Rz. 96
Es ist umstritten, ob die Hinzurechnungsbesteuerung unionsrechtskonform ist. Im Schrifttum wird mehrfach vertreten, die Hinzurechnungsbesteuerung verstoße gegen die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit, soweit die Vorschriften zur Hinzurechnungsbesteuerung in Ausgestaltung der Bemessungsgrundlage, des Steuersatzes oder den Anrechnungsmöglichkeiten im Vergleich zur steuerlichen Behandlung von Inlandsinvestitionen zurückbleiben. Dies betreffe insbesondere die in § 10 Abs. 2 S. 4 AStG normierte Nichtanwendung von § 3 Nr. 40 S. 1 Buchst. d) EStG und § 8b Abs. 1 KStG auf den Hinzurechnungsbetrag. Im Zusammenhang mit der Versagung des § 8b Abs. 1 KStG wird etwa von Gosch zutreffend die Frage aufgeworfen, ob eine diskriminierende Verletzung der unionsrechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) vorliegt. Dafür spreche die Ausklammerung niedrigbesteuerter Zwischeneinkünfte aus dem Anwendungsbereich des § 8b KStG. Vorbelastete Zwischeneinkünfte mit einer Besteuerung von genau 25 % (nunmehr 15 % gem. § 8 Abs. 5 S. 3 AStG) blieben von der Hinzurechnungsbesteuerung verschont. Sofern die Zwischeneinkünfte aber die Niedrigsteuerschwelle nur knapp unterschreiten, erfolgt eine Hochschleusung der Besteuerung auf – im Regelfall – über 30 % (KSt und GewSt). Im Ergebnis sei es inkonsequent, aktiven Gesellschaften eine Steuerfreiheit ungeachtet der Vorbelastung einzuräumen, passiven Gesellschaften unter vergleichbaren Umständen aber nicht.
Es ist mE durchaus fraglich, ob diese Ungleichbehandlung aktiver und passiver Gesellschaften mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Die Hinzurechnungsbesteuerung wirkt schließlich nur für passiv tätige Gesellschaften als "Vorbelastungsregime", wonach die passiven Einkünfte auf das inländische Besteuerungsniveau "hochgeschleust" werden. Für aktiv tätige Gesellschaften ist die Steuervorbelastung im Ausland hingegen ohne Bedeutung.
Rz. 97
Der BFH bestätigte in einem AdV-Verfahren im Zusammenhang mit der Niedrigsteuergrenze von (ehemals) 25 % verfassungs- und unionsrechtliche Zweifel an der Hinzurechnungsbesteuerung gem. §§ 7 ff. AStG.
Danach sei es nicht zu rechtfertigen, dass im Rahmen der Hinzurechnungsbesteuerung eine höhere Besteuerung gefordert werde, als die niedrigste nationale Gesamtsteuerbelastung bei unbeschränkt Steuerpflichtigen i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 KStG von 22,825 % (unter Beachtung der Gewerbesteuer). Im Kern verschiebe die zu hohe Niedrigsteuergrenze von (ehemals) 25 % den Charakter der Hinzurechnungsbesteuerung als Maßnahme gegen Bekämpfung der Gewinnverlagerung in niedrig besteuerte Gebiete hin zu einem generellen Anrechnungssystem.
Der I. Senat des BFH gibt gleichwohl zu erkennen, bei einer – wie im Streitfall – fehlenden steuerlichen Vorbelastung der Einkünfte im Ausland ("Nullbesteuerung") nicht von einem Verstoß gegen das Unionsrecht auszugehen.
Rz. 98
Steuerpflichtige sind auf Basis dieser Aussagen des BFH zumindest für Besteuerungszeiträume bis einschließlich 2023 angehalten gegen die Hinzurechnungsbesteuerung vorzugehen, sofern es bei einer "ausreichenden" Vorbelastung der Einkünfte im Ausland zu Anrechnungsüberhängen kommt. Eine "ausreichende" Vorbelastung der ausländischen Einkünfte könnte die Rechtsprechung wohl bei 15,825 % (Minimalbelastung im Inland mit Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag) annehmen.
In diesen Fällen liegt in der Niedrigsteuergrenze von 25 % mE eine nicht zu rechtfertigende und im Kern verfehlte Typisierung vor. Diese Zweifel bestätigte auch der BFH. Die Reduzierung der Niedrigsteuergrenze von 25 % auf 15 % in § 8 Abs. 5 S. 3 AStG durch das Mindestbesteuerungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz dürfte zumindest die vom BFH aufgezeigten Zweifel an der Unionsrechtskonformität der Hinzurechnungsbesteuerung im Grundsatz beseitigen.
Rz. 99
Messen lassen muss sich die Hinzurechnungsbesteuerung darüber hinaus an den primärrechtlichen Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung. Wichtigstes Grundsatzurteil hierzu ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Cadburry Schweppes".
Danach sei den hinzurechnungsverpflichteten Steuerpflichtigen ein Nachweis zu ermöglichen, dass keine "rein künstliche Gestaltung" vorliegt. Auch aus Art. 7 Abs. 2 Buchst. a) ATAD ergibt sich im Übrigen die Verpflichtung eines Entlastungsnachweises.
Der Nachweis wurde in § 8 Abs. 2-4 AStG (und § 13 Abs. 4 AStG) umgesetzt. Begrenzt ist dieser aber nach § 8 Abs. 3 AStG (für die reguläre Hinzurechnungsbesteuerung) auf ausländische Gesellschaften mit Sitz oder Geschäftsleitung in der EU bzw. im EWR.
Darüber hinaus entschied der EuGH in der Rechtssache "X" zur alten Regelung in § 7 Abs. 6 AStG a. F. (Anwendungsfall der verschärften Hinzurechnungsbesteuerung), dass auch insoweit ein Motivtest zu ermöglichen sei.
Dieser wurde im Anwendungsbereich der verschärften Hinzurechnungsbesteuerung in § 13 Abs. 4 AStG umgesetzt und kommt – im Rahmen des § 13 AStG mangels Verweises auf § 8 Abs. 3 AStG – auch im Drittstaatenfall zur Anwendung.
Rz. 100
Hint...