Leitsatz (amtlich)
›Zur Pflicht der Einleitungsbehörde, ihr bekannte Dienstverfehlungen eines Beamten wegen des Grundsatzes der Einheit des Dienstvergehens im Regelfall zum Gegenstand eines einzigen Disziplinarverfahrens zu machen.
Der Verzicht auf Widerspruch gegen den Erlaß eines Disziplinargerichtsbescheids kann widerrufen werden, wenn nachträglich eine wesentliche Änderung der Prozeßlage eingetreten ist.‹
Verfahrensgang
BDIG (Entscheidung vom 15.04.1999; Aktenzeichen V VL 31/98) |
Gründe
I.
1. Der Bundesdisziplinaranwalt hat dem Ruhestandsbeamten mit Anschuldigungsschrift vom 6. November 1998 vorgeworfen, dadurch ein Dienstvergehen begangen zu haben, daß er - obwohl disziplinar einschlägig vorbelastet - nach einer trockenen Phase seiner Alkoholkrankheit am 13./14. Februar sowie am 26. März 1996 unter Alkoholeinwirkung Dienst verrichtet hatte und letztlich wegen wiederholten Rückfalls in die Alkoholsucht ... vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden mußte.
Zuvor waren aufgrund einer Anschuldigungsschrift des Bundesdisziplinaranwalts vom 22. Dezember 1995 durch Disziplinargerichtsbescheid des Bundesdisziplinargerichts vom 1. März 1996, zugestellt am 8. März 1996, die Dienstbezüge des damals aktiven Beamten wegen eines im Jahre 1993 begangenen Dienstvergehens - Trunkenheit im Dienst und Rückfall in die Alkoholsucht mit dienstlichen Auswirkungen (Teilnahme an einer Entziehungstherapie) - um ein Fünfundzwanzigstel auf die Dauer von 30 Monaten gekürzt worden.
2. Das Bundesdisziplinargericht hat das neue Disziplinarverfahren durch Beschluß vom 15. April 1999 mit der Begründung eingestellt, eine gesonderte Verfolgung des der Einleitungsbehörde bereits vor Abschluß des früheren Disziplinarverfahrens bekannt gewesenen Rückfalls in die Alkoholabhängigkeit sei mit Rücksicht auf den Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens unzulässig.
3. Hiergegen hat der Bundesdisziplinaranwalt Beschwerde eingelegt mit dem Antrag, dem Verfahren Fortgang zu geben. Zwar räumt er ein, daß die angeschuldigte Trunkenheit im Dienst am 13./14. Februar 1996 vor Erlaß des Disziplinargerichtsbescheids der Einleitungsbehörde bekannt gewesen sei und deshalb in das noch laufende Disziplinarverfahren hätte einbezogen werden können. Die darüber hinaus angeschuldigten Pflichtverletzungen - Trunkenheit im Dienst am 26. März 1996 und die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand "wegen wiederholt rückfälliger Alkoholkrankheit" - seien jedoch erst nach dem 8. März 1996 (Zustellung des Disziplinargerichtsbescheids) begangen worden. Sie hätten deshalb in dem damaligen Verfahren nicht mehr berücksichtigt werden können. Die disziplinare Relevanz ergebe sich erst aus der Verbindung des Rückfalls mit diesen Pflichtverletzungen nach Bestandskraft des Disziplinargerichtsbescheids.
II.
Die nach § 79 BDO zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Bundesdisziplinargericht hat das Verfahren zu Recht gemäß § 76 Abs. 3 in Verbindung mit § 64 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDO eingestellt, weil es aufgrund eines nicht behebbaren Verfahrensmangel unzulässig ist.
