Dr. Tobias Hagemann, Prof. Dr. Adrian Cloer
Rz. 17
Bereits im Gesetzgebungsverfahren erfolgte der Hinweis auf das Europarecht. Ende der sechziger bzw. zu Beginn der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts war die Tragweite des europäischen Rechts für das Steuerrecht noch gar nicht absehbar. Im Laufe der Zeit erwies sich aber das Unionsrecht durch die EuGH-Rechtsprechung als Korrektiv zu den Grundverkehrsfreiheiten. Dies zeigt sich insbesondere an den Urteilen in den Rs. Hughes de Lasteyrie du Saillant (Notwendigkeit der Stundung bei der Wegzugsteuer), Rs. Cadburry Schweppes (Notwendigkeit des Substanznachweises im Rahmen der Hinzurechnungsbesteuerung), Rs. Columbus Container (Vereinbarkeit des Methodenwechsel in § 20 Abs. 2 AStG), Rs. Hornbach (Ausgestaltung der Einkünftekorrektur des § 1 AStG), Rs. SGI (Rechtfertigung der Einkünftekorrektur); Rs. X-GmbH (Substanznachweis bei Drittstaatenfällen), Rs. Wächtler (Auswirkungen des Freizügigkeitsabkommens mit der Schweiz auf die Wegzugsbesteuerung). Als wesentlicher Impuls des europäischen Gesetzgebers erwies sich die Steuervermeidungspraktikenbekämpfungs-RL (EU 2016/1164). Der deutsche Gesetzgeber nahm dies als Anlass, nicht nur die europarechtlich erforderlichen Anpassungen vorzunehmen, sondern darüber hinaus auch die Wegzugsteuer zu verschärfen. Diese ist aber vom Anwendungsbereich der vorgenannten RL gar nicht umfasst. Ebenso wenig besteht europarechtlich die Notwendigkeit, auch natürliche Personen den unionsrechtlichen Vorgaben der RL zu unterwerfen, hier geht der Gesetzgeber über das erforderliche Maß hinaus und lässt sich vielmehr von der bisherigen Regelungspraxis leiten.
Ob die einzelnen Regelungen im Einzelfall europarechtskonform sind, ist sorgfältig zu prüfen und der Streit, wie dieses Ziel erreicht werden kann, ist häufig noch nicht abgeschlossen. Dies gilt insbesondere für die Frage der unionsrechtskonformen Ausgestaltung der Wegzugsteuer, selbst wenn der BFH die Aussagen in der Rs. Wächtler als "klar und eindeutig" erachtet, erscheint auch eine andere Lösung als unionsrechtlich zumindest vertretbar und es bleibt abzuwarten, ob zu einem späteren Zeitpunkt der EuGH seine Entscheidung ggf. korrigiert und in Richtung des sog. Portugal-Urteils übergeht. Ebenso zweifelhaft erscheint die Unionsrechtskonformität der Hinzurechnungsbesteuerung aus einer anderen Perspektive: Der deutsche Gesetzgeber entschied sich – entgegen der RL-Vorgabe (vgl. Art. 7 Abs. 2 lit a) iii) RL (EU) 2016/1164) – Beteiligungserträge und Veräußerungsgewinne als aktiv für Zwecke der Hinzurechnungsbesteuerung einzustufen. Keinem Zweifel unterliegt jedoch die Unrichtigkeit der Aussage in der Gesetzesbegründung: "Die Nummer 7 (gemeint § 8 Abs. 1 Nr. 7 KStG, d. h. Aktivstellung der Beteiligungserträge) hält an diesem Grundsatz fest. Die ATAD steht dem nicht grundsätzlich entgegen, zumal sie sich nur auf die Hinzurechnung der nicht ausgeschütteten Gewinne bezieht und unter Berücksichtigung der Besonderheiten eines Körperschaftsteuersystems wie des deutschen auszulegen ist." Zum einen ist bereits die Vorstellung, die Hinzurechnungsbesteuerung betreffe nur nichtausgeschüttete Gewinne, mehr als fraglich (vielmehr ist von einem Redaktionsversehen auszugehen). Zum anderen ist es mit dem Anwendungsvorrang des Europarechts unvereinbar, von der Notwendigkeit der Auslegung einer Richtlinie im Lichte des deutschen Steuerrechts auszugehen, umgekehrt erweist sich die Aussage als richtig.