer es ausschließlich auf fehlende Deutschkenntnisse gestützt habe, läßt nicht einmal erkennen, ob sich das Gericht der Erfordernisse des Art. 103 Abs. 1 GG bei Wiedereinsetzungsgesuchen von Ausländern, die keine ihnen verständliche Rechtsmittelbelehrung erhalten haben, überhaupt bewußt war.

b) Das Landgericht überspannt die Wiedereinsetzungsanforderungen, wenn es ohne nähere Darlegung der Umstände des Falles meint, der Beschwerdeführer habe jedenfalls die rechtliche Bedeutung des Strafbefehls erkannt und sich daher „alsbald” über seinen Inhalt vergewissern müssen. Dies sei nicht der Fall gewesen, weil er sich erst nach Ablauf der Einspruchsfrist zu einem Anwalt begeben habe.

Allerdings begegnet die Annahme, der Beschwerdeführer habe hinreichende Sprachkenntnisse, um die Bedeutung des zugestellten Schriftstücks erkennen zu können, im Blick auf seinen schon langjährigen, mit der Ausübung eines Berufes verbundenen Aufenthalt in der Bundesrepublik keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Landgericht stellt nicht etwa – wie der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde zu meinen scheint – fest, daß er über hinreichende Sprachkenntnisse zum Verständnis der Rechtsmittelbelehrung verfügt habe. Letzteres wäre allerdings mit Rücksicht auf die von dem Beschwerdeführer vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen seines Verteidigers und dessen Kanzleiangestellter sowie auf die Tatsache, daß auch die den Beschwerdeführer vernehmenden Polizeibeamten Anlaß sahen, ihn über seine Rechte als Beschuldigter in seiner Heimatsprache zu belehren, bedenklich. Der Verstoß des Landgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt jedoch darin, daß es ohne nähere Darlegung annimmt, daß der Beschwerdeführer gehalten war, sich innerhalb der ihm nicht bekannten Einspruchsfrist um ein genaues Verständnis von Strafbefehl und Rechtsmittelbelehrung zu bemühen.

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dieser Überspannung der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Gerichte bei Beachtung der oben aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstäbe das Wiedereinsetzungsgesuch als begründet angesehen hätten.

II.

Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG sind die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben. Es ist sachdienlich, die Sache an das Amtsgericht Wiesloch als erstinstanzlich für die Bescheidung des Wiedereinsetzungsgesuchs sowie des Einspruchs zuständiges Gericht zurückzuverweisen.

C.

Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1991, 2208

StV 1991, 497

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