a) Grundsätze
Unverschuldete Verhinderung maßgeblich: Eine Fristverlängerung zur Abgabe von Steuererklärungen durch das FA ist nach § 109 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO i.V.m. § 149 Abs. 3 AO nur dann möglich, wenn der Steuerpflichtige ohne Verschulden daran gehindert ist oder war, die Erklärungsfrist einzuhalten (sog. unverschuldete Verhinderung). Zu beachten ist, dass das Verschulden eines Vertreters oder Erfüllungsgehilfen dem Steuerpflichtigen zuzurechnen ist, so dass ein Verschulden des steuerlichen Beraters an der Fristeinhaltung insoweit dem Steuerpflichtigen als Abgabeverpflichteten selbst zuzurechnen ist (§ 109 Abs. 2 S. 3 AO).
Beraterhinweis Wenn keine unverschuldete Verhinderung besteht, weil entweder dem Mandanten oder dem Berater selbst ein Verschulden anzulasten ist, dann ist bereits dem Grunde nach keine Ermessensentscheidung eröffnet. Das FA kann und braucht mangels Tatbestandlichkeit der unverschuldeten Verhinderung dann auch keine Ermessenserwägungen zur Ablehnung anstellen, wenn es bereits die unverschuldete Verhinderung verneint.
Auslegungshinweise: Bei der Auslegung der Fristverlängerungen in Beratenenfällen einschränkenden Vorschrift des § 109 Abs. 2 AO ist aus Sicht des Verfassers zu beachten, dass der Gesetzgeber den steuerlichen Beratern bei der Neufassung des § 109 Abs. 2 AO (vgl. Art. 1 des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens (StVfModG) v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679) bereits entgegengekommen ist. Denn vor der Änderung war es üblich, dass durch gleichlautende Länderlasse die generelle Abgabefrist in Beratenenfällen – allgemein für alle Beratenenfälle – nur bis zum 31.12. des auf den Besteuerungszeitraum folgende Kalenderjahr verlängert worden ist und es für eine Verlängerung bis zum 28.2. bzw. 29.2. des zweiten auf den Besteuerungszeitraum folgenden Kalenderjahres insoweit eines begründeten Einzelfallantrags bedurfte (vgl. exemplarisch hierzu gleichlautender Ländererlass der obersten Finanzbehörden der Länder v. 2.1.2018, BStBl. I 2018, 70).
Insoweit ist aus Sicht des Verfassers der gesetzgeberische Wille zu beachten, den steuerlichen Beratern im Vergleich zur alten Rechtslage, eine – nun gesetzlich verankerte – (deutlich) verlängerte Frist im Vergleich zu Nichtberatenenfällen einzuräumen, im Gegenzug jedoch Fristverlängerungen darüber hinaus restriktiv handhaben zu wollen (vgl. hierzu auch BT-Drucks. 18/7457, 74). Es wird sich deshalb für eine enge Auslegung bei der Frage, ob Fristverlängerungen in Beratenenfällen über die ohnehin bereits lange Abgabefrist hinaus zu gewähren sind, ausgesprochen.
b) Unverschuldete Verhinderung in Beratenenfällen als Anknüpfungspunkt
Gesetzgeberischer Wille: Damit überhaupt eine Ermessensentscheidung des FA eröffnet ist, muss eine unverschuldete Verhinderung vorliegen. Hierzu werden nach h.M. die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur unverschuldeten Verhinderung bei der Wiedereinsetzung nach den §§ 110 AO, 56 FGO auch in Bezug auf § 109 Abs. 2 AO herangezogen (vgl. zum gesetzgeberischen Willen BT-Drucks. 18/7457, 74; vgl. zur Verwaltungsauffassung exemplarisch BMF v. 23.6.2022, BStBl. I 2022, 938, Rz. 17; vgl. Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 109 AO Rz. 5 [03/2024]).
Rückgriff auf das Zivilrecht: Unter Heranziehung des zivilrechtlichen Verschuldensbegriffs nach § 276 Abs. 1 BGB, welcher grds. auch im Steuerrecht Anwendung findet (vgl. hierzu exemplarisch BFH v. 28.7.2015 – II B 150/14; BFH v. 4.12.2003 – XI B 181/01), reicht es, wenn dem Steuerpflichtigen – oder wegen der Zurechnung nach § 109 Abs. 2 S. 3 AO dessen steuerlichem Berater – bei der Nichteinhaltung der Erklärungsfrist Vorsatz (= Wissen und Wollen) oder Fahrlässigkeit (= Nichtbeachtung der erforderlichen Sorgfalt) anzulasten ist. Hierbei ist grds. auf einen subjektiven Verschuldensmaßstab abzustellen (vgl. Achsnich in BeckOK/AO, § 110 AO Rz. 185 [04/2024]), wobei in Beratenenfällen insb. bei Sorgfaltsverletzungen durch einen Berufsträger von einem annähernd objektivierten Verschuldensmaßstab auszugehen ist. Denn Berufsträger treffen berufsständisch und haftungsrechtlich entsprechend hohe Anforderungen an die Sorgfalt, so dass strenge Maßstäbe angelegt werden müssen, wenn ein (Un-)Verschulden geprüft wird.