a) BFH v. 28.5.2019 – II R 37/16
Der BFH folgt in seiner Revisionsentscheidung v. 28.5.2019 im Wesentlichen der Rechtsauffassung des FG Münster (FG Münster v. 28.9.2016 – 3 K 3793/15 Erb, EFG 2016, 2079 = ErbStB 2017, 2 [Rothenberger]). Die Vorinstanz habe zu Recht entschieden, dass der Kläger die Wohnung nicht unverzüglich zur Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken bestimmt habe. Der Erwerber müsse darlegen und glaubhaft machen, zu welchem Zeitpunkt er sich zur Selbstnutzung als Familienheim entschlossen habe, aus welchen Gründen ein Einzug nicht früher möglich war und warum er diese Gründe nicht zu vertreten habe (vgl. BFH v. 28.5.2019 – II R 37/16, BStBl. II 2019, 678 Rz. 22 = ErbStB 2019, 249 [Hartmann]). Der Kläger habe erst nach Ablauf der zuzubilligenden Bedenk- und Umzugszeit von sechs Monaten Angebote von Handwerkern eingeholt und damit überhaupt mit der Renovierung begonnen. Er konnte nicht darlegen und glaubhaft machen, dass ihm diese Verzögerung des Einzugs nicht anzulasten sei (vgl. BFH v. 28.5.2019 – II R 37/16, BStBl. II 2019, 678 Rz. 24 = ErbStB 2019, 249 [Hartmann]). Die eng am Wortlaut vorgenommene Auslegung des § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 1 ErbStG sei zudem geboten, weil die Steuerbefreiung verfassungsrechtlichen Bedenken unterliege (vgl. BFH v. 5.10.2016 – II R 32/15, BFH v. 5.10.2016 – II R 118/15, BStBl. II 2017, 130 Rz. 17 = ErbStB 2017, 32 [Hartmann]; BFH v. 29.11.2017 – II R 14/16, BStBl. II 2018, 362 Rz. 27 = ErbStB 2018, 133 [Marfels]; zur Diskussion s.a. Meßbacher-Hönsch, ZEV 2015, 382; Wachter, FR 2015, 193, 212–213).
b) BFH v. 6.5.2021 – II R 46/19 und BFH v 16.3.2022 – II R 6/21
In den Revisionsentscheidungen v. 6.5.2021 (vgl. BFH v. 6.5.2021 – II R 46/19, ECLI:DE:BFH:2021:U.060521.IIR46.19.0, BStBl. II 2022, 342 = ErbStB 2022, 1 [Heinrichshofen]) und v. 16.3.2022 (vgl. BFH v. 16.3.2022 – II R 6/21, HFR 2022, 947 = ErbStB 2022, 291 [Heinrichshofen]) hob der BFH die Entscheidungen der Vorinstanzen auf. Die FG seien von zu strengen Maßstäben ausgegangen.
Beraterhinweis Die bisherigen Entscheidungen des BFH im Zusammenhang mit dem erbschaftsteuerlichen Familienheim gingen fast überwiegend zu Lasten der Steuerpflichtigen, weshalb die vorgenannten Entscheidungen einen Lichtblick für die Beratungspraxis darstellen. Der BFH relativiert damit die strengen Anforderungen an die unverzügliche Selbstnutzung aus seinem vorherigen Urteil v. 28.5.2019 (vgl. BFH v. 28.5.2019 – II R 37/16, BStBl. II 2019, 678 Rz. 22 = ErbStB 2019, 249 [Hartmann]).
Es obliege dem Erwerber, die Renovierungsarbeiten und die Beseitigung etwaiger Mängel zeitlich so zu fördern, dass es nicht zu Verzögerungen komme, die nach der Verkehrsanschauung als unangemessen anzusehen seien. Ein unverhältnismäßiger Aufwand zur zeitlichen Beschleunigung sei jedoch nicht erforderlich. Vielmehr reiche es aus, wenn der Erwerber alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergreife. Eine zeitliche Verzögerung des Einzugs aufgrund von Renovierungsarbeiten sei dem Erwerber nicht anzulasten, wenn er die Arbeiten unverzüglich in Auftrag gebe, die beauftragten Handwerker sie aber aus Gründen, die der Erwerber nicht zu vertreten habe, z.B. wegen einer hohen Auftragslage, nicht rechtzeitig ausführen könne (vgl. BFH v. 6.5.2021 – II R 46/19, ECLI:DE:BFH:2021:U.060521.IIR46.19.0, BStBl. II 2022, 342 Rz. 21 = ErbStB 2022, 1 [Heinrichshofen]). Zudem könne von dem Erwerber nur die zeitliche Förderung verlangt werden, zu der er gesundheitlich in der Lage sei. Was diesbezüglich von dem Erwerber verlangt werden könne, sei eine Frage des Einzelfalls und Gegenstand der Würdigung durch die Finanzbehörde bzw. das FG (vgl. BFH v. 16.3.2022 – II R 6/21, HFR 2022, 947 Rz. 18 = ErbStB 2022, 291 [Heinrichshofen]).
Ein Indiz für die unverzügliche Bestimmung zur Selbstnutzung sei die zeitnahe Räumung bzw. Entrümpelung der erworbenen Wohnung. Verzögere sich der Einzug, weil zunächst ein gravierender Mangel beseitigt werden müsse, sei eine spätere Entrümpelung der Wohnung unschädlich, wenn sie nicht ihrerseits zu einem verzögerten Einzug führe (vgl. BFH v. 6.5.2021 – II R 46/19, ECLI:DE:BFH:2021:U.060521.IIR46.19.0, BStBl. II 2022, 342 Rz. 22 = ErbStB 2022, 1 [Heinrichshofen]). Der Erwerber könne die zeitnahe Räumung bzw. Entrümpelung selbst durchführen oder Dritte (Privatpersonen oder professionelle Entrümpelungsunternehmen) damit beauftragen. Die Arbeiten müsse der Erwerber nach den Möglichkeiten seines Gesundheitszustands zeitlich angemessen fördern.