1. Der Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens gebietet es, das durch mehrere Verfehlungen zutage getretene Fehlverhalten eines Beamten einheitlich zu würdigen. Diese einheitliche Betrachtung aller einem Beamten zur Last gelegten Pflichtverletzungen schließt es grundsätzlich aus, für jede einzelne Verfehlung gesondert eine Disziplinarmaßnahme zu bestimmen. Auch ist es in der Regel nicht zulässig, mehrere Verfehlungen in verschiedenen Verfahren zu ahnden, da dadurch eine einheitliche Bewertung weitgehend verhindert würde. Nur durch eine Gesamtwürdigung des Verhaltens und der Persönlichkeit des betroffenen Beamten kann die Frage beantwortet werden, ob dieser für den öffentlichen Dienst noch tragbar und - sofern die Frage bejaht werden kann - in welcher Form auf ihn pflichtenmahnend einzuwirken ist. Liegen dem Dienstvorgesetzten oder der Einleitungsbehörde Vorgänge über mehrere Pflichtverletzungen eines Beamten vor und sind diese entscheidungsreif, so muß darüber auch gleichzeitig entschieden werden (stRspr, z.B. Beschluß vom 4. September 1978 - BVerwG 1 DB 22.78 ≫BVerwGE 63, 123 = BVerwG DokBer B 1978, 317 = ZBR 1979, 24 = DÖD 1979, 26≪; Beschluß vom 9. Juni 1983 - BVerwG 1 D 44.83 ≫BVerwGE 76,90 = BVerwG DokBer B 1983, 331 = DÖD 1983, 219 = ZBR 1983, 243≪, jeweils m.w.N.).
2. Eine Durchbrechung des Grundsatzes der Einheit des Dienstvergehens wird nur in Ausnahmefällen zugelassen. Ein solcher liegt hier, wie die Vorinstanz im Ergebnis zutreffend dargelegt hat, nicht vor.
a) Die Rechtsprechung des Senats erachtet eine isolierte Bewertung einzelner dienstrechtlicher Verfehlungen dann für zulässig, wenn die das Dienstvergehen ausmachenden einzelnen Verfehlungen in keinem inneren oder äußeren Zusammenhang stehen und damit eine gewisse Selbständigkeit haben. Dabei hat der Senat aber klargestellt, daß ein innerer Zusammenhang zwischen mehreren Pflichtverletzungen immer dann gegeben ist und somit eine isolierte Betrachtung ausscheidet, wenn eine bestimmte Neigung des Beamten, eine gewisse Charaktereigenschaft, die gemeinsame innere Wurzel für sein Fehlverhalten bildet (z.B. Urteil vom 6. Mai 1992 - BVerwG 1 D 7.91 ≫BVerwG DokBer B 1992, 220≪ m.w.N.). Nach diesen Grundsätzen ist hier eine einheitliche Bewertung der Verfehlungen des Ruhestandsbeamten geboten. Seine Neigung zum übermäßigen Alkoholgenuß ist als eine in seiner Persönlichkeit wurzelnde Eigenschaft Ursache sowohl für seine Pflichtverletzungen im Jahre 1993 als auch im Jahre 1996 (vgl. dazu Urteil vom 28. April 1981 - BVerwG 1 D 7.80 ≫BVerwGE 73, 166≪).
b) Eine gesonderte Verfolgung einer Dienstpflichtverletzung ist ausnahmsweise auch dann zulässig, wenn dieses Fehlverhalten zur Zeit der letzten Disziplinarentscheidung gegen den Beamten noch nicht entscheidungsreif war, zum Beispiel weil es dem Dienstvorgesetzten oder der Einleitungsbehörde noch nicht bekannt war. Ansonsten, das heißt insbesondere im Falle der rechtzeitigen Kenntnis der Verfehlung, darf diese nur dann gesondert verfolgt werden, wenn die Einleitungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen mit der Entscheidung über die bereits entscheidungsreife andere Dienstpflichtverletzung nicht warten will (stRspr, z.B. Beschluß vom 4. September 1978 a.a.O.; Beschluß vom 9. Juni 1983 a.a.O.; Urteil vom 25. September 1985 - BVerwG 1 D 73.84 und 1 D 36.85 ≫BVerwGE 83, 59 = NVwZ 1986,923 = ZBR 1986, 63 = DVBl 1986, 152≪, jeweils m.w.N.). An einer solchen pflichtgemäßen Ermessensausübung fehlt es hier.
