Das Steuerstrafrecht ist "Blankettstrafrecht". So kurz und prägnant formuliert es der BGH (BGH v. 19.4.2007 – 5 StR 549/06, NStZ 2007, 595), um in der Folge auszuführen, was das bedeutet: Der Unterschied zu anderen Straftatbeständen liege darin, dass erst das Blankettstrafgesetz und die blankettausfüllenden Normen zusammen die maßgebliche Strafvorschrift bilden. Deshalb müsse sich der im Steuerstrafverfahren tätige Richter selbst mit den blankettausfüllenden Normen des materiellen Steuerrechts befassen und diese auf den Einzelfall anwenden (dazu auch Jäger, StraFo 2006, 477). Jäger formuliert es äußerst treffend (Jäger, StraFo 2006, 477): Die Kenntnis strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Vorschriften reiche für die Beurteilung von Steuerstraftaten nicht aus. Vielmehr müsse sich der im Steuerstrafverfahren tätige Richter mit den blankettausfüllenden Normen des materiellen Steuerrechts befassen und diese auf den Einzelfall anwenden (dazu auch explizit und kritsch gegenüber der Realität Wenzler, AO-StB 2019, 116). Wer sich als gestandener Strafrechtler dem Steuerstrafrecht nähere, merke schnell, dass er viel dazulernen muss. Keine andere Blankettstrafnorm sei mit einem so umfangreichen, komplizierten und einem ständigen Wandel unterworfenen Rechtsgebiet verbunden wie das Steuerstrafrecht mit dem materiellen Steuerrecht und seinen Bezügen zum EG-Recht.[4] Nachgerade abschreckend für die, die am Anfang einer Annäherung im Sinne dieser Vorgaben agieren, mag es denn auch wirken, dass der BGH dieses präsente Wissen nicht nur für die inländischen Steuernormen verlangt. Würden Blankettstraftatbestände – wie in den Fällen des § 370 Abs. 6 AO und des § 374 Abs. 2 AO – nicht nur durch deutsche Steuergesetze und die Vorschriften des Zollkodexes, sondern auch durch Verbrauchsteuergesetze anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften ausgefüllt, gelte nämlich nichts anderes (dazu BGH v. 1.2.2007 – 5 StR 372/06, wistra 2007, 224; v. 8.11.2000 – 5 StR 440/00, BGH wistra 2001, 62, 63).

Verfassungswidrige Steuergesetze: Damit aber nicht genug: Was etwa ist, wenn die Verwirklichung des Steuertatbestandes als solcher daran scheitert, dass die betreffende Norm verfassungswidrig ist? Nun, hier sind die Konsequenzen dann doch eindeutig: Denn wenn etwa das Bundesverfassungsgericht ein Steuergesetz als verfassungswidrig einstuft, dann kann diesbezüglich auch keine Bestrafung wegen (vollendeter) Steuerhinterziehung erfolgen (vgl. etwa zur Problematik BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121; s.a. Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 zur Zinsbesteuerung; Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 zur VSt; Schmidt, wistra 1999, 121 zur VSt.). Beachten Sie: Dies sollte anders zu sehen sein, wenn – wie bei der Vermögensteuer (BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121) – dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist für eine Neuregelung eingeräumt wird. Denn dann gelten für diese Periode die streitigen Normen weiter, durchaus mit strafrechtlicher Konsequenz (so etwa auch BGH v. 7.11.2001 – 5 StR 395/01, BGHSt 47, 138).

Auseinandergehen von Steuer- und Strafverfahren: Was aber, wenn die einzelnen Verfahrenssituationen sich – wie in den vorangestellten Beispielfällen – unterschiedlich entwickeln? Was, wenn die Steuernormen dermaßen komplex sind, dass es mehr als gewagt ist, wenn Strafrichter mit einer Bestrafung vorpreschen?[5] Was, wenn sich Strafrichter im Stemmen steuerrechtlicher Fragen schlichtweg überheben? Was, wenn sie den Vorgaben des BGH zur Entwicklung steuerlicher Kompetenzen nicht gerecht werden?[6] Um es deutlich zu sagen: Der Gesetzgeber hat Derartiges erst einmal in Kauf genommen. Besteuerungsverfahren und Strafverfahren können eigene Wege gehen, wie eine Regelung wie die des § 370 Abs. 4 S. 3 AO zeigt. Danach ist von einer Steuerverkürzung auch dann auszugehen, wenn die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können (sog. Kompensationsverbot; dazu etwa Madauß, NZWiSt 2012, 456; Bilsdorfer, DStZ 1983, 447).

Das Kompensationsverbot hat den Effekt, dass jemand wegen Steuerhinterziehung bestraft werden kann, obwohl er gar keine Steuer schuldet. Die Regelung soll der Arbeitserleichterung der Strafverfolgungsbehörden dienen, indem diese der Aufgabe enthoben werden, den Steueranspruch festzustellen, wobei etwa tatsächlich entstandenen Betriebsausgaben schließlich doch im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen sind (vgl. BGH v. 6.8.2020 – 1 StR 198/20, AO-StB 2020, 374; v. 6.9.2011 – 1 StR 633/10).

Auch verfahrensrechtlich gehen die beiden Rechtsbereiche Sonderwege. So soll nach § 393 AO dem betroffenen Steuerpflichtigen etwa der Weg versperrt werden, mittels einer strafrechtlich durchaus zulässigen Verweigerungstaktik ihn belastenden Steuerschätzungen zu entkommen (vgl. zu den Wechselwirkungen im Bereich von Schätzungen BGH v. 22.8.2012 – 1 StR 317/12, wistra 2013, 65). Derartiges ist einleuchtend. Weniger n...

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