Leitsatz
1. Die im zweiten und dritten Teil der Vorabentscheidungsfragen enthaltenen Fragen nach der Auslegung der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25.7.1978 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 Buchst. g des Vertrags über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen sind zulässig.
2. Die Vierte Richtlinie 78/660 schließt nicht aus, dass nach ihrem Art. 20 Abs. 1 zu vermutende Verluste oder Verbindlichkeiten aufgrund einer gem. Art. 14 dieser Richtlinie unter der Bilanz angegebenen Verpflichtung auf der Passivseite der Bilanz als Rückstellung ausgewiesen werden, sofern der fragliche Verlust oder die fragliche Verbindlichkeit am Bilanzstichtag als wahrscheinlich oder sicher qualifiziert werden kann. Art. 31 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie schließt nicht aus, dass zur Wahrung der Grundsätze der Vorsicht und des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögenslage eine pauschale Beurteilung aller relevanten Gesichtspunkte die geeignetste Bewertungsmethode darstellt.
3. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens stellt die nach dem Bilanzstichtag (auf den für die Bewertung der Bilanzposten abzustellen ist) erfolgte Rückzahlung eines Kredits keine Tatsache dar, die eine rückwirkende Neubewertung einer Rückstellung erfordert, die sich auf diesen Kredit bezieht und auf der Passivseite der Bilanz ausgewiesen ist. Die Beachtung des Grundsatzes des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes verlangt jedoch, dass im Jahresabschluss der Wegfall des mit dieser Rückstellung erfassten Risikos erwähnt wird.
Normenkette
4. RL 78/660/EWG
Sachverhalt
Das Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg erging in dem Rechtsstreit einer Bank, der BIAO mit Sitz in Paris, gegen ein Hamburger FA. Die BIAO unterhielt in Hamburg eine Zweigniederlassung, die ein Kreditinstitut betrieb. In dem Rechsstreit ging es um die Gewerbesteuer dieser Zweigniederlassung und hierbei konkret um Verluste aus der Risikounterbeteiligung der Bank, die diese rückstellen wollte. Das FA lehnte das ab; es fehle an der zu erwartenden Zahlungsunfähigkeit des Hauptschuldners.
Entscheidung
Die maßgeblichen Erkenntnisse des EuGH ergeben sich aus den aus den Leitsätzen ersichtlichen Antworten auf das Vorabentscheidungsersuchen, die in den Praxis-Hinweisen näher verdeutlicht werden. Es genügt, darauf zu verweisen.
Hinweis
1. Seit langem wogt ein Streit unter Experten, ob und ggf. in welchem Umfang der EuGH für die Auslegung deutschen Bilanzsteuerrechts zuständig ist. Grund für diese Annahme und deren Befürworter ist einerseits der Umstand, dass die 4. RL 78/660/EWG, die sog. Bilanz-Richtlinie, kurz BiRiLi, sich des (Handels-)Bilanzrechts auf EG-Ebene angenommen hat, andererseits § 5 Abs. 1 EStG, der das deutsche Maßgeblichkeitsprinzip festlegt und auf diese Weise Handelsrecht in das Steuerrecht "weitertransportiert" und "verkettet". Bekanntermaßen zieht der EuGH den Kreis seiner Zuständigkeit – bisweilen – allzu weit und beansprucht durchaus auch Zuständigkeiten in das nationale Recht hinein, dann nämlich, wenn die nationale Rechtsordnung dieses EG-Recht jenseits dessen eigentlichen Regelungsbereichs als eigenes übernimmt. Die Ungewissheit über die Zuständigkeitsfrage hatte deshalb auch bereits dem I. Senat des BFH in jüngster Vergangenheit Anlass gegeben, die Frage nach der Vorlagebedürftigkeit dem Großen Senat vorzulegen; dieser Vorlagebeschluss (vom 9.9.1998, I R 6/96, BStBl II 1999, 129) wurde allerdings sodann später zurückgenommen.
2. Vor diesem Hintergrund hatte das FG Hamburg (Beschluss vom 22.4.1999, DStRE 2000, 171) dem EuGH ein ungemein voluminöses Vorabentscheidungsersuchen zu (bilanziellen) Rechtsfragen des Ausweises von Garantieverpflichtungen, der Einzel- und Pauschalbewertung sowie des Gesichtspunkts der Wertaufhellung vorgelegt – nach Ansicht von Kessler (IStR 2000, 531) eine "wahre Litanei an Fragen" u.a. zur Bilanzierung von Kreditrisiken. Dem Vernehmen nach erforderte allein die Übersetzung dieses Machwerks in alle EU-Sprachen diverse Sondereinsätze der Übersetzer.
3. Zuständigkeit des EuGH: Angesichts dieser Leistung des FG waren beträchtliche Zweifel daran laut geworden, dass der EuGH sich überhaupt für zuständig erklären würde, deutsches Bilanzrecht auszulegen (z.B. Kessler, ebd.; s. auch wfr. = Wassermeyer, DB 1999, 2189). Diese Zweifel wurden durch die Schlussanträge des Generalanwalts genährt. Sie erwiesen sich indes als unbegründet. Der EuGH stellt zwar heraus, dass die BiRiLi nur allgemeine Grundsätze zu Fragen der Rechnungslegung aufstelle und keine Detailfragen regele. Das bleibe (noch) den Mitgliedsstaaten überlassen. Dennoch gelte es, eben diese Grundsätze zu beachten, und darum, ob dies tatsächlich geschehen sei. In dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg sei diese Beziehung zum Europarecht nicht auf den ersten Blick erkennbar. Es gehe dem FG letztlich aber doch um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht, und das genüge, um die Zuständigkeit des EuGH zu begründen.
4. Rechnungslegungsk...