aa) Die Dienstvorgesetzten des Ruhestandsbeamten und auch die Einleitungsbehörde - der Leiter der Dienststelle ... des Bundeseisenbahnvermögens (...) - hatten bereits am 15. Februar 1996 Kenntnis vom Rückfall des Ruhestandsbeamten in die Alkoholsucht anläßlich seiner Trunkenheitsfahrt am 14. Februar 1996 mit einem Dienstkraftfahrzeug. Dies ergibt sich aus dem schriftlichen, an die Einleitungsbehörde weitergeleiteten und dort (erst) am 4. März abgezeichneten Vermerk des Leiters der Niederlassung Ladungsverkehr ... vom 15. Februar 1996. Dort ist unter anderem festgehalten, daß der Ruhestandsbeamte aufgrund vergangener Alkoholprobleme - wegen Rückfalls in die Alkoholabhängigkeit war er zuletzt durch Urteil des Bundesdisziplinargerichts vom 10. Dezember 1992 mit einer Gehaltskürzung belegt worden - kein "unbeschriebenes Blatt" sei. Er werde am 16. Februar 1996 dem Bahnarzt vorgestellt werden. Nach Vorliegen des Bahnarztattests und der polizeilichen Unfallfeststellungen werde die Angelegenheit weiterverfolgt. Die Einleitungsbehörde sei vorab fernmündlich verständigt worden. Das Ergebnis der bahnärztlichen Untersuchung vom 16. Februar 1996 - Feststellung der Untauglichkeit des damals aktiven Beamten für sicherheitsrelevante Tätigkeiten und Äußerung von Zweifeln, daß es sich um den ersten Rückfall nach der letzten Therapie gehandelt habe - war der Dienststelle unmittelbar telefonisch mitgeteilt worden. Das schriftliche Bahnarztgutachten vom 26. Februar 1996 wurde der Einleitungsbehörde am Folgetag mit dem Hinweis übersandt: Vorgang ist bekannt ... wir bitten um weitere Veranlassung. Bereits am 19. Februar 1996 hatte die Dienststelle des Ruhestandsbeamten eine Kopie des polizeilichen Protokolls der Trunkenheitsfahrt des Ruhestandsbeamten an die Einleitungsbehörde mit dem Bemerken weitergeleitet: Bitte veranlassen sie die weiteren Schritte. Der Eingang beider Vorgänge war in der Einleitungsbehörde (erst) am 4. März 1996 abgezeichnet worden.
bb) Es ist nichts dafür ersichtlich, daß die Einleitungsbehörde von ihrem Ermessen pflichtgemäß dahin Gebrauch gemacht hat, wegen der Entscheidungsreife des bereits beim Bundesdisziplinargericht anhängigen Disziplinarverfahrens die dortige Entscheidung nicht durch einen von ihr veranlaßten Aussetzungsantrag gemäß § 67 Abs. 3 BDO zu verzögern und deshalb wegen der inzwischen bekanntgewordenen neuen Verfehlungen des Ruhestandsbeamten gegen diesen ein gesondertes förmliches Disziplinarverfahren einzuleiten. Anhaltspunkte dafür, daß die Einleitungsbehörde bis zu dem Zeitpunkt, als sie Kenntnis vom Erlaß des Disziplinargerichtsbescheids erhielt - dies dürfte am 8. März 1996 gewesen sein, da der Disziplinargerichtsbescheid am Vortag mit einfacher Post vom Gericht abgesandt worden war -, ihr Ermessen ausgeübt hatte, liegen nicht vor. Offensichtlich hatte sie verkannt, daß ihr insoweit ein Ermessen zustand. Eine solche rechtzeitige Ermessensausübung bis Ende Februar/Anfang März 1996 war der Einleitungsbehörde aber möglich und zumutbar. Sie hatte bereits seit 15. Februar 1996 - wie dargelegt - Kenntnis von der erneuten Verfehlung des einschlägig vorbelasteten Ruhestandsbeamten und war mehrfach von seiner Dienststelle aufgefordert worden, deswegen aktiv zu werden. Gegebenenfalls fehlende Unterlagen hätte die Einleitungsbehörde von der Dienststelle des Ruhestandsbeamten telefonisch anfordern und per Telefax erhalten können. Die Einleitungsbehörde hätte daher unverzüglich prüfen und entscheiden müssen, ob der Bundesdisziplinaranwalt dem Bundesdisziplinargericht - eventuell kurzfristig ebenfalls per Telefax - mitzuteilen habe, daß ein neuer Anschuldigungspunkt zum Gegenstand der Verhandlung des bereits anhängigen Disziplinarverfahrens gemacht werden solle; das Bundesdisziplinargericht, das den Disziplinargerichtsbescheid erst am 7. März 1996 abgesandt hatte, hätte dem folgen und das Verfahren aussetzen müssen (§ 67 Abs. 3 BDO, vgl. dazu Köhler/Ratz, BDO, 2. Aufl. 1994, § 67 Rn. 8). Nach Aussetzung des Verfahrens hätte dann auch der weitere Vorfall vom 26. März 1996 und die anschließende Zurruhesetzung des damals noch aktiven Beamten als dienstliche Folge des Rückfalls in die Alkoholabhängigkeit - ... - in das Verfahren einbezogen werden können.
An einer unverzüglichen Ermessensentscheidung war die Einleitungsbehörde auch nicht deshalb gehindert, weil der Bundesdisziplinaranwalt auf die Ankündigung des Bundesdisziplinargerichts, in dem anhängigen Verfahren einen Disziplinargerichtsbescheid zu erlassen, bereits mit Schriftsatz vom 12. Februar 1996 dem Gericht mitgeteilt hatte, er erhebe gegen die beabsichtigte Maßnahme keinen Widerspruch (vgl. § 70 a Abs. 1 Satz 2 BDO). Die Einleitungsbehörde war über den Verfahrensstand nicht informiert. Die Erklärung des Bundesdisziplinaranwalts vom 12. Februar 1996, mit der er auf Einlegung eines Widerspruchs verzichtet hatte, konnte gegenüber dem Bundesdisziplinargericht auch widerrufen werden. Zwar ist eine solche Verzichtserklärung als Prozeßhandlung grundsätzlich unwiderruflich (vgl. zum ähnlichen Regelungstatbestand des § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG: Göhler, OWiG, 12. Aufl. 1998, § 72 Rn. 43 m.w.N.). Etwas anderes gilt aber, wenn nach der Verzichtserklärung eine wesentliche Änderung der Prozeßlage eingetreten ist (vgl. Göhler a.a.O.; vgl. auch § 128 Abs. 2 Satz 1 ZPO; Köhler/Ratz a.a.O. § 70 a Rn. 12 gehen von einer freien Widerrufsmöglichkeit aus). Im vorliegenden Fall lag aufgrund des neuen Anschuldigungspunktes eine wesentliche Änderung der Sachlage vor, die den Bundesdisziplinaranwalt berechtigt hätte, gemäß § 67 Abs. 3 BDO vorzugehen. Die entsprechende Mitteilung des Bundesdisziplinaranwalts an das Bundesdisziplinargericht wäre als zulässiger Widerruf des Verzichts auf Widerspruch gegen den Erlaß eines Disziplinargerichtsbescheids zu qualifizieren gewesen.
Hat die Einleitungsbehörde nach alledem verkannt, daß ihr ein Ermessen zustand, so war dieses nicht pflichtgemäß ausgeübt und damit ebenso rechtsfehlerhaft wie im Fall einer Ermessensüberschreitung oder eines Ermessensmißbrauchs (stRspr, z.B. Beschluß vom 9. Juni 1983 a.a.O. m.w.N.). Mangels ordnungsgemäßer Ermessensausübung bleibt die gesonderte Verfolgung der hier geltend gemachten Verfehlungen unzulässig.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 114 Abs. 1 Satz 2, § 115 Abs. 3 Satz 1 BDO.
Fundstellen
BVerwGE, 54 |
NVwZ-RR 2000, 449 |
ZBR 2000, 315 |
DÖD 2001, 31 |
DÖV 2000, 777 |
DVBl 2000, 1135 |
BayVBl. 2000, 567 |
DVBl. 2000, 1135 |
NPA 2001 |